Heimkunft
Die Rolltreppe spuckt ihn traege in die menschenleere Lobby des riesigen Buerogebaeudes, wie die Zunge einer ueberdimensionalen, mechanischen Riesenschlange, die ihn verschluckt, ausgequetscht, verdaut, und die mueden Reste seines Koerpers schiesslich als ungeniessbar befunden hat, und gibt dabei dumpfe, rumpelnde Geraeusche von sich, als habe sie Magenbeschwerden. Grelles Neonlicht ueber verwaisten Schreibtischlandschaften in arktischen Beige- und Weisstoenen, wie abgebrochene Eisberge duempeln die Computerterminals grueppchenweise auf dem kaltgrauen Industrieteppichboden, und eine einsame Yukkapalme, die neben der geschlossenen Cafeteria vor sich hinvegetiert, wirkt mit ihren tropischgruenen Blaettern in der innenarchitektonischen Winterlandschaft genau so deplaziert, wie er selbst.
Aus den Augenwinkeln nimmt er als einzige Bewegung das flimmernde Zucken der Bildschirmschoner mit dem Firmenlogo wahr, die wie geklonte Goldfische orientierunglos ueber die schwarzen Monitore huschen, in denen sie eingeschlossen sind, und jedesmal erschrocken zurueckweichen, wenn sie gegen die Raender ihrer zweidimensionalen Aquarien prallen. Sogar die Putzkolonnen haben ihre Arbeit hier bereits beendet, man erahnt noch den scharfen Geruch der Reinigungsmittel und die Restwaerme der trockenen Luft, die vor kurzem mehrfach durch die Filter der Staubsauger gejagt worden ist.
Zwoelf Stunden Schichtdienst hat er hinter sich, ueber vierhundert Gesichter hat er freundlich begruesst und verabschiedet, dazwischen die Rolle des souveraenen, charmanten Gastgebers im Flugzeug bis zum Schluss erfolgreich gespielt, Personen bewirtet, die er noch nie gesehen hat, die er niemals wieder sehen wird, fuer sie Probleme geloest, Informationen gesucht, sich unzaehlige Male entschuldigt fuer Fehler, die nicht seine waren. Er mag seine Arbeit, die fremden Menschen, den Zeitdruck, und waehrend der Schicht ist seine Freundlichkeit und Fuersorge nicht geheuchelt, sondern echt. Er will, dass es den Gaesten gut geht, dass sie sich wohlfuehlen, hofft, dass sie ihn wahrnehmen und moegen. Es faellt ihm nicht schwer, das zu erreichen, glaubt er.
Nach Feierabend aber, wenn die Kolleginnen sich von ihm verabschiedet haben, mit klickernden Absaetzen ueber den Linoleumboden davongeeilt sind, und er bereits ihre Namen vergessen hat, noch bevor das Geraeusch ihrer Schritte in der gespentischen Weite des Kellers verhallt ist, steht er alleine im Raucherabteil, und fuehlt, wie mit dem Zigarettenrauch alle Gesichter und Situationen des Tages aus seinem Gehirn geblasen, von der Belueftungsanlage in grauen Schlieren nach oben gesaugt werden, und verschwinden. Was ihm bleibt, ist ein Gefuehl der Leere. Ein weiterer, bedeutungsloser Tag auf der Geraden seines Lebens. Vakuum in seinem Kopf, und davor, wie eine stuemperhafte Karnevalsmaske aus Papier, die vom stetigen Laecheln um Mundwinkel und Augen zerknittert ist, sein muedes, graues Gesicht.
Er schleppt sich in Richtung Ausgang, den Blick auf den Boden gerichtet, und zieht seine Koffer hinter sich her. Ueber den spiegelnden Granitboden der Eingangshalle steuert er auf die riesige, glaeserne Drehtuer zu. Zur Mittagszeit, wenn die Angestellten der Bueros aus den Aufzuegen quillen, um die benachbarte Kantine aufsuchen, bilden sich vor der Drehtuer Menschentrauben, die sich nach und nach grueppchenweise in die dreieckigen Schleusenkammern draengen, und sich ins Freie schaufeln lassen. Von aussen kann man dann beobachten, wie sich die schicken Anzug- und Kostuemtraeger innerhalb der glaesernen Zelle in Trippelschritten vorwaerts bewegen, und bemueht sind, weder dem Vordermann in die Ferse zu treten, noch hinterruecks von der automatischen Tuer erwischt zu werden. Falls doch einmal jemand zu langsam laeuft, und eines der Tuerblaetter auf einen noch so geringen Widerstand stoesst, stoppt die gesamte Konstruktion aprupt, und diejenigen, die in erster Reihe laufen, prallen unvermittelt gegen die Glasscheibe. Manchmal kann man an der Innenseite der Drehtuer auf Gesichtshoehe Spuren von Lippenstift erkennen, zumeist in gedeckten Pastelltoenen.
Kuehle, feuchte Nacht schlaegt ihm entgegen, als er ins Freie tritt. Er haelt inne, schliesst die Augen, atmet tief ein, oeffnet den obersten Knopf seines Hemdes, und zieht den Knoten der Uniformkrawatte etwas lockerer. Gerade erst scheint der Regen aufgehoert zu haben, einzelne schwere Tropfen loesen sich noch vom Vordach des Buerogebaeudes, und klatschen neben ihm auf den Boden. Die Luft ist sauber und frisch, fuellt das Vakuum in seinem Kopf, befeuchtet sein zerknittertes Gesicht, blaest den Klimaanlagenmief aus seiner Kleidung. Er ueberquert den Parkplatz, auf dem tagsueber die schweren, dunkellackierten Limosinen der Vorstandsmitglieder parken. Der Asphalt glaenzt nass im gelblichen Licht der kugelfoermigen Laternen, und er muss einige Pfuetzen umlaufen, bis er den Gehweg zum Parkhaus erreicht.
Unter den Ledersohlen seiner schwarzpolierten Schuhe knirschen bei jedem Schritt unsichtbare Sandkoerner, und die Plastikraeder der Rollenkoffer rattern dazu in monotonem Rythmus ueber die Fugen der hydroaktiven Verbundpflastersteine, die in symetrischen Mustern aus unterschiedlichen Grautoenen angeordnet sind, in der Mitte des Weges dunkel, aussen etwas heller, und die durch die Loecher in ihrer Oberflaeche das Regenwasser in den Untergrund sickern lassen. Knieniedrige Aluminiumpfosten saeumen in gleichmaessigen Abstaenden zu beiden Seiten den Rand des Gehwegs, und fuehren mehrfach geflochtene Drahtseile, die jedoch nicht straff gespannt sind, sondern nur flach ueber dem Boden baumeln. Es wirkt, als habe der Landschaftsarchitekt mit dieser Geste der demonstrativen Nachlaessigkeit ueber seine anmassende Befuerchtung hinwegtaeuschen wollen, die Fussgaenger koennten das Pflaster verlassen, und mit Absaetzen und Kofferraedern die Perfektion des saftiggruenen Rasens zerstoeren, der auf beiden Seiten den Fussweg einbettet. Junge Kulturbaeumchen stehen in zirkelrunden Rindenmulchinseln, und ihre nackten Zweige werden werden von unten mit Halogenscheinwerfern beleuchtet. Inszenierte Wohlfuehlnatur auf hundertfuenfzig Metern Laenge und vier Metern breite, ausgestellt wie ein wertvolles Unikat im Museum fuer praehistorische Geschichte. Ansonsten, im Umkreis von mehreren Quadratkilometern, ausschliesslich grauer, nasser Beton, Asphalt, Metall und Glas.
Er haelt den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet, versucht halbherzig, nur auf die ganz schwarzen Steine zu treten, die in unregelmaessigen Abstaenden im Pflaster verteilt sind. Die beiden Koffer behindern ihn bei diesem Vorhaben, ausserdem wird sein Blick durch unzaehlige, gerade Stoeckchen abgelenkt, die strohhalmduenn, feuchtschimmernd, grau-rosafarben auf dem Fussweg herumliegen, und die Sauberkeit und Akkuratesse des Bodenbelags empfindlich stoeren. Einige Stoeckchen haben nur Streichholzgroesse, andere sind so lang und dick wie Kugelschreiber. Vielleicht hat ein nachlaessiger Spaziergaenger die Staebe eines perlmuttfarbenen Mikadospiels nach und nach in unterschiedliche Groessen zerbrochen, und auf den Boden fallen lassen. Oder ein verwirrter Kastanienbaum hat verspaetet sein welkes Laub verloren, der Wind hat die Blaetter fortgeweht, und nur die Stengel sind liegen geblieben. Allerdings es ist unwahrscheinlich, dass hier irgendwer Mikadospiele mit sich herumtraegt, und von einem Kastanienbaum ist weit und breit nichts zu sehen.
Die Stoeckchen wirken auf ihn wie Objekte aus einer anderen Welt, sie gehoeren nicht hierher, erinnern ihn schemenhaft an laengst vergangene Zeiten, wecken dunkele, verschuettete Emotionen in ihm, doch er kann das Bild nicht greifen. Seine Aufmerksamkeit ist jetzt vollkommen eingenommen von den raetselhaft schimmernden Staeben, er verlangsamt seine Schritte, und schaut gebannt auf den Boden. In diesem Moment tritt er mit dem Absatz auf ein Stoeckchen, zermalmt eine Haelfte unter seinem glaenzenden Schuh. Er spuert keinerlei Widerstand. Das Stoeckchen ist ganz weich.
Er bleibt stehen, und muss erschuettert feststellen, dass die Haelfte des Stoeckchens, die unter seinem Absatz hervorragt, zum Leben erwacht, und sich in verzweifelt zuckenden Maeandern um die Stelle kringelt, an der sein Fuss die langgezogene Form seines Koerpers abquetscht. Es ist ein Regenwurm. Der gesamte Weg ist uebersaeht von Regenwuermern, die durch die fruehlingshafte Naesse aus der Erde unter den Pflastersteinen an die Oberflaeche gelockt worden sind, und sich im Schutz der Dunkelheit in der Feuchtigkeit strecken und baden. Trotz ihrer Winzigkeit erscheinen die Wuermer ihm in diesem Moment wie wundersame Fabelwesen, wie Dinosaurier, die die versiegelte und kultivierte Kruste seiner Welt, die zubetonierte und asphaltierte Erinnerung an seine Vergangenheit, an seine Traeume, von unten her auf wundersame Weise durchbohrt und aufgebrochen haben.
Ein verschuettetes Bild aus seiner Kindheit steigt blitzartig vor seinem inneren Auge empor. Er als Fuenfjaehriger, wie er bei Regenwetter, in gelben Oelmaentelchen und Gummistiefeln, eine rote Schubkarre durch den elterlichen Garten schiebt, und Schnecken und Wuermer darin sammelt. Die absolute Dringlichkeit und Bedeutungsschwere, die er fuer diese Aufgabe fuehlt. Der Geruch von nassem Erdreich und feuchtem Gras. Die emsige Langsamkeit, mit der die Kreaturen, Schleimspuren hinterlassend, in alle Himmelsrichtungen davonkriechen. Die ohnmaechtige Angst, die ihn befaellt, weil er trotz der laecherlichen Langsamkeit der Einzelnen die Masse der Tiere nicht kontrollieren kann, und sie, eines nach dem anderen, ueber den Rand seiner Schubkarre gleiten, und in der Wiese verschwinden, bis er, spaetestens nach dem Mittagessen, wieder mit leeren Haenden dasteht.
Er kniet auf regennassem Verbundsteinpflaster, in dreiteiligem, dunkelblauen Anzug, mit weissem Hemd und Seidenkrawatte, neben sich zwei Rollenkoffer, haelt den zerquetschten Regenwurm zwischen den Fingern, und weint. Er weint um den Regenwurm, weint vor Muedigkeit und Erschoepfung, weint vor Wut, dass er die Stoeckchen nicht gleich als Regenwuermer erkannt hat. Weint um seine Erinnerungen und seine Traeume und seine Gefuehle und die Pflastersteine und den Asphalt und die Leere in seinem Kopf und in seinem Herzen.
Als sich von hinten Schritte naehern, wirft er den toten Wurm ins Gras, trocknet hastig die Traenen, wischt sich den Rotz von der Nase, und tut so, als habe er sich gerade den Schuh gebunden. Dann packt er die beiden Koffer, und laeuft vorsichtig weiter durch die Nacht, in Richtung Parkhaus.