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Haut
Haut
Es ist immer wieder dieselbe Haut, die Susanne anfassen muss.
Wenn sie sich wäscht, wenn ihre Fingerspitzen Creme leicht unter die Augen klopfen, wenn Strümpfe über ihre Beine gerollt werden, wenn ihre Hände widerspenstiges Haar aus dem Gesicht streichen.
Krauses Haar, krause Gedanken.
Und doch ist es nur Haut, ihre Haut, in der sie steckt.
Susanne sitzt im Zug. Sie reist zurück. Nach Jahren traut sie sich. Der Ort ist tiefste Provinz, nicht München, nicht Hamburg oder Berlin. Ein kleines Dorf inmitten von goldgelben Feldern, unter blauem Himmel, an einem See.
Ein See, klar bis zum Grund. Wenn man darin schwimmt, kann man sie sehen:
Nackte Haut.
Unschuldig, weich, hell mit winzigen Sommersprossen überzogen, roter Flaum schimmerte, als die Sonne darauf fiel.
Susannes Herz klopft, als vorbei fliegende Wälder und Felder vertrauter werden.
Die Kreisstadt naht. Hier muss sie umsteigen. Susanne liebt ihr Dorf und doch hat sie Angst.
Wenn sie nicht hin und wieder sehnsüchtig zurückgedacht hätte, wäre sie nicht zurückgekommen.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten“, hat Anne gesagt
„Doch“, hat Susanne widersprochen. „Du weißt nicht, wie sie sind.“
Anne kennt nur die Großstadt. Hier lebt man freier, anonymer.
„Quatsch“, hat Anne geantwortet. „Alles Schnee von gestern!“
Susanne aber erinnert sich, sieht immer noch deutlich die Bilder aus der Vergangenheit.
Das Bad im See war erfrischend. Thomas streichelte Susannes Haut. Kühl war sie.
Er küsste die Kuhle zwischen ihren Brüsten. Warum er das tat, wusste er nicht.
Er musste es einfach tun, weil er Susanne mochte.
Sie mochte es auch. Seine Art sie zu bewundern, ihr zu bestätigen, wie schön sie sei, prickelte als Schauer, vom Kopf bis zum Fuß.
Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Susanne denkt an Anne, die sie überredet hat:
„Beim besten Willen“, sagt Anne. „Du hast doch alles erreicht, was du dir gewünscht hast.“
„Das meinst du“, antwortet Susanne. „Die sehen es anders.“
„Wie anders?“, stöhnt Anne, „dann sind sie eben blöd.“
Sechzehn ist sie, halb so alt wie ihre Mutter.
‘Genau! Sie sind blöd, Susanne hat zweifelsohne das Recht hocherhobenen Hauptes zurückzukehren.’
Als sie auf dem Busbahnsteig wartet, dringt Schweiß aus ihren Poren. Die Luft ist schwül. Sie schaut sich um. Es hat sich viel verändert. Häuser stehen dort, wo früher der Einkaufsladen war. ‘Wo kaufen sie jetzt ein?’, überlegt sie kurz.
‘Wahnsinn, vielleicht hat Anne Recht. Alles Schnee von gestern. Geschmolzen und vergangen.’
Ein Schwall Luft trifft sie, als der Bus an den Bahnsteig heranfährt. Sie steigt ein, findet einen Platz.
Dicht gedrängt sitzt sie zwischen schwatzenden Weibern. Sie wird müde in der stickigen Luft. Die Augen wollen zufallen.
Susanne hatte die Augen geschlossen. Das, was Thomas mit ihr machte, erregte sie.
Thomas Geschlecht, faszinierend und fremd, suchte den Spalt, der in ihr Inneres führte. Dort wo alle vier Wochen Blut hervorquoll. Sie war froh, dass Thomas diese peinliche Art ihres Körpers zu bluten, nicht mitbekommen hatte. War gerade erst vor zehn Tagen gewesen. Da hatte es geregnet. Sie konnten nicht schwimmen gehen, saßen nur zusammen auf einer Bank. Tropfnass wurden sie. Aber da war so eine Hitze, ganz tief, von innen heraus. Sie dämpfte den Regen. Oder war es umgekehrt?
Jetzt spürte sie diese Hitze, wie sie sich ausbreitete. Sie wollte nicht, dass Thomas aufhörte. Sein Zögern beantwortete sie, indem sie ihre Beine spreizte.
Ihre Haut ersehnte sich Berührung. Wollte angefasst werden. Da wo der rote Flaum war. Dort wo sich die Feuchtigkeit verfing. Zwischen Lippen versteckt, irgendwas, das verlangte gestreichelt zu werden. Thomas tat ihr den Gefallen. Liebte sie so, wie sie es genießen konnte. Nur ein kurzer Schmerz war zu spüren. Aber das machte nichts. Wunderschön war es.
Haut auf Haut.
Böse Haut, blaue Striemen von Vaters Gürtel. Sündige Haut umhüllte die verbotene Frucht:
Liebkosen, streicheln, verwerfliches Luder.
Krauses Haar, krause Gedanken
Kann nichts Gutes darin sehen.
Nur Schande.
Der Gürtel traf immer wieder den geschwollenen Leib.
Endlich ist Susanne angekommen. Ihre Glieder schmerzen ein wenig von der unbequemen Reise.
Sie schnappt Gesprächsfetzen auf:
„Willkommen, war es anstrengend?“
Sie nickt, sieht auf die Gesichter.
‘Wer sind sie?’
Susannes Haut fröstelt. Möchte zurück zu Anne. Aber da ist der Anruf gewesen.
Vor zwei Tagen. Eine Stimme aus der Vergangenheit.
„Er stirbt“, hat sie gesagt.
‘Soll er doch!’
Für Susanne ist er gestorben, als der Gürtel auf sie eingedroschen ist.
Nie wieder will sie ihm gegenübertreten!
Freilich, man kann vergessen. Aber kann man auch verzeihen?
Susanne hat sie über Jahre gespürt, die blauen Flecken.
Und jetzt soll sie verzeihen?
Jahrelang hat Susanne geträumt, dass ihr Vater kommt, sie in die Arme schließt.
Anne bewundert und stolz auf sie ist.
Immer, wenn es geklingelt hat, an der Tür oder das Telefon, hat ihr Herz geklopft, es gewünscht, der Vater hole sie.
Nun ist es zu spät. Nicht er hat sie geholt. Der Pfarrer ist es, der angerufen hat.
Das hat nichts damit zu tun, dass er sie mit Schimpf und Schande davongejagt hat.
Nein, es war nur der Schmerz unter ihrer Haut.
Haut, die sich sehnt geliebt zu werden.
Haut, die darauf brennt, von ihm gesehen zu werden.
Haut, die sich schämt, ihn enttäuscht zu haben.
Haut, die stolz den Gürtel erträgt.
Susanne sitzt an seinem Bett. Kahl wirken die Wände im Hospiz zum Abendfrieden.
Sein Gesicht ist kleiner, fast verschrumpelt wie ein Apfel. Das gelbliche Haar wirr.
Gierig schmatzt er aus der Trinkflasche, die die Schwester an seine dünnen Lippen hält.
„Das ist der letzte Überlebensinstinkt“, sagt sie zu Susanne. „Es dauert nicht mehr lange.“
Susanne beobachtet das Geflecht blauer Adern, in denen noch ein wenig Leben ist.
Alte Haut. Welk und leicht gelblich. Viele dunkle Male darauf. Besudelt vom Unrecht.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Susannes Mutter nicht so früh gestorben wäre.
Mutterlos aufzuwachsen. ‘Damit muss ein Mann doch überfordert sein’, denkt sie jetzt.
Die Liebe, die eine Mutter geben kann. Vielleicht konnte er es nicht.
Susanne denkt an Anne. Ihr Kind. Thomas Kind.
Sie wird ihn besuchen. Bilder von Anne zeigen.
Der Alte holt tief Luft, seufzt. Seine Augen brechen. Er lächelt.
Susanne lächelt zurück.