Hannes Diehsel
Es war Frühling, die Vögel zwitscherten, die Bienen summten zufrieden, sanfte Schleierwolken zogen am Himmel vorüber und die Sonne gab sich alle Mühe die Menschen mit ihrer zunehmenden Wärme zu erfreuen. Ich war gerade auf dem Weg zur Schule – mit dem Bus. Hannes Diehsel, der Busfahrer, lächelte mich jedes Mal freundlich an, wenn ich ein und aus stieg.
Eigentlich war es ein Jahr wie immer, wenn es da nicht die Sache mit Herrn Diehsel gegeben hätte. Jeden Tag brachte er etwa zwei Dutzend Schüler pünktlich auf die Minute zur Schule. Er war immer freundlich und hilfsbereit; man erwischte ihn kaum mit schlechter Laune. Außerdem beachtete er genau die Verkehrsregeln und hatte noch nie einen Unfall.
Wie an jedem Morgen fuhr ich gemeinsam mit meiner Freundin Lily zur Schule, wo wir uns immer vor Unterrichtsbeginn mit unseren Chearleader-Freundinnen unter der alten Linde vor dem Schulgebäude trafen. Hier tauschten wir immer abgefahrene Neuigkeiten aus, die wir irgendwo erhascht hatten.
Paris, eine schlanke Südländerin mit dunkelbraunen gelockten Haaren, blickte leicht nervös zu Herrn Diehsel hinüber, der gerade alle Schüler herausgelassen und die Türen wieder geschlossen hatte.
„Dass der ständig zur Arbeit erscheint und noch nie krank war ist irgendwie unheimlich.“
„Denkst du das, weil es nicht in deiner Natur liegt jeden Tag deine Pflicht zu erfüllen?“, bemerkte Nena grinsend und schürte die Lippen. Wir kicherten.
„Wer weiß, was der zu hause so treibt. Vielleicht hat er ja Leichen im Keller“, sagte Cidney beiläufig und bemerkte die verdutzten Gesichter ihrer Kameradinnen nicht, weil sie damit beschäftigt war, ihren langen Hals auszufahren, um den Busfahrer besser betrachten zu können.
„Ach kommt schon“, sagte ich mitleidig, „Vielleicht ist er einfach nur ein Mensch, der mit sich und seiner Umwelt vollends zufrieden ist. Kann doch sein.“ Ich zuckte unwissend mit den Schultern. Ich mochte Hannes und wollte nicht weiter über ihn und sein geheimnisvolles Leben spekulieren.
„Vielleicht ist er ja verliebt“, warf Cidney ein.
„Was denn, der?“, fragte Paris ungläubig und lachte. Sie tat so, als wäre er der Glöckner von Notré Dame. Dabei sah er gar nicht mal so übel aus: Er war schlank, sportlich und hatte dunkles kurzes Haar. Seine sanften Augen ließen einen im ewigen Blau des Himmels schweben, nur seine Bartstobbeln waren etwas zu lang.
„Kommt schon, wir müssen rein“, sagte Nena gelangweilt und beendete unsere Debatte über den Busfahrer.
Nach einigen Wochen stellte sich schließlich heraus, dass Hannes Diehsel sich tatsächlich verliebt hatte. Er strahlte über beide Ohren, als ich in den Bus stieg. Sein Lächeln war so zärtlich. Ich versuchte immer heimlich in seinen Rückspiegel zu lunschen, um sein Gesicht gut sehen zu können, aber jedes Mal, wenn er hinein schaute, drehte ich mich schnell weg. Ein Kribbeln tauchte in meinem Bauch auf wie tausend flatternde Schmetterlinge. Ich war nervös.
Beim Aussteigen ließ ich alle vor. Auch Lily schob ich vor mir her. Ich wollte Hannes allein erwischen, um mich nicht vor allen bloß zu stellen. Sein märchenhaftes Lächeln traf mich und ich bemerkte, wie meine Wangen zu glühen begannen.
„Sind Sie verliebt?“, sprudelte es aus mir heraus. Ich klatschte mir die Hand auf den Mund und kniff, verärgert über mich selbst, die Augen zu. Ich hätte mich ohrfeigen können für diese Frage. Aber Hannes blieb gelassen und lächelte immer noch. Seine weißen Zähne glänzten in der Sonne.
„Du hast mich erwischt“, gestand er in aller Ruhe und klopfte mit dem Zeigefinger auf dem großen Lenkrad herum. Mein Herz machte einen Hüpfer, die Schmetterlinge schienen sich plötzlich vermehrt zu haben.
„Sarah!“, hörte ich Lily´s Stimme hinter mir rufen. Unwillig verließ ich den Bus.
In den nächsten Tagen freute ich mich immer wieder aufs Neue Hannes Lächeln zu sehen und Schmetterlinge in meinem Bauch fliegen zu lassen.
Dann, eines Morgens, fuhr der Bus vor und die Türen öffneten sich. Ich hatte einen glücklichen und äußerst verliebten Mann erwartet, der mir entgegen lächelte, aber an seiner statt klemmte ein dicker, missmutig drein blickender Mann mit fettigem Haar hinter dem Steuer. Ich erschrak. Verwirrt suchte ich meinen Platz in der hintersten Reihe. Das kann unmöglich derselbe Bus sein, dachte ich. Doch der Gedanke verflog so schnell wie er gekommen war, denn an der Lehne vor mir klebte immer noch derselbe alte Kaugummi, den Brad damals darauf gedrückt hatte – Brad war mein Bruder und schon längst mit der Schule fertig.
Die ganze Fahrt über grübelte ich und vernahm nicht einmal die klangvollen Worte von Lily, die eifrig neben mir erzählte.
Hannes. Ich schwieg.
An der Schule angekommen, vergewisserte ich mich noch einmal, ob nicht doch Hannes am Steuer saß. Nein. Es war dieser mürrisch drein blickende Mann, dessen kalte Augen mich verhasst ansahen. Schnell verließ ich den Bus, gefolgt von Lily, die immer noch ununterbrochen vor sich hin schnatterte.
Wie immer standen die Mädchen bereits unter der alten Linde, die uns erholsamen Schatten spendete und winkten uns verhalten zu – Paris hielt eine Zeitung in der Hand. Etwas an ihnen war anders. Oder bildete ich mir das nur ein?
„Was gibt’s Neues, außer, dass unser Busfahrer zum ersten Mal in seinem Leben krank zu sein scheint?,“, fragte Lily gut gelaunt.
Paris entfaltete die Zeitung, ohne das Gesicht zu verziehen. Sie sah empört aus, ebenso wie die anderen. Lily´s gute Stimmung verflog. Auf der Titelseite der Zeitung stand in fetten Buchstaben: „Fahrer tödlich verunglückt“.
„Er war frisch verheiratet“, sagte Paris mitleidig.
Ich schnappte nach Luft. Mein Herz zerriss in tausend Stücke.