Hellblaue Scheiße
Hellblaue Scheiße! Ich weiß ja, dass ich langsam alt werde. Treppen steigen und Sex gehen nicht mehr so gut. Aber hellblaue Scheiße?
Wenn ich bloß diese Doktorklaue entziffern könnte.
Sie verstehen nicht, wovon ich rede?
Ich werde es Ihnen erklären. Es geht um ein Stück Papier, das auf meinem Tisch liegt. Direkt vor mir. Ja, genau hier. Es hat die ganze Fläche für sich allein, alles andere habe ich weggeräumt. Da liegt nur noch diese Überweisung.
Diese verdammte Doktorklaue!
»Ich überweise Sie zum Facharzt«, hat er gesagt. Er hat dabei meinen Blick gemieden. So schlimm ist es also. Er musste sich mühsam zurückhalten, nicht in Schweiß auszubrechen und zu sagen: »Oh, guter Mann, das sieht aber wirklich schlecht aus.«
Dabei weiß ich selbst, wie es aussieht. Der Tod ist in diesem Raum.
Hellblaue Scheiße! Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, direkt da vorne, in meiner Kloschüssel, würde ich mich für verrückt erklären. Wahrnehmungsstörungen, ab in die Klapse!
Seitdem war ich nicht mehr auf dem Klo. Ich will nicht wieder hellblau scheißen.
»Einen schönen Tag noch«, hat die Sprechstundenhilfe gesagt. Die wusste natürlich von nichts. Also hab ich nur »Sie mich auch« gemurmelt. Unten auf der Straße habe ich dann zum ersten Mal dieses Überweisungsformular genauer in Augenschein genommen. Ein Feld ist beschriftet mit »Grund für die Überweisung«. Aber was hat mein Hausarzt da nur eingetragen?
Es könnte genausogut »bösartiger Darmtumor, hoffnungslos« heißen wie »medizinischer Sonderfall, Organspende«.
Ich traue meinem Facharzt nicht. Er wird mich direkt da behalten. Oder ins Krankenhaus schicken. Da liege ich dann auf dem Gang, sie nehmen mir versehentlich die Mandeln raus (»Entschuldigen Sie, ein kleiner Kunstfehler, wollen Sie sie zurück?«), bevor ich eines Nachts auf der Intensivstation entschlafe und im Keller eingeäschert werde. Der Friedhof ist direkt nebenan, auf einem kleinen Hügel. Die Aussicht da oben ist übrigens wunderschön, wussten Sie das? Ich war ab und zu mit Camilla da, bevor ...
Andererseits: Wenn ich nicht endlich hin gehe, wird alles noch schlimmer. »Ja, wenn sie vor ein paar Tagen gekommen wären, hätten wir Ihnen noch helfen können ...«
Der Fernseher läuft. Ich schalte auf einen anderen Sender. Eine Talkshow. Ich höre nicht zu. Dann Werbung. Dann Tagesschau. Tagesschau? Ich muss eingeschlafen sein.
Ich reibe mir die Augen. Im Sessel neben dem Glastisch sitzt wieder der Engel.
»Du schon wieder«, entfährt es mir.
Er nickt. Er sieht mich immer so scheiß freundlich an.
»Willst, dass ich zum Arzt gehe«, sage ich, während ich mir eine Zigarette anzünde.
»Keineswegs«, wehrt der Engel ab, »ich würde dich nie beeinflussen wollen. Ich bin nur dazu da, um auf dich aufzupassen.«
»Du kommt immer erst, wenn es zu spät ist.«
»Ich tue was ich kann, um pünktlich zu sein. Was immer es ist, in das du dich wieder reinreitest.«
Mein Bauch schmerzt. Ich ziehe an meiner Zigarette. Muss eine Tablette nehmen. Vorsichtig stehe ich auf, verziehe dabei wohl das Gesicht.
»Stimmt natürlich«, sagt der Engel, »dass unsereins manchmal zu spät kommt.« Dabei sieht er mitfühlend zum Fußboden. »Aber wir tun, was wir können. Ist schließlich unser Job.«
»Ein Scheißjob«, fluche ich. Die Schachtel Ibuprofen ist fast leer. Ich nehme zwei und schlucke. Zum Wasserhahn schaffe ich es nicht.
»Ich hab ihn mir nicht ausgesucht«, plaudert der Kerl in meinem Sessel, »man wird als Engel geboren, weißt du.«
»Du willst, dass ich zum Arzt gehe«, wiederhole ich. Wanke zurück zum Sofa.
»Eine Option, die zu bedenken wäre«, meint der Engel vorsichtig und legt die Fingerspitzen aneinander.
»Dann sagt er mir, dass ich noch zwei Wochen zu leben habe, weil ich nicht eher gekommen bin.«
»Möglicherweise«, nickt der Engel. »Vielleicht solltest du schonmal deinen Nachlass regeln.«
»Ich hab doch nichts«, sage ich, »ist doch alles kaputt.« Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Kaputte Möbel, kaputtes Leben. Es stinkt. Ich drücke die Zigarette aus.
»Dein Fernseher geht noch«, sagt der Engel.
Ich werfe den Aschenbecher in seine Richtung. Aber er ist geschickt, dieser Mistkerl. Er fängt ihn einfach und stellt ihn auf den Tisch. »Ich denke, ich komme besser morgen wieder.«
»Wie jeden Tag. Oder wann immer ich dich brauche, ich weiß.«
»Stets zu Diensten«, sagt der Engel und deutet eine Verbeugung an.
Dann ist er weg. Da ist nur noch der leere Sessel neben dem Glastisch neben Camilla.
Die Bauchschmerzen lassen langsam nach. Gute Medizin.
Mitten auf dem Tisch liegt das Überweisungsformular. Diese Doktorklaue!
Chirurgischer Eingriff unmöglich?
Amputation dringend empfohlen?
Impotenz nicht ausgeschlossen?
Ich kreise um den Tisch wie Geier um das Aas. Das Aas! Du bist das Aas.
Wir sind die Geier, die dir das Fleisch von den Knochen reißen. Das stinkende, faulende Fleisch. Alles fressen wir auf. Auch das Fett und die Innereien. Gestern hatte ich deine Leber. Leber magst du nicht, liebste Camilla, oder? Schade, dass du nicht von deiner eigenen probieren kannst. Die würde dir sicher vorzüglich schmecken. Du hast dich ja immer selbst am meisten gemocht.
Die Bauchschmerzen sind fast völlig weg. Ich könnte mal wieder was essen.
8.11.2004