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Haarschnitt
Früher hatte sie ihm immer die Haare geschnitten. Es war ein Ritual zwischen dem alten Ehepaar. Das Vorspiel bestand darin, dass er damit begann sich über Tage hinweg immer öfter und kritischer im Spiegel zu betrachten. Dabei zog er sich immer wieder einzelne Haarbüschel aus seinem noch vorhandenen Haarkranz heraus, drückte sie wieder fest, zog sie erneut heraus, und murmelte dann etwas Unverständliches. Wenn er das tat (der Spiegel stand im Flur, so konnte sie dieses Schauspiel immer mitverfolgen), wußte sie schon längst Bescheid, noch bevor es ihm richtig klar war.
Ein bisschen Zeit verging bevor er dann eine Bemerkung fallen ließ, dass seine Haare mal wieder gewachsen wären. Es hörte sich immer so absichtslos dahingesagt an, aber sie wußte, worauf er hinauswollte. Sobald sie ihm jedoch anbot, seine Haare zu schneiden, lehnte er es prompt ab, und fand, dass sie so lang ja nun auch wieder nicht wären, und dass man nicht alle zwei Wochen Haare schneiden könne. Wo käme man da hin? Sie wiederum regte sich darüber auf, dass er ständig rumjammere wegen seinen langen Haaren, und er solle entweder aufhören rumzujammern, oder sie sich endlich schneiden lassen, entweder von ihr, oder vom Friseur! (Friseur kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Viel zu teuer! Und für was denn? Für die paar Strähnchen, die noch dran waren?).
Jedesmal nach einer derartigen Auseinandersetzung war einen Tag lang Ruhe. Dann, an dem Tag, der auf den Waffenstillstand folgte, kam er meist an, hatte ein Handtuch bereits dabei, und forderte sie auf, ihm die Haare zu schneiden, damit man dieses Thema nun endlich auf sich beruhen lassen könne. Sie verdrehte die Augen gen Himmel, nuschelte etwas vor sich hin, und schickte ihn ins Bad, er solle sich schon hinsetzen, sie würde gleich kommen. Er ging dann langsam ins Bad, holte sich einen Stuhl und brachte sich mit dem Handtuch über den Schulter in Position. Dann wartete er. Sie wusste das, und fand auch immer noch etwas zu tun, was sein Warten noch verlängern würde. Irgendwann wurde es ihm zu blöd, und er rief laut und verärgert ihren Namen. Sie rief genauso laut und verärgert zurück, dass sie gleich kommen würde. Nicht ohne noch irgendwas zu Recht zu zupfen, oder irgendetwas umzustellen, begab sie sich schließlich ebenfalls ins Badezimmer, holte die Schere, die nur für seine Haare verwendet werden durfte, und fing an, ihm die Haare zu schneiden. Das dauerte oft nicht länger als zwei Minuten, denn es gab ja in der Tat nicht viel zu kürzen.
Als sie fertig war, tat er immer ungläubig überrascht von der Geschwindigkeit ihrer Dienstleistung, stand auf, beäugte sich wiederum aufs Kritischste im Spiegel. Wendete den Kopf immer wieder hin- und her. Zumpfte hier und zumpfte da und fand jedesmal eine Stelle, die noch verbesserungswürdig war. Sie tat das ohnehin mit Absicht. Sie ließ immer eine unsaubere Stelle, nur um zu sehen, ob er sie finden würde. Und er fand sie jedesmal.
Nachdem die angemahnte Korrektur vollzogen war, und er sich abermals im Spiegel kontrollierte, da legte sie bereits die Schere weg, weil sie schon wußte, dass es gut war.
Seit er gestorben war, hatte sie natürlich auch dieses kleine Ritual vermißt. Und als sie, wie fast jeden Tag im ersten Jahr nach seinem Tod, zu seinem Grab ging, da bemerkte sie, dass um das Grab herum das Gras wieder etwas gewachsen war, und hier und da unsauber ins Grabbeet hineinragte. Sie griff also in ihre Handtasche und holte die Schere hervor, die sie aus dem Bad mitgebracht hatte.