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Heimsuchung

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10.07.2007
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Heimsuchung

Ich habe mein Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht genau, wie lange es jetzt schon so geht, ich weiß nur, dass ich bald nicht mehr kann. Ich werde den Verstand verlieren, falls das nicht längst passiert ist. Ich habe nie daran geglaubt, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt. Jetzt weiß ich es besser. Claudia war immer die Klügere von uns beiden, und sie hat mir wieder mal gezeigt, dass ich mich geirrt habe.
Die meisten Leute halten Geschichten, in denen das Band zwischen zwei Liebenden über den Tod hinaus besteht, für romantisch. Aber das ist nicht romantisch. Es ist grauenhaft.

Das erste Mal passierte es am Tag nach der Beerdigung.
Da ging es mir wirklich dreckig. Wir sind weiß Gott kein Traumpaar gewesen, Claudia und ich, aber nachdem es passiert war, da wurde mir klar, dass ich sie geliebt habe. Ich war nie gut darin, es zu zeigen, aber wahrscheinlich war sie sogar der einzige Mensch, den ich je wirklich geliebt habe.
Ich vermisste sie so sehr, dass es schmerzte.
Es war kalt im Haus. Kälter konnte ein Grab auch nicht sein. Und einsam – ich hatte nicht gewusst, dass man sich so gottverdammt einsam fühlen kann.
Seit Tagen war es jetzt schon so, ich begann mich an das Elend zu gewöhnen. Ich hing nur herum, unfähig, das Haus zu verlassen, unfähig, irgendetwas zu unternehmen. Es gab nur noch einen einzigen Gedanken: Du hast einen Fehler gemacht, und nichts in der Welt kann ihn rückgängig machen. Jetzt hast du Claudia für immer verloren. Und es ist allein deine Schuld.
Ich konnte noch nicht einmal weinen.
An Schlaf war ebenfalls nicht zu denken. Doch wenn ich lange genug durch das Haus wanderte und an die alten Zeiten dachte, an unsere guten Zeiten, fiel ich nach und nach in einen Dämmerzustand, in dem ich mich weniger unglücklich fühlte.
Aber als ich dann das Geräusch hörte, war ich mit einem Schlag hellwach.
Die Tür. Natürlich hätte es der Wind sein können, aber ich war sicher, dass sie abgeschlossen gewesen war. Jemand war unten im Haus!
Ich hatte so lange keine Menschenseele mehr gesehen, mit niemandem mehr geredet ... Im Grunde war ich, seit es passiert war, nur damit beschäftigt gewesen, vor mich hin zu leiden und Claudia zu vermissen.
Wer konnte das sein? Ein Freund, sagte ich mir, irgendeiner unserer Freunde, der hier noch mal nach dem Rechten sehen wollte. Aber eigentlich wusste ich es schon besser. Ich hatte die Schritte gehört. Es waren Claudias Schritte. Sie hatte so eine besondere Art zu gehen.

Natürlich begriff ich es nicht. Niemand könnte das begreifen. Ich glaube, insgeheim gehen wir alle davon aus, dass nach dem Tod Schluss ist, selbst die Leute, die sich religiös geben. In Wirklichkeit würde niemand so etwas wahr haben wollen.
Ich verstand nicht, was vorging, und im Moment gab ich mir auch gar keine Mühe, es zu verstehen. Ich wusste nicht, wie das hier möglich war. Ich wusste nur, was es bedeutete.
Es klang seltsam hohl, verzerrt und weit entfernt. Ein Geräusch aus einer anderen Welt. Aber das Klappern ihrer Absätze hätte ich jederzeit erkannt. Sie war zurück!
Ich stürzte aus dem Zimmer. Für einen Augenblick hatte ich wirklich vergessen, was passiert war. Ich war sicher, alles würde wieder sein wie früher, wenn ich die Treppe herunter liefe, und alles würde wieder gut werden, wenn ich sie in die Arme nähme.
Dann begann das Weinen.
Es war leise, aber trotzdem nicht zu überhören. Und es machte mir unmissverständlich klar, dass nichts wieder gut werden würde.
Es klang unwirklich und hohl, genau wie die Schritte davor. Trotzdem war es das schlimmste Geräusch, das ich je gehört habe. Du kannst das nicht hören, dachte ich. Es ist unmöglich. Das muss ein Alptraum sein. Es muss einfach.
Aber ich wusste verdammt genau, dass es kein Alptraum war.
Das Weinen wurde lauter.
Ich wollte die Treppe hinunter, wirklich. Ich wollte nachsehen, ich wollte ihr irgendwie helfen ... Aber ich konnte dieses Geräusch einfach nicht ertragen. Es klang so verzweifelt, so hoffnungslos – so konnte nur ein Mensch klingen, der durch die Hölle ging. Und dieser Mensch war meine Claudia.
Aber ich war derjenige, der das Gefühl hatte, in Flammen zu stehen. Es war meine Schuld. Sie litt meinetwegen. Und meinetwegen war sie hierher zurückgekehrt, in das Haus wo es passiert war.
Anstatt die Treppe hinunter zu gehen, flüchtete ich ins hinterste Zimmer, um dem Weinen zu entkommen. Ich kauerte mich in eine Ecke, als müsste ich mich vor jemandem verstecken. Am liebsten hätte ich meinen Kopf unter eine Decke gesteckt, wie ein kleiner Junge, der sich nachts vor dem Monster unter seinem Bett fürchtet. Aber das hätte auch nichts geholfen. Das Weinen war im ganzen Haus zu hören. Es war überall.
Plötzlich wollte ich nur noch hier raus. Aber ich konnte mich nicht rühren. Um nichts in der Welt hätte ich da runter gekonnt, an dem Weinen vorbei.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber in Wahrheit waren es vielleicht nur ein paar Minuten. Jedenfalls ebbte das Schluchzen irgendwann ab. Die Stille danach war mir noch unheimlicher.
Ich hatte Angst, ohne zu wissen, warum eigentlich. Natürlich war das hier nicht rational zu erklären, und solche Dinge sind immer unheimlich. Natürlich sollte ich Claudia nicht hören können, natürlich sollte so etwas nach allem, was man zu wissen glaubte, nicht passieren. Aber sie würde mir ja schließlich trotz allem nichts tun können. Ich war nicht in Gefahr.
Trotzdem brauchte ich lange, um aus meiner Starre herauszufinden. Ich war gerade so weit, dass ich glaubte, ich könnte es wagen, das Zimmer zu verlassen, da krachte es unten.
Ich zuckte zusammen. Alles in mir strebte in die Ecke zurück ... aus irgendeinem Grund erschien sie mir sicher. Kurz darauf waren noch einmal Claudias Schritte zu hören, hohl und verzerrt wie zuvor. Und dann hörte ich die Tür ins Schloss fallen.
Ich blieb die ganze Nacht in meiner Ecke hocken. Als ich mich schließlich doch die Treppe herunter wagte, dämmerte der Morgen.

Ich sah sofort, warum es gekracht hatte. Das gerahmte Foto von uns beiden, das auf der Kommode gestanden hatte, lag am Boden. Überall glänzten Glassplitter.
Das war Claudia, dachte ich. Sie war wütend.
Mir war eiskalt. Ich wollte es aufheben, das Glas wegräumen. Aber ich konnte nicht.
Sie war wütend, als sie das Bild gesehen hat.
Auf dem Foto lächelten wir beide bescheuert und glücklich. Es war aufgenommen worden, bevor unsere Probleme begonnen hatten. Ich wandte den Blick ab und ließ mich aufs Sofa fallen. Sah in die andere Richtung, weg von dem Bild. Und gefror innerlich.
Dort gab es etwas viel Schlimmeres zu sehen.
Blut. Das Blut war wieder da.
Unsere Freunde hatten sich soviel Mühe gegeben, den Fleck weg zu bekommen. War eine verdammte Sauerei gewesen, aber sie hatten ganze Arbeit geleistet. Das Blut war nicht mehr zu sehen gewesen. Und ich war ziemlich sicher, dass, wenn in diesem Augenblick jemand anders hier gewesen wäre, der es auch nicht gesehen hätte. Ja, ich war vermutlich der einzige, der es sah. Claudias Besuch hatte es irgendwie zurückgebracht.
Ich hatte keine Tränen mehr, schon lange nicht mehr. Aber jetzt fing ich trotzdem an zu schluchzen. Natürlich hatte ich davon gehört, dass Selbstmörder im Jenseits irgendwie bestraft werden. Und natürlich hatte ich es für Schwachsinn gehalten, so wie jeder diesen Jenseitskram für Schwachsinn hält, außer den Leuten, die auch an Horoskope und Erich von Däniken glauben. Aber nachdem ich Claudias Weinen gehört hatte, und nachdem ich das Blut hier vor mir sah, blieb mir nichts anderes übrig, als daran zu glauben.
Das ist ein Alptraum. Ein einziger, verdammt langer Alptraum. Wenn ich aufwache, wird alles wieder okay sein. Es wird alles wieder gut. Das ist alles nie passiert.
Am Anfang hatte ich das wirklich noch geglaubt. Inzwischen half der Gedanke nicht mehr, denn mittlerweile wusste ich, dass ich nie aufwachen würde. Nein, ich hatte es wirklich getan, nein, ich hatte Claudia wirklich gehört, und nein, das Blut war wirklich da. Kein Alptraum. Und kein Erwachen.

Dieser Doktor Meinert, zu dem wir schließlich zusammen hingegangen sind, war ein wirklich netter Kerl. Immer sehr verständnisvoll. Sogar wenn er fragte: Warum nehmen Sie denn Ihre Tabletten nicht?, war er nett und verständnisvoll. Es war nicht seine Schuld, dass die Therapie nicht gut gelaufen ist. Ich habe ihn gemocht. Er wollte wirklich helfen.
Aber ich würde ihm niemals erzählen können, wie ich Claudia weinen gehört hatte. Auch wenn er immer zu uns gesagt hatte: Sie können mit mir über alles reden.
Nur darüber würde ich nicht mit ihm reden können. Ich glaube, bei Geistern endete selbst sein Verständnis. Dagegen würde er mir nicht helfen können, nicht mit allen Tabletten der Welt. Denn das hier war keine Wahnvorstellung. Ich wusste, dass es wirklich passiert war, dass Claudia dort unten wirklich geweint hatte. Und ich wusste, dass es meine Schuld war.
Ich konnte mit niemandem darüber reden. Konnte es keinem von meinen Freunden erzählen. Ich fragte mich, wie sie reagieren würden, wenn ich ihnen erzählen würde, wie Claudia mich besucht hatte. Dass ich von Claudia heimgesucht wurde.
Keiner von denen ist irgendwie religiös. Die würden das nie im Leben glauben.
Und selbst wenn ich religiöse Freunde hätte ... Hätte sich etwas geändert, wenn ich bei denen aufgetaucht wäre?
Hey Leute, wisst ihr was? Selbstmörder werden wirklich bestraft. Ich weiß es, denn ich habe meine Freundin in unserem alten Haus weinen gehört ... und mich dabei vor lauter Angst und Schuldgefühlen in einer gottverdammten Ecke verkrochen. Und das Blut auf dem Boden ist wieder da ... Könnt ihr da nicht irgendwas machen? Einen Exorzismus vielleicht?
Es war sinnlos, darüber nachzudenken. Ich konnte es niemandem erzählen.

Am zweiten Tag nach der Beerdigung passierte es wieder. Sie kam zurück.
Ich versuchte, rational zu denken. Das ist mir noch nie besonders leicht gefallen, aber ich versuchte es wirklich.
Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Ich hatte tausend Gründe, traurig und verzweifelt zu sein, aber Angst war jetzt wirklich unnötig.
Ich hätte mir mehr Sorgen machen sollen, als noch nicht alles zu spät war ... Claudias Vater hat geahnt, dass mit uns alles schief gehen würde, glaube ich. Er hat mal zu mir gesagt, wenn ich seiner kleinen Tochter jemals wehtun sollte, würde er mir die Eier abreißen. Das hätte mir Angst machen sollen, damals, bevor es zu spät war.
Aber als ich ihr dann wirklich wehgetan hatte, da hat er natürlich nichts gemacht. Am Tag der Beerdigung hat er genauso dämlich herumgestanden wie alle anderen auch. Er hat nicht mal was zu mir gesagt, zumindest erinnere ich mich nicht daran.
Nein, es gab keinen Grund mehr, Angst zu haben. Das Schlimmste war schon geschehen.
Trotzdem konnte ich nicht runtergehen, als das Weinen wieder anfing. Es war immer Claudia gewesen, an der ich mich festgehalten hatte, wenn etwas Schreckliches passierte. Es war immer sie, die mir über dunkle Zeiten hinweg geholfen hat.
Jetzt konnte mir niemand mehr helfen.
Ich versteckte mich in derselben Ecke, zitternd, nicht in der Lage, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich musste an all die bescheuerten Geistergeschichten denken, die ich als Kind gelesen oder später bei „Akte X“ gesehen hatte. Wie lange dauerte es wohl, bis man von so etwas wahnsinnig wurde?
Wenn ich es doch nur irgendwie wieder gut machen könnte. Wenn ich ihr sagen könnte, wie leid es mir tut.
Ich wäre wirklich gern nach unten gegangen, um mit ihr zu reden. Aber soweit ich weiß, braucht man dafür ein Medium oder so. Außerdem hatte ich eine Scheißangst – ich wusste, dass das dumm war, aber ich kam nicht dagegen an. Ich rührte mich nicht, wie beim ersten Mal, solange, bis unten nichts mehr zu hören war. Dann beeilte ich mich, nach Spuren von ihr zu suchen.
Das Bild und die Glassplitter waren längst weggeräumt, aber das Blut war noch immer da. Da war nichts zu machen. Wie beim beschissenen Gespenst von Canterville, dachte ich. Mit dem Unterschied, dass ich der einzige war, der es sehen konnte.
Geisterblut.

Es geschah seitdem fast jeden Tag.
Ich konnte mich durch nichts ablenken. Nicht lesen, nicht fernsehen, nicht schlafen, nicht essen. Ich wanderte nur noch durch das Haus und wartete, ob Claudia wiederkommen würde. Ob sie wieder weinen würde. Und sie kam wieder.
Wieder und wieder und wieder.
Und sie weinte jedes Mal. Herzzerreißend. Ich fand nie wieder Dinge, die sie kaputt gemacht hatte, nachdem das Bild verschwunden war, aber ich konnte fühlen, dass sie wütend auf mich war, und dass sie litt.
Ich wünschte mir, tot zu sein ... Nein. Ich wusste ja jetzt, dass es etwas danach gab. Ich wünschte mir, nicht mehr zu existieren.
Ich wollte ihr nicht gegenüber treten.
Ich hatte ihr so wehgetan ... Es war nie leicht gewesen, mit mir zusammenzuleben. Ich liebte sie, aber ich war nie ein einfacher Mensch. Selbst als ich Doktor Meinerts Tabletten noch genommen habe. Aber sie hatte immer Verständnis. Für alles, bis auf diese letzte Sache. Das hat sie nicht verkraftet.
Nein, ich wollte ihr nicht gegenübertreten. Als ich eines Tages schließlich doch nach unten ging, trieb mich die pure Verzweiflung.
Ich hatte einige Nächte mit dem Gedanken an dumme Geschichten verbracht, in denen Geister den Kontakt zu Lebenden suchen, weil sie erlöst werden wollen. Weil die Lebenden ihnen helfen sollten, ihren Frieden zu finden.
Ich hatte solche Geschichten immer für Schwachsinn gehalten und keine Ahnung, wie so etwas funktionieren sollte. Aber ich wusste inzwischen, dass Geschichten über die Existenz von Geistern kein Schwachsinn waren. Vielleicht war ja auch an der Sache mit der Erlösung etwas dran? Wenn ich den Mut aufbrächte, dort runter zu gehen, dorthin, wo das Weinen herkam, dann müsste ich es vielleicht nie wieder ertragen.
Die Angst versuchte, mich zu lähmen, wie jedes Mal bisher, aber ich schaffte es. Ich kam die Treppe herunter. Das Weinen war noch immer so schmerzhaft wie an dem Tag, als ich es das erste Mal gehört hatte, aber ich war fest entschlossen.
Claudia saß auf dem Sofa, den Kopf in die Hände gestützt. Obwohl ich genau in ihrem Blickfeld stand, starrte sie durch mich hindurch. Sie war sehr blass, und ihre wunderschönen Haare, die ich so geliebt hatte, hingen ihr wirr und strähnig ins Gesicht. Und irgendwie war sie ... ein wenig verzerrt. Wie wenn ein Fernseher schlechten Empfang hat. Ich kann es nicht besser beschreiben.
Das letzte Mal hatte ich sie bei der Trauerfeier gesehen. Da war ihr Gesicht so starr wie eine Maske gewesen, hatte kaum Ähnlichkeit mit der Frau gehabt, die ich kannte. Jetzt sah sie wieder aus wie sie selbst, aber ihr Gesicht war so unglaublich traurig. Ich hatte noch nie jemanden so verzweifelt gesehen. Mich selbst hatte ich seit Wochen nicht mehr im Spiegel angeschaut.
Jetzt hatte ich keine Angst mehr, ich hatte nur noch den Wunsch, sie irgendwie zu trösten.
Sie schien mich nicht zu sehen. Irgendwie machte es das leichter. Ich ging auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Das heißt, ich versuchte es. Meine Finger glitten durch ihren Körper hindurch wie durch Luft.
Trotzdem richtete sie sich in diesem Moment ruckartig auf, und ich zuckte zurück. Sie starrte in meine Richtung, und für einen Augenblick war ich überzeugt, sie würde mich doch wahrnehmen.
„Wie konntest du mir das antun?“, sagte sie. Es war das erste Mal, dass ich sie wieder etwas sagen hörte. Die Worte waren zweifellos an mich gerichtet, aber sie sprach sie zu der Wand hinter mir. Trotzdem war ich maßlos erschrocken.
„Du hattest kein Recht dazu!“, brachte sie hervor. Sie schien gleich wieder in Weinen ausbrechen zu wollen. Ich wich zurück. „Du egoistischer Scheißkerl!“
Jedes Wort tat mir weh. Weil sie Recht hatte. Ich war ein egoistischer Scheißkerl gewesen. Ja sicher, ich war krank. Aber für das, was ich Claudia angetan hatte, gab es einfach keine Entschuldigung. Psychische Probleme können nicht alles rechtfertigen. Wenn ich nur die verdammten Tabletten genommen und mich etwas zusammengerissen hätte ... wenn ich ihr nicht immerzu diese dämlichen Vorwürfe gemacht hätte ... Wenn ich auf den Doktor gehörte hätte, oder überhaupt auf irgendeinen vernünftigen Menschen ...
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte Claudia die Wand. Und dann fing das Weinen wieder an.
Ich floh so schnell, dass ich kaum mitbekam, wie ich wieder nach oben gelangte. Das Weinen von unten hörte ich natürlich trotzdem.

Wir hätten uns trennen sollen, bevor es zu spät war.
Aber das hat Claudia nicht übers Herz gebracht. Sie war immer zu gut für diese Welt.
„Wir brauchen eine Weile Abstand voneinander.“, hat sie gesagt. „Ich brauche Zeit für mich, um nachzudenken.“
Danach ist sie weggefahren. Sie hat mir nicht gesagt, wohin, oder wie ich sie erreichen könnte. Mindestens vier Wochen, hatte sie gesagt.
Dann wurden immer mehr Wochen daraus. Ich war sicher, sie würde mich verlassen und hätte einen anderen. Ich tat mir selbst so unendlich leid. Dass sie vielleicht auch Probleme hatte, dass es überhaupt möglich sein könnte, dass auch noch jemand anderes unglücklich war als ich selbst – diese Idee ist mir nie gekommen. Ja, verdammt, ich war ein egoistischer Scheißkerl.
Irgendwann zwischen der sechsten und der achten Woche ohne Claudia war ich mir sicher, sie würde nie mehr zu mir zurückkommen. Und da kam ich dann auf die großartige Idee, es ihr heimzuzahlen. Es ihr so richtig zu zeigen. Es ihr so zu geben, dass sie für den Rest ihres Lebens dran zu knabbern hätte. Dass sie nie wieder glücklich werden könnte.

Ich glaube, irgendwann in dieser von Alkohol und Selbstmitleid geschwängerten Phase hatte ich auch den Gedanken, wenn es danach wirklich etwas geben sollte, dann könnte ich Claudia als ruheloser, rachsüchtiger Geist besuchen und ihr das Leben zur Hölle machen.
Wenn das keine Ironie ist.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir an dem Abend wirklich dabei gedacht habe. Ich war zu betrunken, um noch viel nachzudenken. Ganz zu schweigen von den Schlaftabletten, die ich außerdem genommen hatte. Ich glaube, ich hatte irgendwie gehofft, sie würde aus schlechtem Gewissen eine Romeo-und-Julia-Nummer abziehen und mir nachfolgen.
Aber das hat sie natürlich nicht getan. Sie war ja immer klüger als ich.
Sie kommt immer noch fast jeden Tag hierher. Vielleicht hat ihr jemand gesagt, sie könnte es so besser verarbeiten. Vielleicht glaubt sie auch, es auf diese Weise irgendwann verstehen zu können. Sie sitzt immer auf dem Sofa und starrt auf die Stelle, an der ich gelegen habe, nachdem ich mir die Pulsadern geöffnet hatte, um ganz sicher zu gehen. Sie kann das Blut nicht sehen, aber ich bin sicher, dass es ihretwegen wieder da ist.
Dabei weint sie jedes Mal und fragt sich, wie ich ihr das antun konnte.
Und ich, ich höre sie jedes Mal. Gedämpft, wie alle Geräusche aus der Welt der Lebenden, aber trotzdem kann ich es kaum ertragen. Wenn ich es schaffe, in ihre Nähe zu gehen, dann sehe ich sie auch, obwohl sie immer noch irgendwie verzerrt aussieht. Es muss daran liegen, dass wir in unterschiedlichen Dimensionen oder so was existieren. Ich habe keine Ahnung davon, ich habe diese Geschichten ja nie für voll genommen, bevor ich selbst davon betroffen wurde.
Ich weiß nur, es ist furchtbar, sie so zu sehen. Diese Schuldgefühle sind schlimmer als Sterben. Und ich weiß, wovon ich rede.
Ich bin sicher, dass sie nichts von mir weiß. Vielleicht spürt sie, dass irgendwas hier ist. Vielleicht erschrickt sie deshalb so leicht, wenn ich in der Nähe bin. Aber bestimmt hat sie keine Ahnung davon, dass ich das Haus, in dem ich gestorben bin, nie verlassen habe. Es nicht verlassen kann.
Sie hat keine Ahnung, wie es für mich ist, wenn sie hierher kommt. Sie glaubt wahrscheinlich auch nicht daran, dass Selbstmörder im Jenseits bestraft werden.
Ich kann nur hoffen, dass sie mir irgendwann vergibt. Dass sie mich vergisst und nicht mehr hierher kommt. Dann wird die Heimsuchung ein Ende finden.
Und ich vielleicht meinen Frieden.

 

ICH HABE ES GETAN!!! Oh mein Gott, ich habe es getan: Ich habe Fischs ersten Kommentarsatz gelesen, BEVOR ich deine Geschichte angefangen habe. Mist!:bonk:

Hi Perdita.

Ich liebe ja solche Geschichten. "The sixth sense" und "The others" lassen grüßen :)
Also nehmen wir mal an, ich hätte nicht schon vorm Lesen gewusst, wie es ausgeht, dann wäre ich doch arg überrascht gewesen; denn du hast wirklich geschickt den Leser auf eine falsche Fährte geführt. Kompliment.
Stellenweise waren mir einige Reflexionen des Prot doch ein wenig zuuu ausführlich (aber vielleicht lag es auch daran, dass ich den ersten Satz von Fischs... ach, lassen wir das)

Fazit: Trotz dieser wenig bis gar nicht konstruktiven Kritik, hat mir deine Geschichte doch sehr gut gefallen; sie lies sich in einem Wusch durchlesen, was ich durchaus auf deinen bildlichen Stil zurückführe. Habs nicht bereut ;)

Gruß! Salem

 

Hallo Salem!

Auch dir vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

ICH HABE ES GETAN!!! Oh mein Gott, ich habe es getan: Ich habe Fischs ersten Kommentarsatz gelesen, BEVOR ich deine Geschichte angefangen habe. Mist!

Darf ich da jetzt mal schadenfroh sagen, dass man halt nicht zuerst zu den Kommentaren runterscrollen sollte? :)
Nein, es tut mir natürlich leid, dass du dadurch um den Überraschungseffekt gekommen bist, und bin umso erfreuter (und stolzer :)), dass dir die Geschichte trotzdem gefallen hat.

Stellenweise waren mir einige Reflexionen des Prot doch ein wenig zuuu ausführlich

Ja. Ich weiß. Ich muss diese Geschichte kürzen! Ich tu's auch ganz bestimmt irgendwann :Pfeif: :D

Grüße von Perdita

 

Hallo Perdita,

vielleicht wäre es sinnvoll zumindest den ersten hundert Kritikern einer Geschichte so Sachen wie "geile Pointe" oder "ich habs nicht kommen sehen" zu verbieten. Die Kommentare nicht mindestens anzulesen is schon nich so einfach.

Ich war also durchgehend auf etwas gefasst, das der typischen Geistergeschichte widersprach, hab meine eigenen Ideen dazu gehabt und bekam von dir im Endeffekt doch noch etwas serviert, das mich überraschte, da du es wirklich gut verstehst einen auf seiner Suche nach der Lösung auf falsche Fährten zu locken, die, wenn man sie sich nacher nochmal anschaut eigentlich ganz offensichtich sein könnten.
Zudem war sie sehr angenehm zu lesen und gab die Stimmung gut wieder in der sich dein Protagonist befand.

Ich bin nicht oft gestolpert,

Doch wenn ich lange genug durch das alte Haus wanderte und an die alten Zeiten dachte,
aber das ist mir etwas zu alt.

Für mich als Grusellaien durchaus lesenswert

Beste Grüße
krilliam

 

Hi krilliam,

vielen Dank für's Lesen und Gutfinden. Schön dass es dich überraschen konnte.

vielleicht wäre es sinnvoll zumindest den ersten hundert Kritikern einer Geschichte so Sachen wie "geile Pointe" oder "ich habs nicht kommen sehen" zu verbieten.

Nix da, keine Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung! :) Vielleicht sollten die Kommentare erst auf der zweiten Seite stehen oder so ... ich habe aber keine Ahnung, ob das webdesigntechnisch möglich ist.

aber das ist mir etwas zu alt.

Da hast du völlig recht, das beweist wieder mal, dass man Adjektive wirklich jäten muss wie Unkraut :shy:. Ich nehme das erste "alt" raus, das ist ziemlich überflüssig.

Grüße von Perdita

 

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