Heimtückisch erzwungener Besuch
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er die Treppe hoch. Seit seiner Kindheit hatte er dieses Haus nicht mehr betreten. Im oberen Stockwerk hielt er kurz inne, um auszuatmen, dann öffnete er langsam die Tür seines damaligen Zimmers. Der Rollladen war heruntergelassen und der Raum recht dunkel. Zielsicher griff seine Hand zum Lichtschalter.
Er konnte kaum fassen, was er sah. Das Zimmer war unverändert, es sah noch genau so aus, wie vor mehr als 20 Jahren, seit er das letzte Mal darin geschlafen hatte. Alles, was er damals zurückgelassen hatte, war noch da. Das Bett immer noch bezogen und durchwühlt von seiner letzten Nacht, eine halbleere Flasche mit grünbläulich verschimmelter Limonade stand unberührt auf seinem Schreibpult. Daneben lag eine angebrochene Tafel Schokolade, weißgrau verfärbt. Alles in diesem Raum war von einer dicken Staubschicht überzogen. Es roch muffig.
Lars ging zum Fenster und versuchte, es zu öffnen. Es klemmte. Im Laufe der Jahre hatte sich wohl der Rahmen verzogen. Auch den Rollladen konnte er nur mit Mühe hoch ziehen. Trübes Licht fiel jetzt durch die verstaubten Scheiben. Hier, an diesem Ort war es damals geschehen! Hier hatte sich sein Leben von einer Minute auf die andere grundlegend verändert. Lars schaute auf den Boden und tatsächlich, da lag es noch, das Messer. Genau an der Stelle, wo er es als Neunjähriger hingeworfen hatte. Herausgezogen aus Mutters rechter Schulter. Daneben hatte sein Vater gestanden, mit entrücktem Blick und schlaff herabhängenden Armen und hatte wirr von einer roten Feuerschlange geredet, die er gerade getötet hätte.
Schwer verletzt war sie nicht gewesen, seine Mutter, damals. Zumindest nicht körperlich. Sie hatte ihn am Arm gepackt und die Treppe hinuntergezogen und raus auf die Straße. Und dann waren sie zunächst bei seiner Tante untergekommen. Später zogen sie in eine eigene Wohnung in einer anderen Stadt. Anzeige hatte seine Mutter nicht erstattet, war aber danach nicht mehr zu ihm zurückgekehrt. Und einige Monate später erfolgte die Scheidung. Vor etlichen Jahren, hatte Lars von Bekannten seines Vaters erfahren, dass dieser sich gleich nach der Scheidung einer stationären Behandlung seiner Drogensucht unterzogen hatte und seither zurückgezogen immer noch in diesem Haus lebte.
Kontakt hatte es zwischen Lars und seinem Vater seitdem nicht mehr gegeben, bis vor vier Monaten, als der Brief kam. Sein Vater schilderte ausführlich und in wohl überlegten Worten, was aus seiner Sicht damals geschehen war. Er beschönigte nichts und schrieb hierfür ausschließlich sich selbst Schuld zu. Am Ende des Briefes bat er um Verzeihung. Und fügte hinzu, wie sehr er sich einen Besuch seines Sohnes wünschte.
Zwei lange Wochen hatte Lars nachgedacht, den Brief wieder und wieder gelesen und sich dann entschlossen, seinen Vater nicht aufzusuchen.
Und dann bekam er vor 10 Tagen das Einschreiben eines Notars, worin er gebeten wurde, sich wegen einer Nachlasssache umgehend mit der Kanzlei in Verbindung zu setzen.
Sein Vater hatte sich im Keller seines Hauses erhängt und Lars war zum Erben geworden und musste sich um die Beisetzung kümmern.
Zur Bestattung des Vaters, war außer dem bestellten freireligiösen Redner, und vier Friedhofsmitarbeitern, niemand erschienen. Das Beisetzungszeremoniell ging dementsprechend schnell und war schon nach wenigen Minuten beendet.
Und jetzt stand Lars in seinem ehemaligen Kinderzimmer und sein Vater war tot. Er war, nachdem er das Haus betreten hatte, durch den Flur in die Küche gegangen und anschließend in den Raum, der früher das Wohnzimmer gewesen war. Hier hatte er sich lange umgeschaut und seine Gedanken waren abgeglitten in eine nebulöse Zeit seiner Kindheit, bis ein seltsames Geräusch, dessen Herkunft er nicht zuordnen konnte, ihn zurück in die Gegenwart brachte. Alles, was er gesehen hatte, war ihm fremd. Die Einrichtung der Räume war komplett neu. Nichts erinnerte an damals. Umso erstaunter war er jetzt, sein Zimmer unverändert vorzufinden. Alles sah danach aus, dass es seit zwanzig Jahren von niemandem mehr betreten worden war. Die Fußabdrücke im Staub waren seine eigenen.
Beklemmung machte sich breit. Lars Brustkorb zog sich zusammen, er glaubte, nicht mehr atmen zu können. Wie ein Metallkorsett hatte der Raum seinen Körper ergriffen und schnürte ihn ein. Er musste raus. Erst als er die Treppe hinter sich gebracht und den engen Flur erreicht hatte, löste sich die Verkrampfung von seiner Brust und sein Atem normalisierte sich. Er wartete einen Moment, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann sah er, dass die Kellertür einen Spalt offen stand. Er öffnete sie. Im Keller brannte Licht. „Ist da jemand?“, rief er mit zitternder Stimme. Niemand antwortete. Mit rasendem Herzen ging er langsam die Treppe hinunter und sah ihn sofort. Ein kunstvoller Knoten umschlang seinen Hals, sein verzerrtes Gesicht war Richtung Treppe gerichtet und aus dem Mund des Mannes quoll eine blaue, dick geschwollene Zunge. Eigenartigerweise erschrak Lars nicht übermäßig. Er betrachtete den Erhängten eher interessiert, fast, als ob er genau das erwartet hätte. Nur eine einzige Frage kam ihm in den Sinn: Wer war dieser Mann? In diesem Moment zuckte der Körper. Und erst jetzt durchfuhr Lars ein jäher Schreck. Er stieß einen Schrei aus und sprang gleichzeitig einen Schritt zurück. Der Mann schien noch zu leben. Lars begann zu zittern, sein Herz raste, erneut spürte er diesen Druck im Brustkorb und einen stechenden Schmerz im Magen. Seine Därme zogen sich zusammen und er musste unkontrolliert furzen. Einem Fluchtreflex gehorchend, sprang er die Kellertreppe einige Stufen nach oben. Doch dann hielt er inne. Wenn der Mann noch lebte, schoss es ihm durch den Kopf, dann musste er was tun. Und zwar schnell!
Lars drehte um und packte den Erhängten an den Beinen. Er spürte Körperwärme, was ihn erneut erschrecken lies. Er versuchte ihn anzuheben. Kurz gelang ihm das auch, doch schnell wurde ihm das Gewicht zu schwer und er musste ihn loslassen. Lautlos sackte der schlaffe Körper des Mannes nach unten. Lars sah die umgestoßene Leiter am Boden liegen. Er stellte sie auf und machte einen erneuten Versuch, den leblosen Körper nun von der Leiter aus, so weit anzuheben, dass er die Schlinge über den Kopf des Mannes ziehen konnte. Ein unsinniger Versuch. Lars fehlte die nötige Kraft. Er sprang von der Leiter und rannte die Treppe hoch in die Küche. Dort fand er ein Messer, rannte zurück und säbelte den Strick durch. Schwer klatschten die Füße des Mannes auf den Steinboden und der tote Körper fiel wie eine Puppe zur Seite und landete auf dem Rücken. Lars schaute ihm ins Gesicht. Die Augen waren halb geöffnet und nur noch die Zungenspitze schaute zwischen den Lippen hervor. Lars erkannte ihn. Es war sein niederträchtiger Vater…