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Hainweg Nr. 14
Hainweg Nr. 14
Es duftet nach Sommer, obwohl wir erst Ende April haben. In dieser verschlafenen Siedlung am Rande von Frankfurt scheinen alle Bewohner am ersten warmen Frühlingstag des Jahres den gleichen Gedanken zu haben: In den Garten gehen und den Rasen mähen. Ich ziehe die Nase kraus, krame nach einem Taschentuch in meiner Handtasche und versuche den Niesreiz zu unterdrücken.
Aber warum leise sein im Hainweg Nr. 14? Hier ist Niemand mehr, der mich hören könnte. Hier ist Niemandsland.
Rostroter Zaun, die Farbe ist noch frisch, der Geruch stechend. Was sage ich zu dem Anstrich als geschulte Krankenschwester? Diese Farbe ist schadstoffhaltig und krebserregend! Ich öffne das knarrende Hoftor und befinde mich inmitten eines malerischen Frühlingsgartens. Saftiggrüner Rasen, im Hintergrund Beete mit Tulpen und Narzissen und zwei wuchtige Forsythiensträucher, die mit ihren gelben Blüten die Sicht auf das kleine Einfamilienhäuschen nehmen. Die Fensterläden sind auch rostfarben und hängen etwas schief. Ich wühle in meiner Jackentasche nach dem Haustürschlüssel, den ich Frederik in einem unbeachteten Moment entwendet habe. Ein zerknäultes Papiertaschentuch und Bonbonpapiere flattern auf den frischgeharkten Fußweg. Tabea, noch vor wenigen Tagen standest du hier, mit deinem für dich so typischen prüfenden Blick, nach Schmutz und heruntergefallenen Blättern Ausschau haltend.
Mir stockt der Atem, der Schlüssel will sich nicht drehen. Haben deine Angehörigen oder Frederik vielleicht das Schloss ausgetauscht? Ich ziehe die Tür ein wenig bei, probiere noch mal, und diesmal spüre ich dass er sich mit etwas Widerstand bewegen lässt. Ein Gemisch aus abgestandener Luft und der süßliche Duft deines Parfüms hüllen mich ein. Mir wird schwindlig und ich muss mich an der Garderobe abstützen. Ich schaue in den Spiegel. Ich weiß, ich bin hässlich. Meine Figur ist, wenn man sie schmeichelhaft umschreibt, "etwas kräftiger". Die bessere Beschreibung dafür wäre plump und unförmig. Meine Haare sind von Natur aus rotblond und naturgelockt. Ich muss immer Gel hineinkneten, sonst sieht meine Frisur wie eine schlecht gelegte Dauerwelle aus. Mein Teint und auch meine Wimpern sind farblos, jedoch kann ich letztere mit viel Geschick und schwarzer Volumenmaskara lang und üppig wirken lassen. Auch meinen kleinen Puppenmund kann ich dank Lipgloss und Konturenstift besser hervorheben. So aufgestylt hatte ich bei unserer Weihnachtsfeier das Herz von Frederik erobert. Ich hatte mich von Anfang an zu diesem attraktiven Rettungssanitäter, der in unserem Krankenhaus sein Klinikpraktikum absolvierte, hingezogen gefühlt. Aber du Tabea hattest wesentlich besser zu Frederik gepasst als ich. Ihr seid ein schönes Paar gewesen: Beide groß und schlank. Frederik mit seinem blonden Lockenkopf und du mit deiner schwarzen, schulterlangen Mähne. Jedoch eine wirkliche Schönheit warst du trotzdem nicht. Dein Kinn war klein und leicht fliehend, die Nase zu lang. Deine großen, haselnussbraunen Augen hatten so einen fragenden Blick. Aber gerade diese Unregelmäßigkeiten deines Gesichtes, die deine Persönlichkeit und Unverwechselbarkeit ausmachten, liebte Frederik.
Ich sah dich zum ersten Mal auf den Hochzeitfotos, die im Schaufenster eines kleinen Studios, nahe der Galluswarte, aushingen. Meine beste Freundin Kathrin machte mich darauf aufmerksam. Obwohl es mit Frederik und mir schon lange aus und vorbei war, waren diese Bilder wie ein Schlag in die Magengrube. Soweit hätte es nicht kommen müssen! Frederik liebte mich, aber er konnte nicht von dir lassen.
Ich betrete die Küche. Ein leichter Geruch nach Vanille liegt in der Luft. Auf dem Tisch steht noch ein angeschnittener Napfkuchen, der inzwischen vertrocknet sein dürfte. Mich gelüstet es aber mehr nach einem alkoholischen Getränk. Ich öffne den Kühlschrank, der gefüllt ist mit unzähligen Halbfettprodukten und viel frischem Obst und Gemüse. Nur eine Miniflasche Eierlikör steht darin. Klar, du hast als Diabetikerin gesund gelebt und Alkohol höchstens zum Kochen und Verfeinern von Desserts genommen. Ich nehme eine von diesen Capuccinotassen vom Tisch und fülle sie randvoll. "Prost Frederik!" Ich warte immer noch auf seinen Antwort-Sims, aber mein Handy schweigt. Ich muss mich wohl noch eine Weile gedulden, denn er befindet sich zurzeit bei deinen Eltern in der Schweiz, im schönen Kanton Wallis, und da dauert bekannterweise Alles etwas länger. Der süße Likör bringt ein angenehm warmes Gefühl hinter mein Brustbein.
Ob Frederik sich in deiner Wohnung wohlgefühlt hat, bei diesem ganzen Tand, der da herumsteht? Mein Blick bleibt bei den drei Porzellangänsen hängen, die aufgeplustert mit verdrehten Hälsen auf der Anrichte hocken.
Die erste Zeit mit Frederik und mir war zu schön um wahr zu sein. Ich war verliebt und hatte das Gefühl, ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben - Schmetterlinge im Bauch und Glücksgefühl pur. Ich weiß nicht mehr wann es begann, dass Frederik sich so kalt und verschlossen gegenüber mir benahm. Aber es lag seiner Meinung nach nicht an mir, sondern an dem Stress, der mit seiner Rettungssanitäterprüfung zusammenhing. Er benötigte eine gewisse Anzahl von Praktikumstunden und Notfalleinsätze, um für die Prüfung zugelassen zu werden. Dann musste er noch viel Lernen, denn er hatte den Ehrgeiz mit guten Noten abzuschneiden. Das war für mich plausibel und ich verschloss davor die Augen, dass es noch an etwas Anderem liegen konnte. Ja, da gab es noch etwas. Der Grund dafür warst du, Tabea! Er hatte dich bei einem Notfalleinsatz kennengelernt; du hattest eine ziemlich heftige Unterzuckerung. Das liebe ich so, Diabetiker, die schon seit Kindheitstagen an dieser Krankheit leiden und immer noch nicht richtig ihre Blutzuckerwerte im Griff haben! Ich kenne mich damit aus, schließlich arbeite ich auf der Diabetikerstation unseres Krankenhauses.
Bis Frederik damit herausrückte, dass es noch eine andere Frau gab, verging eine lange Zeit. Ich bekam Vorwürfe, wie zum Beispiel: "du klammerst mir zu sehr", zu hören. Als ich schließlich die ganze Wahrheit erfuhr, hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es tat sich auf einmal ein riesiges Loch auf, und bums fiel ich hinein. Ich arbeitete auf unserer Station wie ein Zombie, völlig gleichgültig und emotionslos. Abends weinte ich mich bei einem Glas Lambrusco in den Schlaf.
Eines Tages kam Frederik zu mir zurück. Hatte er die Beziehung zu dir beendet? Ich konnte mein Glück zuerst gar nicht fassen. Aber wieder einmal hatte ich vor der Realität die Augen geschlossen. Ihr hattet nur eine kurze Beziehungspause, die dann mit eurer Hochzeit endete - wie in einem Kitschroman!
Ich betrete dein Wohnzimmer. Ein großes Poster mit dem Matterhorn bedeckt die Wand. Ja, ja ich sehe, hier hat mal eine Schweizerin gelebt. Ein umgekippter Stuhl und ein zerbrochenes Weinglas stören das Bild eines aufgeräumten und biederen Salons. War wohl kein Zuckerschlecken, so eine Stoffwechselentgleisung? Aber es war deine Schuld. Du hast nicht nur mir wehgetan, nein du hast auch Frederik leiden lassen. Du liebtest ihn, konntest aber auch nicht die Finger von dem Bastian aus deiner Flötengruppe lassen. Ich hatte euch Beide in einem Café am Opernplatz gesehen und da warst du schon Frederiks Frau. Bastian stieß in seinen Fruchteisbecher und schob dir einen Löffel mit köstlichem Eis, gekrönt mit einer Kirsche, in den Mund. Wie ein Vogelküken hast du den Mund geöffnet und um mehr Eis gebettelt. Bei dem Anblick wurde mir schlecht. Dann sah ich rot, ich musste handeln und Frederik vor dir schützen.
Ach, wie warst du arglos, als du in meine Station kamst! Du hattest ein Rundschreiben von mir erhalten, das Diabetes I - Patienten zu einem Vorsorgegespräch zwecks besserer Blutzuckereinstellung in die Klinik einlud.
Die Spritze, die ich dir aufgezogen und mitgegeben habe, hat gut gewirkt.
Ich balanciere an den Glasscherben vorbei. Da summt und vibriert mein Handy. Ich lese schnell und mit klopfendem Herzen die Botschaft: "Es tut mir leid, aber ich möchte mit dir keinen Kontakt mehr haben. Meine einzige Liebe ist und war Tabea. Frederik."
Das Licht versackt im Display. Ich stehe da und starre auf das dunkle Quadrat. Mein Kopf fühlt sich an, wie mit Watte gefüllt, meine Ohren rauschen. Ich verspüre ein kribbelndes Gefühl in meinen Fingern, die ich nun hektisch an meinen Jeans reibe, damit es aufhört. Erneut betrete ich deine Küche, stehe letztendlich unschlüssig im Raum herum. Die aufgestaute Frühlingswärme wird mir zu viel und ich öffne ein Fenster. Ein Schwall lauwarme, nach Blumen und Gras duftende Luft kommt herein und ich lausche dem Vogelgezwitscher. Aus der Ferne höre ich aber noch ein anderes Geräusch und das ruft eine Erinnerung aus meiner glücklichen Zeit mit Frederik in mir wach: Er wollte mich mit seiner neuen "Nobelkarosse" zur Arbeit abholen und fuhr dann mit dem Notarztwagen vor. Damals fand ich das witzig.
Das Heulen des Martinshorns kommt näher, schwillt an und wird nervend laut. Ein bläuliches Licht flackert durch den Raum.
Ich habe es gewusst Tabea, irgendwann wird Frederik bei dir auftauchen. Er wird ohne dich nie mehr glücklich sein, aber ich kann dem abhelfen. Ihr werdet wieder zusammen sein. Ich entnehme deinem Besteckkasten ein langes Steakmesser.
Ich öffne mit Schwung die Haustür und sehe in das strenge Gesicht eines jungen Mannes in Uniform. Ich erstarre, das ist nicht Frederik!
Ein zweiter Mann in einem T-Shirt mit der Aufschrift "Polizei" kommt hinzu und sagt mit einem bedrohlich Unterton in der Stimme: "Lassen Sie die Waffe fallen, Hände über dem Kopf!"
Ehe ich weiß, wie mir geschieht, packt der zweite Polizist meinen Arm und das Messer fällt klirrend zu Boden. Handschellen klicken. Ich werde zu dem blau-weißen Auto geführt, dessen Signalanlage nun tonlos ihre bläuliche Schatten über dein Haus gleiten lässt.
"Ich nehme mal an, sie ist verwirrt oder steht unter Schock", höre ich den Fahrer des Wagens leise zu seinen beiden Mitfahrern sagen, "wir werden sie am besten erst mal ins Präsidium bringen."
Ich werde lange Zeit in einer Umgebung sein, in der ich mich verlassen und verloren fühle.
Aber wenn es mir gelingt freizukommen, werde ich als erstes dich besuchen, Frederik!