Hallo
„Hallo?“
Ein zaghaftes Tasten, als würde dir jemand direkt leise ins Ohr flüstern. Dann wieder:
„Hallo?“
Er schaute sich panikartig um. Eine Wand voller Bücher, der PC –eingeschaltet-, das Bett, ein Schrank und der Stuhl auf dem er saß. Niemand war im Zimmer. Jetzt war es also so weit. Jetzt drehte er vollends ab. Die wochenlangen Geräusche, stimmenartig, hatten sich konkretisiert. Was hatte der Arzt gesagt? Leichte Form der Schizophrenie? Wurde es jetzt die schwere Form?
Ausgelacht hatte er ihn. Zuerst hatte er Verfolgungswahn vermutet, dann leichte Schizophrenie. Bestimmt nur sowas wie Ohrensausen. Blödsinnige Diagnose. Mit 22 Jahren gab es so etwas nicht, nicht bei ihm. Er war völlig bei klarem Verstand, hatte dem Arzt empfohlen, sich selbst auf die Couch zu legen. Dr. Hirnbeisser! Nomen est Omen.
Und jetzt? Das Hallo war deutlich zu hören. Allerdings, so schätzte er, wie immer, nur von ihm. Sollte er antworten? Mit sich selbst reden? Die Panik wich einer gewissen Heiterkeit.
„Nicht schlecht, habe immer einen Gesprächspartner, mein Über-Ich“, dachte er. Ein Lächeln glitt über seine Züge.
„Ja?“ Er sagte es mit lauter Stimme.
„Wer bist du? Wo?“, bekam er sofort Antwort.
„Ich bin ich. Wir teilen uns den gleichen Kopf, und ich war schon länger da.“ Sein Humor begann wieder aktiv zu werden. Man muss den Dingen immer eine gute Seite abgewinnen können, hatte sein Vater ihm beigebracht. Warum nicht. Wenn es nicht schlimmer wurde, bräuchte er es ja niemandem erzählen. Der Arzt würde wahrscheinlich verklärte Augen bekommen, ein Schizo, eine gespaltene Persönlichkeit, die mit sich selbst reden konnte. Nicht wie allgemein, wo immer nur eine Person im Vordergrund war und die andere nichts vom Geschehen mitbekam. Eine medizinische Sensation, Ziel weltweit veranstalteter Medizinerkongresse. - Ohne ihn!
„Verstehe nicht. Kann deine Begriffe nicht umsetzen. Langsam, bitte.“ Schwer von capé ist mein Über-Ich auch noch. Na gut, also langsam.
„Mein Name ist Mirco. Bin 22 Jahre alt, wohne in Wiesbaden, hier ist meine Wohnung. – Verstanden?“
„Wo ist Wiesbaden?“ Ohjeh, ohjeh.
„In der Nähe von Frankfurt, Hessen, Deutschland.“ Von meiner Allgemeinbildung hat er nichts mitbekommen. Dauernd nur faul in meinem Hinterkopf rumgegammelt, während ich den Stress mit Schule und Studium hatte.
„Das sagt mir alles Nichts. Ich bin in Bronia. Kennst du das?“
„Jaja, 17te Gehirnwindung, gleich links, dann zwei mal rechts. Stimmt’s?“
„?“ verständnisloses Schweigen.
„Naja, ehrlich gesagt, dein Bronia habe ich noch nie gehört. Wo genau soll das sein?“ Vielleicht konnte er dem Medikus einen wertvollen Tipp geben, wo er anzusetzen hatte. Wenn er ihm denn überhaupt was sagen würde.
„Bronia ist Bronia. Kenne niemanden, der es nicht kennt. Was machst du?“
Interview mit Mirco. Moderator Mirco, Gesprächspartner Mirco und anders rum. Köstlich, Überkandidelte unter sich. Euphorie des Wahnsinns.
„Ich studiere Jura. 5.Semester. Also noch mal fünf Semester, dann gehe ich, oder besser wir (?), als Anwalt in eine Kanzlei. Oder als Hirni in die Klappse. Und du?“ Jetzt musste es kommen. Beobachter oder sowas, Steuermann des Unterbewussten, letzte Instanz vor der psychischen Katastrophe.
„Was ist Jura?“
Das darf doch nicht wahr sein. Jura muss es auch in / bei Bronia geben. Hat wohl keinen Zugang zu meiner Software. Vielleicht muss ich ihm mein Passwort verraten?
„Kannst du nicht auf mein Wissen zugreifen?“
„Das darf man doch nicht! Du könntest das bei der Instanz melden.“ Die Stimme klang entrüstet. Wobei Stimme nicht so ganz richtig war. Er hörte ja nichts, nicht mit den Ohren. Nur im Kopf. Sagt man dann auch Stimme? Die innere Stimme ist ja die eigene, dann also: innere Fremdstimme? Philosophieren bringt’s jetzt auch nicht. Mein Gesprächspartner –wie auch immer er heißen mag- wartet.
„Wie soll ich dich nennen?“
„Oh, verzeih, habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sinh. Bin 20 Jahre alt und arbeite als Softwarespezialistin.“
„20 Jahre und schon fertig studiert? Und woher hast du deine Kenntnisse?“ Bestimmt nicht aus meinem Hirn. Mirco grinste bei der Vorstellung, wie einige Gehirnzellen, mit einer Schultasche in der Hand, quer durch sein Gehirn liefen. Aber Moment, Softwarespezialistin? ...in? Frau, Mädchen? Die weibliche Seite in jedem Mann? 20 Jahre, das bedeutet, dass sie erst wach (?) geworden war, als er schon 2 Jahre alt war. Dann vor sich hin gedümpelt und aus seinem Unterbewusstsein irgendwelche PC-Kenntnisse beschlagnahmte. Ob sie ihn dauernd beobachten konnte? Immer? Bei allen Situationen?
Die Vorstellung war ihm gar nicht recht. Immer eine Frau dabei, in allen intimen Momenten. Da würde sogar ein Exhibitionist die Krise kriegen. Wäre wahrscheinlich schlagartig geheilt und ab sofort krampfhaft darum bemüht seinen Schniedel zu verstecken. Das ist echt ein Dilemma, dachte Mirco. Wenn ich aufs Klo geh, mich wasche oder mit einer Frau...
„Oh, ich war mit sechs Jahren fertig mit dem Schulungsprozess. Gelernt habe ich wie alle im Center.“
„Was heißt: wie alle?“ Von wegen Schizo, ich bin eine gespaltene Persönlichkeit. Nur, wie oft gespalten? „Wie viel seid ihr denn?“
„Du meinst auf diesem Planeten? 65 Millionen ungefähr.“
„.......“ Mirco war sprachlos. Irgendetwas stimmte da nicht, es begann ihm zu dämmern.
„Mal langsam, du bist nicht in meinem Kopf?“
„?“
„Ich dachte ich bin eine gespaltene Persönlichkeit...... rede mit mir selbst. Stimmt das nicht?“
„Ich bin ein eigenständiges Wesen, mit Kopf, Armen, Beinen, Schwanz. Ganz normal also. Man sagt sogar, ich hätte einen schönen Körper. Hier, du kannst mich gerne anschauen.“ Mirco hatte das Gefühl, etwas zu sehen, es waren jedoch nur Umrisse, nur eine Ahnung. Als ob man sich eine Person, die man kannte, nicht mehr vorstellen kann.
„Funktioniert nicht. Sehe dich nicht richtig. Heißt das, wir haben telepathischen Kontakt?“ Das wäre ja eine völlig neue Variante. Nix gespalten, kein Schizo. Im Gegenteil, was ganz Besonderes, Neuartiges.
Jetzt überschlugen sich Mirco´s Vorstellungen in eine gänzlich andere Richtung. Für einen Moment konnte er nicht mehr klar denken. Er konnte Gedanken lesen. Er hatte telepathischen Kontakt zu einer Frau!
„Was denn sonst?“
„Naja, weiß auch nicht. Reden tun wir jedenfalls nicht miteinander.“
„Das ist doch das selbe. Wie sollen wir uns denn sonst unterhalten?“
„Mündlich natürlich.“ Für einen Augenblick schien der Kontakt unterbrochen zu sein. Die Anwesenheit von Sinh, die er eben noch deutlich gespürt hatte, war weg. Dann bemerkte er erneut das Hintergrundrauschen der letzten Wochen und vernahm die Antwort von Sinh.
„Du bist kein Bronianer.“ Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage. „Wo ist dein Planet?“
„Mein Planet? Soll das heißen, du bist nicht auf der Erde?“
„Natürlich nicht. Wo auch immer die Erde sein mag. Da bin ich nicht. Unser Planet liegt ziemlich nah am Zentrum der Galaxis. Unsere Hauptsonne heißt Phaeros. Und du? Ihr? Euer Planet, eure Sonne?“
„Ich kenn’ mich da nicht so aus, ein Nebenarm der Galaxis ist es jedenfalls.“ Mirco begann logisch zu überlegen. Er sollte zuerst klären wie sie aussah, ob sie ein Mensch war oder was stattdessen. Der Umriss, den er „empfangen“ hatte, ließ humanoide Formen erahnen.
„Sinh, ich bin ein Mensch, ich schau mal in den Spiegel und konzentriere mich. Erkennst du mich?“
Er spürte ein Gefühl der Verblüffung bei Sinh. Mirco überlegte, ob er für eine Außerirdische gut aussehen mochte.
„Ihr seid keine Bronianer, nie gewesen. Sehe dich klar und deutlich vor mir.“
„Und? Zufrieden? Bin ich ein hübscher Kerl?“ Dann fragte er weiter. „Warum kann ich dich nicht sehen? Beziehungsweise nur verschwommen.“
„Keine Ahnung. Deine Schulung scheint sehr unvollkommen zu sein.“
„Schulung in Telepathie? Hab keine. Das gibt’s bei uns nicht. Ich bin der erste Mensch auf der Erde, denke ich, der telepathischen Kontakt mit jemandem hat. Wir unterhalten uns üblicherweise mittels Schallwellen.“
„Schallwellen? Wie soll das denn gehen? Was macht ihr, wenn der Gesprächspartner weiter weg ist? Könnt ihr euch nur unterhalten, wenn ihr direkt beieinander steht? Das ist ja furchtbar. Wir kennen so etwas nicht, wir haben keine Möglichkeiten Schallwellen aufzunehmen. Aber du kannst es doch?“
„Ich bin wohl eine Ausnahme Wieso weiß ich auch nicht. Bin wohl eine Fehlentwicklung, ein Kurzschluss der Natur.“ Mirco war aufgeregt. Kontakt zu einem Alien, Lichtjahre weit entfernt. „Wie geht das mit der Telepathie? Wieso sehe ich dein Bild nicht, oder besser gesagt nur verschwommen?“
„Oh, das ist Übungssache. Ich denke, du beherrschst das im Moment wie ein fünfjähriger. Wir können üben, ich bringe dir das bei. Habe schon meine Eltern informiert und meinen Schulungsleiter aus dem Center. Die wollen es noch gar nicht richtig glauben und sind sehr gespannt, mehr von dir zu erfahren. Mit einer fremden Rasse hatten wir auch noch nie Kontakt. Mit unseren Raumschiffen können wir nur sehr ungezielt reisen, sind vom Verlauf der Raumverwerfungen abhängig. Mehr als 200 Lichtjahre haben wir noch nicht geschafft. Und ihr?“
Mirco schwindelte. 200 Lichtjahre, Raumverwerfungen, interstellare Raumfahrt. Und die Menschen waren schon bis zum Mars und zur Venus geflogen und hielten einen Telepathen für eine gespaltene Persönlichkeit. Wenn er das erzählen würde, bekäme sein Arzt wieder ein paar Falten in die Stirn, würde ihm eine große, weiße Jacke schenken, mit ganz langen Ärmeln und mit ihm in ein schönes, großes vergittertes Haus gehen. Bei Sinh wunderte sich niemand, telepathischer Kontakt war normal, soziale Komponente, Basis des Miteinander. Mirco´s Gedanken wurden vom Läuten an der Tür unterbrochen. Er stand langsam auf und bemühte sich Sinh schnell zu antworten.
„Wir schaffen gerade einmal die Entfernungen in unserem Sonnensystem. Zahlen Milliarden für ein Stück Stein vom Mars, weitere Milliarden, um hinter die Wolken der Venus zu schauen. Und wenn ich erzähle, dass ich Kontakt zu dir habe, einem Alien, komme ich in die Klappse, das ist dann aber nicht so teuer.“ Er hatte sich währenddessen ein Hemd übergestreift.
„Du benutzt so viele Ausdrücke, die ich nicht kenne. Wo kommst du hin, in die Klappse? Hast du schon zweimal gesagt.“
„Da es bei uns keinen telepathischen Kontakt gibt, wird mir keiner glauben, was ich sage. Man wird mich als nicht zurechnungsfähig ansehen, als verrückt, krank, und mich in eine Heilanstalt stecken. Ich werde es also erst einmal für mich behalten, keinem etwas erzählen. Deswegen muss ich jetzt auch kurz Schluss machen, bekomme Besuch. Können wir uns später weiter unterhalten?“
„Natürlich. Melde dich. Du musst nur intensiv an mich denken. Sala.“ Eine Form von Tschüs, dachte Mirco.
„Sala.“ Er öffnete die Tür. Draußen stand ein Freund.
„Hallo“, hörte er, übermittelt durch Schallwellen.
[Beitrag editiert von: querkopp am 05.04.2002 um 23:06]