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Heraus gerissen

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12.01.2007
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Heraus gerissen

Kurz nach Mitternacht waren wir auf unserer Kneipentour wieder in meiner Straße gelandet. Das war mir ganz recht, denn ich hatte nicht vor, noch allzu lang unterwegs zu sein. Aber wie es so kommt: Wir tratschten uns fest, lernten ein paar witzige Typen kennen, und das Bier schmeckte immer leckerer. Irgendwann wollte der Barkeeper zu unserer Überraschung die Bar dicht machen. Wir schnappten uns jeder noch eine Flasche und setzen uns klönend auf den Bürgersteig. Es dämmerte bereits, als ich endlich ins Bett kam.

Ich erwachte mit leichten Kopfschmerzen. Eine drückende Hitze im Schlafzimmer, das Laken am Boden. Unwilliger Blick zur Uhr: Bereits kurz vor zwölf. Unwillig und mürrisch arbeite ich mich aus den Federn, um noch irgendwie rechtzeitig zum Brunch zu kommen, zu dem ich verabredet war. Ich schlich mich ins Bad, suchte mir eine Kopfschmerztablette, schluckte sie mit etwas Wasser herunter und versuchte dabei, meinem zerknautschten Gesicht im Spiegel aus dem Weg zu gehen. Während ich mich frisch machte, überlegte ich, ob ich nicht doch irgendwie elegant absagen konnte, um noch ein paar Stunden auszuspannen. Andererseits würde es mir ganz gut tun, etwas frische Luft zu schnappen. Ich schaute nach draußen: Wolkenloser Himmel. Der Tag erschien mir zu kostbar, um ihn völlig zu verdösen.

Als ich mich auf den Weg machte, war ich bereits ziemlich knapp dran. Ich eilte die Treppe hinunter, sprang auf mein Rad und fuhr die paar Straßenzüge hinunter zu dem Café, in dem wir uns verabredet hatten. Auf der Terrasse waren alle Stühle bereits belegt. Ein Blick auf die Uhr - Tobias war offenbar noch später dran als ich. So saß ich dann vor der Terrasse auf einem Bollerstein, der eine Einfahrt versperrte, und wartete auf einen freien Tisch. Nach einer Viertelstunde rief ich leicht entnervt bei Tobias an. Der ließ sein Handy klingeln und meldete sich erst nach einer halben Ewigkeit.

„Moin.“ Seine Stimme klang verschlafen. Sehr verschlafen.

„Morgen Tobias. Ich bin schon beim Brunch, wo steckst Du denn?“

„Ey sorry, total verschwitzt, Mann.“ Er stöhnte müde. „Habe ich echt total vergessen, waren gestern noch aus und sind erst spät heim gekommen.“

„Mir ging's ähnlich“, antwortete ich grantig. „Was ist jetzt, kommst du noch nach?“

Ich hörte durch das Telefon die Stimme einer Frau. Tobias war offenbar nicht allein.

„Lass mal gut sein“, sagte ich dann, bevor er sich äußern konnte. „Wir telefonieren nachher, okay?“

„Ja, tut mir echt leid, Mann. Ich rufe nachher mal durch.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, nahm dann an einem nur dünn besetzten Tisch Platz und frühstückte allein.

Als ich wieder zuhause ankam, fühlte ich mich müde und bettreif. Ich beschloss, mich für ein paar Stunden hinzulegen. Ich schielte auf die Uhr - es war knapp drei. Ich könnte mich noch für zwei Stunden hinlegen, und würde es noch bequem zu dem Meditationsabend schaffen, den ich später besuchen wollte. Den hatte ich vor ein paar Wochen entdeckt, mein Anker der Stille im Treiben der Großstadt.

Der Empfang dort war allerdings weniger einladend als erwartet: „Tut mir leid, aber wir sind völlig ausgebucht!“

„Ausgebucht? Aber ich war doch die letzten Samstage auch immer hier?“

„Wir hatten letzte Woche eine Anzeige geschaltet, dadurch sind diesmal ziemlich viele neue Leute gekommen. Am besten kommst du nächste Woche einfach ein bisschen früher.“

Enttäuschung stieg in mir auf – nicht nur, weil es mir schwer fiel, mir allein zuhause regelmäßig die Zeit zum Meditieren zu nehmen. Dieser Workshop war auch das einzig Nennenswerte, was ich heute überhaupt vorgehabt hatte - von dem Brunch mit Tobias mal abgesehen, der ebenfalls ins Wasser gefallen war.

„Sicher? Gibt's nicht noch Platz hinter dem Raumteiler?“

Die graumelierte Dame wurde langsam ungeduldig. „Ganz sicher!“, lächelte sie mich an.

Schmollend zog ich von dannen, und auch die Tatsache, dass andere Interessierte ebenfalls unverrichteter Dinge wieder gehen mussten, milderte das Empfinden einer persönlichen Abweisung nicht. Missmutig zog ich wieder zurück nach Hause.

Es war ein lauer Sommerabend, das Leben hatte sich auf die Straße verlagert. Cafés und Restaurants hatten provisorische Terrassen auf den Gehwegen angelegt. Ich sah die Leute in Paaren und Gruppen zusammensitzen. Die angeregten Gespräche, die mein Ohr aufschnappte, waren wie ein schmerzhafter Stich in meine Brust. Ich fühlte mich isoliert, überlegte, ob ich mich mit jemanden zum Essen hier treffen könnte. Aber wer würde so kurzfristig Zeit haben? Und in der schlechten Stimmung, in der ich mittlerweile war, hatte ich noch nicht einmal mehr Lust jemanden anzurufen.

Es geschah beim Überqueren einer Kreuzung. Ich hatte die gegenüberliegende Seite fast erreicht, als ich hinter mir ein scharfes Bremsgeräusch hörte und fast gleichzeitig einen metallischen Aufprall. Ein paar Sekunden später krachte ein Körper auf den Asphalt.

Ich drehte mich um. Ein Wagen, der nach rechts abgebogen war, stand jetzt mitten auf der Kreuzung. Offenbar hatte er eine Radfahrerin übersehen. Das Rad lag zerdellt vor dem Wagen, die junge Frau einige Meter entfernt auf der Straße.

Ich eilte zu ihr. Sie lag auf dem Bauch, eine Blutlache bildete sich unter ihrem Kopf. Ihre blonden Haare schienen das Blut aufzusaugen. Sie bewegte sich nicht, aber als ich mich neben ihr auf den Boden hockte, hörte ich sie leise stöhnen.

„Ein Arzt! Schnell, einen Arzt!“ Ich schaute um mich; der Autofahrer, bleich wie ein Gespenst, hatte bereits ein Handy am Ohr und gab mir mit der Hand ein Zeichen.

Sanft legte ich meine Hände auf die Schulter des Mädchens. Sie atmete schwach. Fieberhaft überlegte ich, was zu tun war. Sollte ich ihren Körper in eine andere Position verlagern? Ich dachte an die Möglichkeit, dass ihr Rückgrat verletzt sein könnte, und wagte es nicht.

„Wir haben einen Arzt gerufen“, sprach ich mit bemüht ruhiger und tiefer Stimme zu ihr. „Hilfe ist unterwegs. Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Tommy.“ Kaum hörte ich ihre Stimme. „Tommy“, wiederholte sie. Ihre rechte Hand schob sich quälend langsam in meine Richtung. Ich nahm ihre Hand in die meine und drückte sie sanft. Kalt und klamm fühlte sie sich an. Mit Erschrecken bemerkte ich, dass die Blutlache sichtlich größer geworden war. Mir wurde schwindlig, und für einen Moment fühlte es sich an, als würde das Mädchen mich halten und nicht ich sie.

Ich schaute hoch auf den Autofahrer, der mich verschreckt ansah. „Sie kommen, sind auf dem Weg.“ Er wand sich, schien zu mir kommen zu wollen, aber gleichzeitig zog es ihn auch zurück. Er sah gequält aus, so als würde er am liebsten weglaufen und all dies hinter sich lassen.

Mittlerweile hatten sich einige Schaulustige um die Unfallstelle herum versammelt, aber niemand fühlte sich berufen oder befähigt zu helfen.

„Tommy.“ Ihre Stimme war brüchig. Ich konnte nur verstehen, was sie sagte, weil sie immer den gleichen Namen wiederholte.

„Hab keine Angst, ich passe auf dich auf.“ Meine linke Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter, meine rechte Hand streichelte sanft ihre Finger. So saß ich auf dem Asphalt vor ihr und wollte gern mehr tun, aber was bloß? „Hab keine Angst, ich bleibe bei dir. Hilfe ist auf dem Weg.“

Ich hatte den Ambulanzwagen gar nicht kommen hören. Als die Sanitäter an uns herankamen, erschrak ich beinahe. Einer fühlte den Puls, ein anderer bereitete eine Transfusion vor, ein dritter hantierte mit Materialien für einen Druckverband. Alles lief betriebsam und gut organisiert ab, eine Routine, die sich mit meinem eigenen Empfinden vollständig brach.

Ich drückte noch einmal zart ihre Hand. „Alles wird gut“, flüsterte ich ihr zu. Dann stand ich auf und ging einige Schritte nach hinten. Einen Moment noch beobachtete ich, wie die Sanitäter eine Trage herbei holten, das Mädchen vorsichtig darauf betteten und dann in den Wagen transportierten. Mit Blaulicht schossen sie über die Straßen, und bald ging das Sirenengeräusch im städtischen Klangteppich unter und war nicht mehr zu hören.

Inzwischen war auch die Polizei vor Ort. Zwei Beamte sprachen mit dem Autofahrer, zwei weitere mit gestikulierenden Passanten, die offenbar etwas zum Unfallhergang sagen konnten.

Ich fühlte mich innerlich leer. Kein Gefühl, kein Gedanke, nichts. Ich hätte bleiben sollen, um eine Aussage zu machen, aber meine Füße trugen mich fort. Mir war, als laufe ich auf Watte, als sei ich in einen dichten Kokon gesponnen worden. Alle Reize waren wie gedämpft, nichts erreichte mich.

Die Lichter der Stadt wirkten wie die Dekoration eines monströsen Weihnachtsbaumes, und ich zog an ihnen vorüber wie auf Schienen. Lautlos, ohne Reibung, glitt ich durch alles hindurch. Die Menschen, die Stimmen, der Verkehr, all das zog wie Nebelschleier an mir vorbei und hinterließ keine Spuren.

Irgendwann kam ich wie von selbst in meiner Straße an. Ein kühler Windzug strich über mein Gesicht. Ein paar betrunkene Studenten lärmten vor den Bars. Ich erkannte einen wieder, den wir hier gestern Abend kennen gelernt hatten. Ich machte einen Bogen, um ihm aus dem Weg zu gehen.

In meiner Wohnung angekommen zog ich mich aus und legte mich ins Bett. Eine Zeitlang starrte ich angespannt ins Dunkel. Irgendwann schlossen sich meine Lider, wie von selbst. Ich ließ mich fallen.

 

Hallo Heiko,

vielen Dank für's In-die-Bresche-Springen mit dem Erst-Kommentar ;-)

Freut mich, daß Dir der Text gefallen hat.

Viele Grüße,
Michael

 

Hallo michabln,

ich finde deine Geschichte auch nicht langweilig, sie lässt sich sehr flüssig lesen. Es gibt solche Tage eben, erst pläschert er so hin und dann passiert "etwas", dass uns aus der Lethargie reißt. So verstehe ich deine Geschichte, mit anderen Worten: Dass das Übberflüssige das Notwendige sei

liebe Grüße aus der Weltflucht

 

Hallo,

freut mich, daß Dir der Text gefallen hat.

Weltflucht schrieb:
Dass das Übberflüssige das Notwendige sei
Das habe ich nicht ganz kapiert.

Aber die Essenz besteht, wie Du ganz richtig anmerkst, in diesem Aus-der-Lethargie-gerissen-werden: Da laufen die Tage in ihrer Routine wie am Fließband ab, und plötzlich bricht etwas ein, was wir die ganze Zeit erfolgreich verdrängt haben... und stellt für einen Moment alles in Frage.

Liebe Grüße in die Weltflucht ;-)
Michael

 

Hi

ich noch mal, dass das Überflussige das Notwendige sei; der Unfall war überflüssig, aber notwendig um dich aus der Lethargie zu reißen :)

Gruß Weltflucht

 

Hallo joLepies,

Danke für's Lesen und Gutfinden.

Du hast meinen kompletten Text in Deinen Reply kopiert. Ich fürchte, es würde die Threads ziemlich schwerfällig machen, wenn diese Praxis um sich greift ;-) Für gewöhnlich werden die zwei/drei Zeilen kopiert, die konkret kommentiert werden. Das reicht eigentlich aus und schont das Auge.

Und in diesem speziellen Fall ist der Punkt, den Du machst, ja gar nicht fraglich (wir sind ja auch nicht vor einem Tribunal hier ;-): Der Protagonist wird namentlich nicht identifiziert... weil es in meinen Augen für die Handlung unerheblich ist. Hat Dich das tatsächlich beim Lesen gestört?

LG Michael

 
Zuletzt bearbeitet:

Stimmt, joLepies, war alles viel zu lang.

Neue Fassung:
Typ hat schlechten Tag, leistet abends einem Unfallopfer Beistand und steht danach etwas neben sich.

:-)

Der Rest ist mehr oder weniger Atmosphäre - und das kommt mir bei Deiner Version etwas zu kurz. So fehlt z.B. auch ein Rahmenmotiv, das mit dem Empfinden des Prot kontrastiert: die betrunkenen Studenten vor den Bars am Ende.

Und ich dachte immer, ich würde mich schon so kurz halten, daß es knapp an der Schmerzgrenze ist. Bei Deiner Version fühle ich mich gerade am Schluß total gehetzt, das weckt Erinnerungen an MTV-Schnitte. Da stimmt für mich die Proportion zur Gesamtlänge nicht mehr :deal:: die Brunch-Szene ist bei Dir länger als die Unfallszene. Die Bedeutsamkeit des Erlebten bleibt mir da auf der Strecke, ich hätte als Leser zu wenig Zeit, mich da einzufühlen. Es geht ja bei Fiction - anders als bei einem Zeitungsartikel - nicht in erster Linie um die vermittelte Information, sondern um die Art und Weise, WIE sie vermittelt wird und was sie bei mir als Leser auslöst. :klug:

Danke jedenfalls für ein interessantes Experiment - und die Frage, ob einzelne Textteile ihre Berechtigung haben, ist natürlich immer legitim. Wobei ich allerdings mißtrauisch werde, wenn ich lese, daß er Dir erst beim zweiten Lesen zu lang erschien :naughty:

LG Michael

 

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