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Heiß, warm, angenehm und häßlich
Es war an einem Sonntagmittag, es war nicht direkt warm oder heiss, aber angenehm. Die Sonne war nicht zu sehen, dafür blies ein starker Nordostwind, der die Bäume hin und her schwenken liess. Die Vögel sangen aus vollem Hals.
Er ging hinter ihr. Nicht viel, vielleicht ein paar Schritte. Er kannte sie nicht, sie kannte ihn nicht. Sie gingen auf dem Gehweg, Richtung Bushaltestelle, wollten beide in die Stadt. Es war nicht direkt warm, aber angenehm.
Er dachte sich, dass er doch eigentlich seine Jacke ausziehen konnte, wenn es ja so warm war. Denn er begann langsam zu schwitzen, wie er dort so ging, recht flott. Hinter ihr. Nicht direkt hinter ihr, sie lief ganz am Gehwegrand, ganz nah an der Strasse. Er ging ganz innen, an den Hofeinfahrten und Mäuerchen entlang. Oftmals streifte er eine Hecke oder einen Busch. Dann drehte sie den Kopf ein wenig zur Seite und versuchte unauffällig einen Blick auf ihn zu erhaschen. Es durfte ja nicht zu offensichtlich wirken, dass sie versuchte, ihn anzublicken. Und sie gingen weiter.
Sie, recht flott vorne heraus, ganz am Bordsteinrand, er, recht flott in einigem Abstand hinterher, ganz innen vom Gehweg. Sie gingen. Etwa eine halbe Stunde lang. Eine halbe Stunde, in der keiner der beiden ein Wort sagte, in denen keiner der Beiden nicht schwitzte.
Er sah auf ihre Schuhe. Sie waren schwarz, schwarz wie die Nacht. „Komisch“, dachte er, „sie passen gar nicht zu ihr, sie ist so zierlich und dann diese klobigen, schwarzen Schuhe. Es sieht merkwürdig aus.“
Sie fühlte sich nicht gut. Es war ihr zu warm. Obwohl es ja eigentlich nicht warm war, eher angenehm. Aber das wusste sie nicht, für sie war es warm. Sie schwitzte. Er schwitzte. Sie schwitzten. Und gingen auf dem Gehweg, Richtung Bushaltestelle. Eine halbe Stunde lang. Immer im gleichen Tempo, immer im gleichen Abstand, immer gleich versetzt. Bis sie zur Bushaltestelle kamen. Sie setzte sich sofort auf die Bank. Er sich daneben. Keiner sagte ein Wort. Und es war nicht wirklich warm, aber angenehm.
Beide zogen ihre Jacken aus. Und sassen da. Zu zweit, allein auf der Bank und warteten. Eine lange Zeit.
„Hast Du `ne Uhr?“, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. Blickte ihn nicht an. Dabei hätte sie doch zu gern gewusst, wie er wirklich aussah.
„Schade“, sagte er und blickte wieder geradeaus. Sein Blick fiel auf ihre Schuhe, diese riesigen, klobigen Schuhe, die so gar nicht zu ihr passten. Er schüttelte den Kopf.
„Diese Schuhe stehen Dir phantastisch, wenn ich das so sagen darf“, meinte er. „Danke“, sagte sie und blickte weg.
Er nickte.
Dann meinte er: „Also ich glaube, da kommt heute kein Bus mehr, ich gehe vielleicht besser zurück nach Hause und nehme den Wagen, möchtest Du vielleicht mitfahren?“ Hoffnungsvoll blickte er sie an. Sie erwiderte seinen Blick. Wieso denn nicht? Und sie gingen los.
Ein paar Jahre später sass ein Mann auf der gleichen Bank, an der gleichen Bushaltestelle und blickte ins Leere. Er war allein. Es war ein komisches Gefühl. Er war schon lange nicht mehr allein gewesen. Vorsichtig blickte er auf seine Armbanduhr. Es war ein Geschenk gewesen. Von ihr. Sie hatte sie ihm an den Arm gemacht und gemeint: „Damit Du nie mehr fremde Frauen nach der Uhrzeit fragen musst.“ Sie hatten gelacht. Er dachte an sie. Wo mochte sie jetzt sein? Er wusste es, oder auch nicht. Er war allein. Seit langem wieder. Prüfend blickte er zum Himmel. Dabei fiel ihm eine Träne in die Hand. Es war bewölkt, die Sonne war nicht zu angenehm. Er zog seine Jacke aus, denn er schwitzte. Er schwitzte. Und sass da, auf der Bank.
Er war allein. Wirklich allein. Morgen sollten die Zeitungen das Bild ihrer Leiche zeigen, aber das wusste er noch nicht. Das interessierte ihn nicht. Er starrte nur ins Leere. Geradeaus. Und da sah er plötzlich wieder diese Schuhe. Die Schuhe. Sie waren schwarz, so wie immer und klobig, passten so gar nicht zu ihr. Er hasste sie, die Schuhe. Sie machten sie hässlich. Aber sie waren schwarz, schwarz wie die Nacht. Und er blickte ins Leere. Er schwitzte. Aber es war nicht warm, eher angenehm. Richtig angenehm.
Er stand auf. Ging weg. Sah sie, sah sie nicht. Blickte noch einmal zurück. Schüttelte den Kopf. Heute war Sonntag, so wie damals. Am Sonntag fuhren keine Busse.
Ben Wieland