Heidschnucke
Klong – Klong …
Ich schreckte hoch. Wer in Gottes Namen machte am ersten Weihnachtstag um die Mittagszeit solch einen Krach?
Nur Sekunden später eine neue Salve: Bang – Bang – Bang – Bang!
Die metallischen Schläge kamen aus der Wohnung von Frau Müller, die eine Etage unter mir wohnte. Was war da los? Ob sie versuchte, auf diese Weise um Hilfe zu rufen? Vielleicht war sie gestürzt! Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die alte Dame, sonst wie aus dem Ei gepellt, öffnete mit hochrotem Gesicht und wirren Haaren.
„Frohe Weihnachten“, wünschte ich.
„Danke, gleichfalls“, keuchte sie und wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Kittelschürze ab.
In der Küche hörte man Scheppern, Klappern und unterdrücktes Fluchen.
„Meine Schwester“, erklärte Frau Müller. „Sie regt sich ein bisschen auf.“
„Und warum?“, erkundigte ich mich.
„Wegen dieser Heidschnucke“, stieß Frau Müller hervor. Ihr Blick wanderte hektisch zwischen mir und der Küchentür hin und her.
„Heidschnucke?“, wiederholte ich verwundert.
„Das ist ein Schaf. Soll sehr gut schmecken.“
„Ich glaube, es hat sich bewegt!“; rief eine aufgeregte Stimme aus der Küche.
„Um Gottes willen, lebt es noch?“ Entsetzt starrte ich Frau Müller an. Im Geiste sah ich zwei alte Damen vor mir, wie sie mit einem blutigen Messer ein armes, freundliches Schaf niedermetzelten.
„Meine Schwester versucht, das Blech aus dem Ofen zu holen“, klärte meine Nachbarin mich auf. „Es hat sich verklemmt. Die ganze Zeit haben wir schon mit dem Hammer im Ofen herumgeklopft. Aber bitte, kommen Sie doch rein.“
„Ich versuch ‘s mal mit der Rohrzange!“, schrillte die Stimme hinter der Küchentür.
Ich trat in den Flur. „Warum holen Sie den Braten nicht einfach mit einer Gabel aus dem Ofen?“, erkundigte ich mich.
„Weil er kalt wird.“
„Dann essen Sie ihn eben, bevor er kalt wird.“
Ein vernichtender Blick traf mich. „Und der Bratensatz?“, fragte Frau Müller vorwurfsvoll. „Der wunderbare Fleischsaft, das Fett, die Gewürze? All das brauche ich doch für die Soße!“ Nervös sah sie auf ihre Armbanduhr. „Der Braten hätte schon vor zwanzig Minuten raus gemusst.
„Wärmen Sie ihn doch einfach auf, bevor Sie ihn essen.“
Frau Müller stutzte. Fassungslos schaute sie mich einen Augenblick an. Dann schlug sie sich mit der Hand vor den Kopf. „Ehrlich gesagt: Daran haben wir bei dem ganzen Gehämmer gar nicht gedacht.“ Sie lächelte ein wenig verlegen und rief nach hinten. „Nimm die Heidschnucke schon mal raus!“
„Soll ich mal gucken, ob ich das Blech aus dem Ofen kriege?“, bot ich an.
„Das wäre nett.“ Frau Müller nickte hoffnungsvoll.
In der Küche fiel mein Blick zunächst auf etwas sehr Dunkelbraunes auf einer Platte, die viel zu groß wirkte.
Frau Müllers Schwester trug ebenfalls eine Kittelschürze, die mit Heidschnuckenfett-Spritzern übersät war. Ihre dauergewellten grauen Haare klebten ihr am Kopf. Mit hängenden Schultern und einer Rohrzange kniete sie vor dem Ofen und schaute aus ratlosen Augen zu mir hoch.
Ich nahm die selbstgehäkelten Topflappen, die auf dem Boden herumlagen, und ruckelte vorsichtig an dem Blech. Nichts zu machen! Das Ding saß rappelfest. Eifrig hielt mir Frau Müller den Hammer hin und ihre Schwester die Rohrzange. Nur um ihnen einen Gefallen zu tun, wummerte ich mit beiden Werkzeugen ein bisschen im Ofen herum.
Die beiden alten Damen seufzten schwer. Sie taten mir richtig leid. „An Ihrer Stelle“, sagte ich mit beruhigender Stimme, „würde ich einfach warten, bis der Ofen abgekühlt ist. Dann zieht sich das Blech zusammen und Sie können es herausnehmen.“
„Was anderes bleibt uns wohl kaum übrig“, meinte Frau Müller resigniert.
Wir tranken einen Apéritif, während wir warteten, dann zogen wir das Blech heraus. Frau Müller und ihre Schwester wärmten den Braten auf und verarbeiteten das andere Zeug zu Soße, und ich sollte mich schon mal an den Tisch setzen. Wir aßen den Heidschnuckenbraten mit zerkochten grünen Bohnen und zerfallenen Salzkartoffeln, und es schmeckte den Umständen entsprechend gut.
Beim Schokoladenpudding richtete Frau Müller sich plötzlich wild entschlossen auf. „Eins sage ich euch“, verkündete sie. „Das war das erste und letzte Mal, dass ich einen Heidschnuckenbraten gemacht habe!“