- Beitritt
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Hamed Abdel-Samad
Ein Abschied vom Himmel
„Wenn jemand über sein eigenes Leben schreibt, ist er der Versuchung ausgesetzt, sich ein bisschen schöner zu malen, als er in Wirklichkeit ist. Und natürlich erliegt er dieser Versuchung auch dann und wann“, vermerkt Helmut Schmidt zu Autobiografien, weshalb er auch keine „zusammenhängende Selbstdarstellung“ verfasst, seit über 70 Jahren auch keine mehr gelesen habe.
Trotz seines langen Lebens scheint Schmidt weder den Grünen Heinrich, geschweige denn den Abschied vom Himmel zu kennen, in denen nichts an Schönfärberei zu finden ist. Beide Autobiografien, die als Roman bezeichnet werden, sind geschrieben von jüngeren Brüdern des Parzival, welche sich auf der Suche nach dem Gral oder Gott, vor allem aber zu sich selbst begeben.
„Allerlei erlebte Noth und die Sorge, welche ich der Mutter bereitete, ohne daß ein gutes Ziel in Aussicht stand, beschäftigten meine Gedanken und mein Gewissen, bis sich die Grübelei in den Vorsatz verwandelte, einen traurigen kleinen Roman zu schreiben …“ war ein Vorsatz des 23-jährigen Gottfried Keller, der neun Jahre später in der Erkenntnis gipfelt„„… bin ich einmal aus dem Dreck heraus, so werde ich mich freuen, eine gute Zeit an Wind und Wetter gestanden zu haben. Denn meine Maxime ist geworden: Wer keine bitteren Erfahrungen und kein Leid kennt, der hat keine Malice, und wer keine Malice hat, bekommt nicht den Teufel in den Leib, und wer diesen nicht hat, der kann nichts Kernhaftes arbeiten“, was gleichermaßen auf unseren jungen, vorzustellenden Zeitgenossen zutrifft, bis hin zum Titel der Werk-Biografie Kellers, die sich – eher zufällig - im Nachtrag des Abschieds vom Himmel spiegelt, wenn sein Autor lapidar gesteht, zu „erzählen, um zu leben und um zu verstehen“(S. 295).
Für beide gilt Schreiben als Selbsttherapie. Dabei bezeichnet sich der junge Autor, von dem hier berichtet werden soll, als „einen Sohn der Kreuzritter“(S. 100), genau wie Feirefiz, wie Wolfram den älteren Halbbruder Parzivals nennt und dessen innere Zerrissenheit durch die Hautfarbe nach außen gekehrt wird: er ist gescheckt, weder schwarz, noch weiß und doch beides zugleich!
Unser zeitgenössischer Feirefiz wurde 1972 in Ägypten geboren, studierte neben Englisch, Französisch und Japanisch Politologie, arbeitete für die UNESCO und hernach am Lehrstuhl für Islamwissenschaft zu Erfurt und zugleich am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig und heute am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Der Roman – wie die Lebensbeschreibung zunächst nach Willen der Verleger genannt wird – wird zuerst in Ägypten veröffentlicht und löst dort eine Debatte aus. Denn was geschieht mittels Rückblende in diesem Buch – außer, dass der Autor Einblicke in die schizoide Welt dreier Systeme gewährt, in denen er gelebt hat: seinem Herkunftsland, Japan – wo er die Liebe seines Lebens findet – und Deutschland, wo er heute lebt und arbeitet, seine Wahlheimat, soweit eine solche Bezeichnung überhaupt auf einen Getriebenen zutreffen kann.
Er ist „ein Kind von Gewalt und Liebe. Meine Geschichte beginnt ein paar Monate vor meiner Geburt. Meine Mutter hatte zum zweiten Mal ein achtzehn Monate altes Kind zu Grabe getragen und war in eine Tiefe Trauer verfallen. Von den drei Kindern, die sie zur Welt gebracht hatte, überlebte bislang nur eine Tochter. Aber das war für sie kein Trost. Die Frau wird von der Familie des Ehemannes immer unter Druck gesetzt, bis sie einen Sohn gebärt, der die Linie der Familie fortführen kann.“ (S. 67) Zum Ende des Buches wird er herausschreien „Mein Name ist Hamed Abdel-Samad. Übersetzt bedeutet mein Name: Der dankbare Sklave Gottes! Mein Glaube ist, wie mein Name und mein Leben, ein Paradoxon“ um beides mit dem Muslim zu vergleichen, „der Schweinefleisch isst, aber Wert darauf legt, dass das Schwein nach islamischen Vorschriften geschlachtet wurde.“ (S. 286)
1972 erhält das Neugeborene in einem Dorf am Nil den Namen seines verstorbenen Bruders Hamed, was »dankbar« bedeutet, und wir blicken von nun an in menschliche Abgründe, prägen doch Religiosität und Gewalt die Kindheit, von der Hamed sich vermeintlich mit sieben Jahren und der Beschneidung verabschiedet – die gleichzeitig mit jener der älteren Schwester erfolgt (S. 79 ff.).
Selbst über Missbrauch erfahren wir, wenn er als Vierjähriger von einem elf Jahre Älteren und mit elf Jahren von einer Gruppe Jugendlicher auf einem Friedhof vergewaltigt wird. Hamed spricht mit einer Offenheit bis hin zur Selbsterniedrigung - was manchem christlichen Pädagogen mit pädophilen Neigungen gut anstünde, der Menschenliebe im Munde führt und doch das Gebot der Nächstenliebe buchstäblich nimmt und bloßen und animalischen Trieben folgt. Gleichwohl: wir entdecken bald mit Hamed dessen eigene Sexualität und begleiten ihn selbst beim ersten Mal – ohne, dass er auch nur einmal ins Pornografische abgleitet. Es ist ein „Leben zwischen Moschee und Libido“ (S. 143), denn der Vater ist der Imam seines Geburtsortes und der hofft, dass sein Sohn ihm eines Tages nachfolge. Der kleine Hamed lernt auch fleißig den Koran auswendig. Dennoch bleibt der fremd, wie Hamed selbst fremd im eigenen Land wirkt, was an Vater und Onkel liegen mag, die beide sich im Sechstagekrieg nicht mit Ruhm bekleckerten. „Mein Onkel war ein großer Befürworter der Israelis, obwohl auch er die Erniedrigung der Niederlage als Soldat im gleichen Krieg [wie der Vater] erlebt hatte. Er hörte nur Radio Israel, weil aus seiner Sicht der Sieger keinen Grund hat zu lügen. Mein Onkel sagte: »Ein winziges Volk, das zweimal fünf arabische Armeen besiegt hat, muss das Volk Gottes sein.«“ (S. 131) Wir erleben die Zeit Hameds in der Armee - „Über Gott kann man in Ägypten vielleicht diskutieren, aber nicht über die Armee“, wird es später heißen (S. 296) - und wie er unter Radikale gerät.
[Anm.: Doch hat der moderne Dschihad nichts mit seinen Wurzeln zu tun, denn der wäre nichts anderes, als ein „Sichbemühen“ auf dem Wege Gottes und die persönliche Anstrengung, ein gottgefälliges Leben zu führen. So gilt auch die geistige Auseinandersetzung mit Gegnern des Islam als Dschihad, und Mohammed selbst hatte den militärischen Dschihad reglementiert und allein bei unmittelbarer Bedrohung der Gläubigen unter strikter Verschonung von Unbeteiligten begrenzt. Dschihad heißt „sich bemühen“, und in den Zeugnissen der modernen Krieger wird einst stehen: Sie hatten sich bemüht!]
Am Tag, da der 23-jährige Hamed das Visum für Deutschland erhält, „… lächelte [Kairo] müde. Wie ausgestreckte Finger richten sich die Minarette klagend gegen den Himmel und brüllen unaufhörlich den Namen Gottes. Gott selbst aber schweigt und überlässt Kairo seinem Schicksal. Stillstand, Konfusion. Lärm und Smog. Man nennt unsere Hauptstadt »die Siegreiche«, ich finde »die Besiegte« passender. Nur in einem blieb Kairo siegreich: Es besiegte seine Einwohner und begrub sie unter sich.“ (S. 7) Aber ach! „Die Zeit der großen und tiefen Gedanken schien vorbei. Die klügsten Köpfe Deutschland befassten sich nicht mit dem Sinn, sondern mit den Kosten des Lebens“ (S.40) wie Rente und Fragen, ob Deutschland durch Einwanderer verblöde oder ob die Deutschen gar ausstürben.
Doch es zerreißt ihn. Psychische Störungen folgen, was Abdel-Samad aber heute ironisieren kann, wurde ihm doch die Klinik wie die Betten der Frauen „Ort der Zuflucht“ (S. 288). Auf der Suche nach Ausgeglichenheit gelangt er über einen Maharaji nach Taiwan und dann schließlich nach Japan, wo er die Sprache studiert und lernt, aber die Liebe seines Lebens in Connie – buchstäbliches Produkt der Globalisierung - findet und von der er sich dennoch losreißt, bis sich beide nach sieben Jahren Trennung wiederfinden und beieinanderbleiben.
Welch ein absurdes Theater, zugleich Komödie und Satire auf die (ägyptische) Bürokratie kommt in die Schilderung, als ihm in einer Moschee in Istanbul die Papiere gestohlen werden, oder wenn Hamed mit nine eleven bei den (deutschen) Behörden einstweilen unter Verdacht gerät.
In drei Systemen hat Abdel-Samad nach Antworten auf das gesucht, was ihm „als Kind widerfahren ist. Die Lebensmodelle in den drei Ländern widersprechen deutlich den eigenen Ansprüchen. In Ägypten verleugnet man die Sexualität, um Gott zu erreichen. … Man versucht, die Moral zu Tode zu schützen, und am Ende erreicht man lediglich Verstörung und Doppelmoral. In Deutschland versucht // man, durch das Gesetz ein soziales Verhalten zu erzwingen, das doch eigentlich dem herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem zuwiderläuft. Das System, das für Solidarität wirbt, lebt von Konkurrenzkampf und Ausbeutung. In Japan versucht man, durch starke Hierarchisierung und inszenierte Harmonie den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Dabei führt die Verdrängung zu starken Spannungen, die in Autoaggressionen münden. … In Ägypten leiden Kinder unter den sozialen Zwängen der Gemeinschaft. In Deutschland leiden Kinder, weil ihnen die Gemeinschaft und das Zusammenleben verschiedener Generationen fehlen. Kinder müssen in Ägypten sehr früh existenzielle Lebenserfahrungen machen, während man in Deutschland und Japan den Kindern im Willen, sie zu behüten, die Chance auf elementare Lebenserfahrung vorenthält. Man lässt sie in einer vermeintlich heilen Welt … aufwachsen, bis sie spätestens mit zwölf Jahren erfahren, dass dies mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat. In Ägypten führt diese behütende Haltung bei Kindern zu Persönlichkeitsstörungen, in Deutschland und Japan zu Langeweile. Beides ist gefährlich, und beides erzeugt Gewalt.“ (S. 277 f.) So nimmt denn der moderne Feirefiz Abschied von Gott, denn „Gott ist nicht die Antwort auf meine Einsamkeit. / Gott ist meine Einsamkeit.“ (S. 285).
Und das ist neben kleineren die hauptsächliche Erkenntnis für mich aus diesem Buch, in die natürlich die Lektüre von Freud und Marx mit hineinspielt, in einer Umwertung / -deutung der Genesis und insbesondere der Versuchung Abrahams für den Bund mit Gott!
Heißt es doch in 1. Mose 22, dass Gott Abraham auf die Probe stellen wollte mit der Aufforderung, den Sohn zu nehmen, mit Betonung und der Apposition auf „deinen einzigen“ und der näheren Bestimmung im Relativsatz „der dir ans Herz gewachsen ist“, um ihn an einem bestimmbaren Ort „als Brandopfer“ darzubringen. Da zu der Zeit Abraham sicherlich senil gewesen ist, scheinen die Autoren des Wortes Gottes dem alten Herrn Demenz zu unterstellen, indem sie das Opfer konkret benennen.
Doch zunächst müssen wir uns erinnern: Abram [„Vater ist groß“] war bis ins hohe Alter hinein kinderlos geblieben, dass ein immer wieder gegebenes göttliches Versprechen von zahlreichen Nachkommen – was sich im Namen spiegelt - wie Hohn klingen muss. Doch hatte Sara(i), sein Weib, eine ÄGYPTISCHE, kinderlose Sklavin (bei Luther: "Magd"), Hagar geheißen. Die Autoren berichten, dass Sarai Hagar ihrem Manne überlassen hätte – was unter patriarchalischen Verhältnissen nur als Schönfärberei angesehen werden kann, denn wann hätte jemand schon aus vorgeschichtlicher Zeit vom Institut der Leihmutterschaft im gegenseitigen Einverständnis von Mann und Weib vernommen? Denn tatsächlich gebar Hagar dem Abram im 86. Jahr seines Lebens einen Sohn, den sie Ismael [„Gott hört“] nannten und dem eine zahlreiche Nachkommenschaft zugesagt wurde. (1. Mose 16; [Hagar blickte anschließend überheblich auf ihre kinderlose Herrin und wird dafür buchstäblich von dieser in die Wüste geschickt.]) Nun zeigen zwischenzeitlich die Autoren Sinn für Dramatik und feine Ironie mit dem Ende eines jeden Sodom und Gomorrha!, bevor Sara in seinem 100. Jahr des Abram - nun mit dem Ehrentitel Abraham [„Vater vieler Völker“] versehen - den Isaak [„Er (Gott) lacht“] gebar (1. Mose 21).
Was gäbe es da zu lachen?
Kehren wir an den Ausgangspunkt zurück, auf dass man sich den Schock für Vater (und sicherlich auch leiblicher Mutter) vorstelle, als das Brandopfer verlangt wird! Vor allem aber die Frage, die der kleine Isaak seinem Vater auf dem Weg zur Opferstätte gestellt haben soll: „Feuer und Holz haben wir, aber wo ist das Lamm für das Opfer?“ / „Gott wird schon für ein Opferlamm sorgen“, war die lapidare Antwort. Da sollte selbst ein 14-Jähriger wie Ismael und der geneigte Leser im Opfer die Täuschung als Grundmuster jeden Tausches erkennen.
Denn die Geschichte fährt fort, dass die Autoren mit geradezu mathematisch ein-eindeutiger Deutlichkeit durch den Herrn, seinem Gott, dem Abraham Einhalt gebieten lassen, gleichgültig, ob das Opfer zu gering wäre oder das Messer stumpf, die Begründung lautet deutlich „Du warst bereit, mir sogar deinen EINZIGEN Sohn zu opfern“ (1 Mose 22; [das Modell für den realisierten Opfertod am Kreuz, von dem die Autoren nichts wissen können, mehr als ein halbes Jahrtausend vor diesem Ereignis]) und der war und hieß allein Ismael [bis zu seinem 14. Jahr, von da an war weder er noch sein Halbbruder so recht ein einziger]. Auf die zugesagte Belohnung warten freilich heute noch die Nachkommen dessen, der auf Gott hört und erst recht die Kinder dessen, der worüber auch immer lacht, Ismael und Isaak. Die Autoren liefern aber das Modell für den Bruderzwist aus dem Tausch des Rechtes der Erstgeburt gegen ein Gericht aus Hülsenfrüchten in der nächsten Generation …
Nackter Betrug!, denn wo Gleichheit herrscht, lacht kein Gewinn! Von scheinbar Gleichen werden wechselseitig Leistungen übertragen, die aber nur gleichwertig erscheinen, keineswegs gleichwertig sind. Im idealen Falle glaubt jeder, ein Schnäppchen gemacht zu haben, schätzt er doch die eingetauschte Leistung höher ein als die, die er weggibt. So ist dem ganzen immer auch eine religiöse Dimension zuzusprechen, und in der Tat: bereits das erste und älteste Opfer ist bloße Ware.
Denn auch der Gott, der versucht, wird betrogen, dem das Opfer gilt, wenn das Ungenießbare - Gedärm und Knochen - geopfert wird. Wär’s denn nicht allzu blöde, Genießbares in Rauch und Qualm aufgehen zu lassen, statt es selbst zu genießen? Der Gott könnte ja gestörten Sinnes sein wie der süchtige Raucher: es muss stinken, Rauch entwickeln, brennen! Für den Gott bleibt’s beim Nullsummenspiel. Das spiegelt sich noch in der Sprache:
Das Verb tauschen geht zurück aufs mhd. tuschen, dem „unwahr reden, lügnerisch versichern, anführen“, was seine Nähe zum tiuschen (nhd.: täuschen) nicht verleugnet. „Die heute allein übliche Bedeutung ‚Waren oder dergleichen auswechseln, gegen etwas anderes geben’, in der das Verb zuerst im 15. Jh. bezeugt ist, hat sich demnach aus ‚unwahr reden, in betrügerischer Absicht aufschwatzen’ entwickelt“, was mit der „Präfixbildung vertauschen“ zum „‚irrtümlich oder unabsichtlich auswechseln’“ führt und von dort zurück zum mhd. vertuschen. Ismael aber ist der Stammvater aller Beduinen.
Freilich, einen Nutzen könnte auch der Westen daraus ziehen, die Stimme der Frau zur Schamzone zu zählen, und nicht ohne Ironie will ich schließen, wenn es bei Abdel-Samad heißt: „Auch die Stimme der Frau gilt im Islam als eine Schamzone, weil sie, auch wenn die Frau vollkommen verhüllt ist, dem Manne den Kopf verdrehen kann.“ (S. 75)