Haltlos
Haltlos
Ich habe die Halbwertzeit berechnet. Aus dem Treffen in Ahrenshoop wird nichts werden können. Der Verfall wird bis dahin abgeschlossen sein. Ich hatte es ja immer befürchtet, dass es eines Tages einträfe. Nun hat es mich erwischt, und auch die anderen um mich herum. Selbst die alte Pilokat von nebenan, an der habe ich es auch beobachtet. Ihre Körperoberfläche, die gesamte Peripherie erscheint verschwommen. Sie löst sich auf samt Kleidung; bei mir ist es der linke Fuß, nur noch ein flimmerndes Scheingewebe. Meine Brille habe ich überprüft, an ihr liegt es nicht. Die alten Denker stellten sich schon damals die Frage, was die Welt wohl im Innersten zusammenhält. Es gab nie eine befriedigende Antwort.
Ich blicke mit Entsetzen aus dem Fenster, die Substanz der Bäume in der Konrad-Adenauer-Allee ist schon größtenteils verschwunden. Die Kraft, oder ist es keine Kraft, die den Dingen ihre Formen erhalten hatte, scheint plötzlich aus irgendeinem Grunde zu versagen. Die Zellverbände der Lebewesen fallen einfach auseinander und fliegen verstreut im Sonnenwind. Nur Elfriede Pilokat, meine resolute Nachbarin betrachte ich in ihrem Garten, wie sie vor Freude wie ein junger Derwisch tanzt, ihre Blicke magisch in einen Handspiegel gerichtet, weil sich ihr hässlicher Buckel, an dem sie wie an einem Zentnersack Kartoffeln all die Jahre schwer getragen hatte, nun auflöst und einfach so verschwindet. Doch jetzt fallen ihr die Augen raus. Und meine Beine haben gänzlich ihre Form verloren, liegen vor mir am Boden wie Zuckersand, den keine Backform halten will.
Am Termin in Ahrenshoop, oder nach meinen Berechnungen genau am 28. August 07 gibt es diese Welt nicht mehr. Aber Nostradamus hatte sich bereits geirrt; warum sollte ich mich da nicht verrechnet haben und die Welt macht was sie will...
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