Haarloser Niemalslächler
Die Schulglocke ertönt. Es ist wie immer dieser hohe Gong, den man leicht mit dem Feueralarm verwechseln kann, und der bei Schülern am Ende des Tages ungefähr das gleiche auslöst wie das Alarmsignal zum Großbrand. Alle springen auf und rennen zum Ausgang als ginge es um ihr Überleben. Der wahre Überlebenskampf kommt allerdings erst dann, wenn man sich durch die enge Tür quetschen muss und dabei gezwungen ist allerlei Ellbogen auszuweichen. Wenn man einen guten Tag erwischt hat, verlässt man das Gebäude lediglich mit einem blutenden Kratzer am Arm und nicht so wie der kleine Sechtklässler mit einer Blut getränkten Nase. Nachdem man nun die frische Lut einatmet und sich gerade dem Gedanken zuwenden will, dass alles überstanden ist, droht der letzte Kampf des Tages: das Busfahren.
Schon an der Haltestelle übe ich mich im Spagat zwischen Straße und Bürgersteig und versuche dabei möglichst nicht von einem überdrehtem Unterstüfler auf die Straße gedrängt und dabei womöglich von einem heranpolternden Lastwagen erfasst zu werden. Gerade möchte ich meinem Gegenüber etwas mitteilen, da verliert sich meine Stimme in einem ohrenbetäubenden Geschrei. Ohne mich umzudrehen, weiß ich was passiert: der Bus rollt heran. Mit quietschenden Bremsen bleibt der Bus vor der tobenden Menge stehen.
Es gibt viele verschiedene Typen von Dränglern. Am meisten sind mir die verhasst, die entweder „ erst aussteigen lassen“ oder „ geht doch mal durch!“ brüllen. Dabei schubsen sie einen im gleichen Moment entweder so stark, dass man fast unter die Räder gerät oder sie blockieren mit ihren Taschen oder bulligen Statur selbst den Gang. Dabei unterhalten sie sich angeregt mit ihrem Begleiter und merken nicht mal dann, dass sie den Gang blockieren, wenn man ihnen „ aus Versehen“ mit voller Wucht die eigene Tasche in den Magen schlägt. Das Beste was einem in dem Gedränge passieren kann, ist, dass man einen Sitzplatz ergattert. Doch die sind heiß begehrt und werden nicht so leicht aufgegeben. Ganz gehässige Exemplare setzen sich außen hin, so dass der Fensterplatz unerreichbar für die verzweifelten und halb erstickten Schüler sind, die sich ohnehin schon wie bei einem Sandwich übereinander stapeln. Die Menschen, die meinen unbedingt zwei Plätze für sich haben zu müssen, haben entweder Spaß daran andere zu quälen oder sind selbst auf dem Weg zur nächsten Brücke um ihrem sinnlosen Leben ein Ende zu bereiten. Dabei können sie natürlich nicht auch noch auf die aneinander gepferschten Schüler achten.
Das Schlimmste was einem passieren kann, ist wenn die Menge einen direkt neben den Busfahrer drängt. Meistens ist es einer dieser frustierten, haarlosen Niemalslächler. Ich versuche mein Schicksal abzuwenden in dem ich mit aller Kraft einen kleineren Mitschüler an meinen Platz zerre, doch der gibt mir mit einem Fußtritt zu verstehen, dass ich mich heute mit dem Busfahrer abplagen müsse. Und schon geht’s los.
„ Die dummen Nichtsnutze. Keine Erziehung mehr heute“, poltert der Busfahrer los und funkelt mich wütend mit seinen rot umrandeten Augen an, als wäre ich für die Erziehung sämtlicher anderer Schüler zuständig. Schief lächelnd versuche ich ihn zu besänftigen, soch das scheint ihn noch aggressiver zu machen.
„ Grinse nicht so unverschämt, Fräulein!“, dabei blitzen seine Goldzähne auf und es hätte mich nicht gewundert wenn er gleich einen Baseballschläger aus der Taschen zieht und dabei auf mich losgeht. Während er mit vollem Tempo die Straßen hinuter braust, kralle ich mich an einer Stange fest. Manchmal habe ich den Eindruck diese Busfahrer würden am Liebsten mit Absicht einen Unfall begehen um auf einen Schlag alle lärmenden Schüler loszusein.
„ Lästige Bengel“, knurrt der Busfahrer und ich gebe ihm in Gedanken spontan den Namen Ernst. Scharf nimmt er die nächste Kurve und stellt dabei zufrieden lächelnd fest, wie ein paar Schüler brutal gegen die Fenster gedrückt werden. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er mich hämisch an. Ich denke noch, dass er mich wohl am liebsten persönlich durch die Heckscheibe werfen würde um seinen Aggressionen loszuwerden, da blafft er mich schon an:
„ Was glotzt du so?“ Aber will man wirklich Freundlichkeit von jemandem erwarten, der sein halbes Leben eingepferscht in einer kleinen Kabine zwischen Abgasen und Ampeln verbringt? An meiner Haltestelle braust der Busfahrer knapp an dem Bushäuschen vorbei ehe er mich herauslässt. Ich glaube fest daran, dass es kein Zufall ist, dass sich die Türen so schnell wieder schließen, dass ich darin fast ein Bein verloren hätte.