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Haltlos

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10.05.2007
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Haltlos

Haltlos

Ich habe die Halbwertzeit berechnet. Aus dem Treffen in Ahrenshoop wird nichts werden können. Der Verfall wird bis dahin abgeschlossen sein. Ich hatte es ja immer befürchtet, dass es eines Tages einträfe. Nun hat es mich erwischt, und auch die anderen um mich herum. Selbst die alte Pilokat von nebenan, an der habe ich es auch beobachtet. Ihre Körperoberfläche, die gesamte Peripherie erscheint verschwommen. Sie löst sich auf samt Kleidung; bei mir ist es der linke Fuß, nur noch ein flimmerndes Scheingewebe. Meine Brille habe ich überprüft, an ihr liegt es nicht. Die alten Denker stellten sich schon damals die Frage, was die Welt wohl im Innersten zusammenhält. Es gab nie eine befriedigende Antwort.

Ich blicke mit Entsetzen aus dem Fenster, die Substanz der Bäume in der Konrad-Adenauer-Allee ist schon größtenteils verschwunden. Die Kraft, oder ist es keine Kraft, die den Dingen ihre Formen erhalten hatte, scheint plötzlich aus irgendeinem Grunde zu versagen. Die Zellverbände der Lebewesen fallen einfach auseinander und fliegen verstreut im Sonnenwind. Nur Elfriede Pilokat, meine resolute Nachbarin betrachte ich in ihrem Garten, wie sie vor Freude wie ein junger Derwisch tanzt, ihre Blicke magisch in einen Handspiegel gerichtet, weil sich ihr hässlicher Buckel, an dem sie wie an einem Zentnersack Kartoffeln all die Jahre schwer getragen hatte, nun auflöst und einfach so verschwindet. Doch jetzt fallen ihr die Augen raus. Und meine Beine haben gänzlich ihre Form verloren, liegen vor mir am Boden wie Zuckersand, den keine Backform halten will.

Am Termin in Ahrenshoop, oder nach meinen Berechnungen genau am 28. August 07 gibt es diese Welt nicht mehr. Aber Nostradamus hatte sich bereits geirrt; warum sollte ich mich da nicht verrechnet haben und die Welt macht was sie will...

*

 

Ja, würde man dein Beispiel mit den Bädern einfügen, es wäre farblos. Um bei Vergleichen zu bleiben, nun in Bezug auf den Text. Man sollte ein Musikinstrument auch nach seinem Klang bewerten. Dir fehlt aber das Gehör dazu.

Gruß B.

 

Hallo Betula,

ich lese den Text als Wortspielerei, und mit diesem Auge gefällt er mir.
Einen philosohpischen Text hast du wohl kaum gemeint, sonst hättest du ihn in Seltsam gut versteckt vor den kritischen Augen der Philosophen hier, also nehme ich ihn wörtlich, auch solche Beobachtungen wie

Doch jetzt fallen ihr die Augen raus.

Einzig das Bild mit dem Zuckersand, zu dem die Beine transformieren und der in keine Form mehr passt :
wenn es das Backebackekuchen-Spiel vom Sandkasten sein soll, dann ist es eben keine Backform (zumindest hiessen die in meiner Kindheit nicht so), sondern ein Förmchen (so hiessen die in meiner Kindheit), weil Zuckersand eben eine Größe des Sandkastens und nicht des Zuckerbäckers ist.

Sprachlich finde ich den Ton angenehm, die Bilder gefallen mir, und die Ambivalenz der Auflösung (zumindest die zeitweise, bis ihr die Augen rausfallen...) flirtet schon - bei meiner Lesweise - ein wenig mit Humor, was mir in der dezenten Weise gefällt.

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo Betula,

ich kann mich da Seltsem anschließen, mir gefällt dein Text. Einziger Missklang, wenn sich alles auflöst, sollten die Beine und die Augen nicht abfallen sondern sich ebenso auflösen. Es ist eine Endzeitlösung was mich beruhigt, dass es schmerzfrei zu sein scheint.
Da kann man nur hoffen!:D

lieben Gruß Weltflucht

 

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