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Hauptsache, mein Mädchen ist fröhlich.
Da ist sie wieder. Sie hört Musik, hat Kopfhörer an. Ihre Schritte sind vorsichtig, sie will nicht auf dem nassen Boden ausrutschen. Es regnet.
Es hat lange nicht mehr geregnet, es war ein trockener Sommer.
Ich weiß noch genau, wie es war, als es das letzte Mal geregnet hat. Sie hatte ihren Freund zur Bahn gebracht. Wie verliebt die beiden aussahen. Sie wurden nass, aber es machte ihnen nichts aus. Er tat so, als schubste er sie in die Pfützen, aber hielt sie jedes Mal fest, und gab ihr einen Kuss.
Sie hat die ganze Zeit gestrahlt. Mit dem Freund davor hatte sie nicht so gestrahlt. Der besuchte sie auch nicht so oft. Aber der hier, der tat ihr gut. Er war jedes Wochenende bei ihr.
Jedes Mal wenn ich sie damals sah, schaute sie in den Himmel und lächelte.
Sie war ein fröhliches Mädchen.
Doch zwei Monate später war alles anders. Sie kam eines Tages nach Hause wie eigentlich jeden Tag. Aber etwas war anders. Ich sah es ihr schon an, als sie noch bestimmt zweihundert Meter entfernt war. Ihr Kopf war gesenkt, sie ging langsam. Die Sonne strahlte, gerade so, als freue sie sich, dass sie den Wettbewerb für das schönste Strahlen gewonnen hätte. Denn mein Mädchen strahlte nicht mehr. Als sie direkt unter meinem Fenster vorbeikam, sah ich dass ihr Make-up verschmiert war. Sie weinte.
An diesem Wochenende kam ihr Freund nicht. Und sie verließ die nächsten Tage nicht ihr Haus. Es war aus. Meine wunderschöne Nachbarin war wieder alleine. Aber ich wusste dass es nicht lange dauern würde, bis sie wieder strahlte.
Denn sie war ein fröhliches Mädchen.
Doch sie strahlte nicht mehr.
Ich sah sie ein paar Mal mit ihren Freundinnen. Sie lachte, war in Ordnung, aber sie strahlte nicht. Es schien etwas in ihr kaputt gegangen zu sein.
Dann sah ich sie auf einmal mit einem Neuen. Er war eindeutig älter als sie und ich kannte ihn. Ungefähr ein Jahr vorher hatte ich eine Schlägerei beobachtet, in der ich ihn einen anderen Mann mit einem Messer bedroht haben sehen. Zu mehr kam es nicht, denn ich rief die Polizei.
Als ich nun die beiden das erste Mal miteinander reden sah, machte ich mir Sorgen. Das dieser Mann ihr nicht gut tun würde, dass merkte sogar jemand, der sie nicht jeden Tag sah, so wie ich. Der sie nicht so gut kannte wie ich.
Sie traf sich von da an öfters mit ihm. Jedes Mal ging sie mit gesenktem Kopf und schien sich fast nicht zu trauen, ihn anzusehen, wenn sie mit ihm redete. Sie schien Angst vor ihm zu haben, wahrscheinlich wusste sie, wie gewalttätig er war.
Und ich hatte Angst um sie.
Warum traf sie sich dann mit ihm? Ich wollte sie fragen, ihr helfen. Aber ich konnte nichts tun.
Eines Tages sah ich die beiden vor ihrem Haus streiten. Ich konnte nicht verstehen, worum es ging, aber es war das erste Mal, dass ich sah, wie sie sich traute, ihm etwas direkt ins Gesicht zu sagen. Ich brannte vor Neugier zu erfahren, was es war. Ich weiß es bis heute nicht, woher auch. Aber war anscheinend etwas, worüber er sehr sauer wurde. Er schlug sie mit der flachen Hand, mitten ins Gesicht. Sie lief ins Haus und ließ ihn davor stehen. Die ganze Nacht blieb ich wach und wartete darauf, dass er endlich ging. Doch auch er wartete lange. Mein Mädchen jedoch kam nicht heraus.
Am nächsten Abend stand er wieder vor ihrem Haus. Er hielt sich sein Handy ans Ohr, versuchte wahrscheinlich, sie zu erreichen. Doch sie kam nicht raus. Plötzlich kam ein Auto vorgefahren. Zwei andere Männer stiegen aus, die ihn mit Handschlag begrüßten. Er erklärte ihnen etwas, wobei er immer wieder auf ihr Haus wies. Dann brüllten sie in Richtung ihres Zimmerfensters. Schließlich nahmen sie sogar Steine und schmissen sie an die Hauswand. Ich hatte solche Angst um das Mädchen. Wie ein Jahr vorher rief ich die Polizei. Doch dort wurde mir gesagt, sie wären bereits informiert worden. Eine Streife sei unterwegs. Zwei Minuten später war der Vorfall Geschichte, die Randalierer wurden abgeführt.
Alles ging weiter wie vorher, ich merkte nur einen Unterschied: Seit jenem Abend schaut sie sich immer um, wenn sie ihr Haus verlässt.
Aber der Mann ließ sich nie wieder sehen. Er hat wohl begriffen, dass er ihr nichts tun kann. Sie wird beschützt. Ich lasse sie nicht im Stich.
Denn sie hat es verdient, ein fröhliches Mädchen zu sein.
Und heute regnet es wieder. Ob sich an den letzten Regen erinnert? Bestimmt erinnert sie sich. Sonst würde sie wenigstens ihre Kapuze aufziehen. Aber sie tut nichts, um sich vor dem Regen zu schützen. Ihre triefnassen Haare fallen ihr ins Gesicht, und ich kann es nicht erkennen. Sonst lässt sich an ihrem Gesichtsausdruck so viel ablesen, es ist sonst leichter, zu erraten, woran sie denkt. Ich würde sie so gerne fragen.
Plötzlich hat sie gemerkt, dass jemand hinter ihr geht. Sie geht aufrechter, schiebt sich die Haare aus dem Gesicht und ich sehe dass sie lächelt. Nun weiß ich, woran sie denkt.
Bis vor kurzem hat sie fast jeden Tag auf ihren Nachhauseweg ein Spiel gespielt mit einem Jungen, der eine Strasse weiter wohnt. Sie haben nie geredet, soweit ich weiß, kannten sie sich noch nicht einmal richtig. Aber war wie ein stummes Einverständnis zwischen den beiden.
Hinten bei der Bahn, wo ich sie mittags immer als erstes sehe, wenn sie aussteigt, ist der Weg noch schmal. Dort ging er immer knapp hinter ihr. Fast direkt unter meinem Fenster aber, wo aus dem Weg eine geteerte Strasse wird, holte er sie ein. Er sah es nicht, aber ich merkte jedes Mal, wie sie lächelte, wenn sie ihn aus den Augenwinkeln bemerkt hatte. So liefen sie dann weiter, bis sie die Treppe zu ihrer Haustür hochstieg. Dort drehte sie sich noch einmal um. Im selben Moment drehte er sich ebenfalls um und die beiden lächelten sich an.
Sie beherrschten dieses Spiel perfekt. Doch ich wusste die ganze Zeit, dass er nicht der Richtige für sie war. Denn ich wusste mehr über ihn als sie. Bald darauf merkte sie, was ich meinte.
Nachdem sie ihn das erste Mal mit einem anderen Mädchen an der Hand gesehen hatte, schien sie traurig zu sein.
Als sie ihn keinen Monat später mit noch einem anderen Mädchen sah, schaute sie erstaunt.
Beim dritten Mädchen in weniger als zwei Monaten schüttelte sie nur noch den Kopf und grinste, so, dass er es nicht sah.
Sie ließ sich von so etwas nicht runterkriegen.
Denn sie war ein fröhliches Mädchen.
Sie glaubt, er sei hinter ihr. Doch er ist es nicht. Als sie es auch bemerkt, verschwindet ihr Lächeln schlagartig wieder. Der Regen hört auf, und die Sonne kommt heraus. Sie wackelt mit dem Kopf im Takt zu ihrer Musik und blinzelt in die Sonne.
Plötzlich geschieht etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. Ich kenne sie schon lange, weiß so viel über ihr Leben, aber trotzdem hat sie mich noch nie gesehen. Warum auch? Schließlich hat sie so viel zu tun, warum sollte sie ausgerechnet in das zweite Fenster von links im zweiten Stock, das genau so aussieht wie die anderen auch, schauen?
Wie sollte sie darauf kommen, dass da hinter jemand sitzt, dessen Enkelin sie sein könnte, aber dessen beste Freundin sie ist? Es ist zu absurd, darauf würde sie nie kommen, habe ich immer gedacht.
Aber jetzt schaut sie hoch. Genau in meine Richtung.
Sie schaut mich direkt an. Ich bin wie gelähmt und kann mich ihrem Blick nicht entziehen. Ihre Augen glitzern, sie kneift sie zusammen.
Sie fixiert mich und dann strahlt sie. Mein Mädchen strahlt mich an. Wie lange habe ich sie nicht mehr strahlen gesehen? Und jetzt strahlt sie, nur für mich.
Ich bin ein Teil von ihrem Leben, in diesen Sekunden denkt sie nur an mich. An mich, der sonst immer nur im Hintergrund war. Ich bin im Vordergrund. Ich spiele ganz im Vordergrund mit, ich spiele für ein paar Sekunden eine Rolle in ihrem Leben.
Sie ist schon lange weg, als ich immer noch am Fenster sitze, ohne mich bewegt zu haben. Ich kann mich nicht bewegen. Dass sie mich in ihr Leben einbezogen hat, gibt mir ziemlich zu denken. In den letzten Jahren habe ich mein Leben für sie so sehr in den Hintergrund gerückt. Ich habe praktisch nur noch für sie gelebt. Aber was heute passiert ist, hat mir gezeigt, dass ich genau so am Leben bin wie sie. Ich bin zwar alt. Aber ich lebe trotzdem. Ich kann genau so im Vordergrund spielen. Ich lebe nicht nur für sie. Ich habe doch mein eigenes Leben. Und ich sollte die Hauptrolle in meinem Leben spielen.
Ein neues Kapitel meines Lebens beginnt, ich schreibe es selber. Ich schaue nicht nur zu und greife aus einer sicheren Entfernung ein, wenn es brenzlig wird, nein.
Ich lebe selber. Ich bestimme alles selber.
Ich bin ein fröhlicher Mann.