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Herbst in Istanbul
Meine Augen sind geschlossen und ich streife durch ein dichtes Feld von Blumen. Jeder Atemzug bringt mir ihren Duft näher, dringt intensiver zu mir durch. Meine Finger fahren immer wieder über ihre Schläfe, streicheln langsam die Wange hinab bis zu ihrem Kinn. Jede Berührung der Haut jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
Wenn sie doch für immer hier liegen bleiben könnte!
Wenn meine Hand ihr Kinn verläßt, vergesse ich augenblicklich ihre zarte Haut und ich muss mit meinen Fingern sofort wieder ihre Schläfe berühren, denn ich darf die Augenblicke nicht vergessen, die so kostbar sind und so zerbrechlich.
Wenn Augenblicke doch ewig dauern könnten!
Ihr Köpfchen liegt auf meiner Brust. Sie atmet ganz ruhig, so als schliefe sie, aber ich weiss, dass sie das nicht tut. Ich wage es nicht, mich zu bewegen, denn ich fürchte, dass die Wärme, die von ihr ausgeht, verschwinden könnte.
Wenn sie doch merken könnte, wie schnell mein Herz schlägt!
Ich beuge meinen Kopf ein wenig vor und sie fängt meinen Blick ein. Wir schauen uns an und ich sehe den Glanz ihrer grünen Augen, der mich um den Verstand bringt. Wir können unsere Gedanken durch die Augen lesen, aber wir beide wissen, dass es verbotene Gedanken sind.
Wenn ich doch nur meine Vernunft ausschalten könnte!
Sie drückt sich an mich, ihre Arme umschlingen mich und immer fester spüre ich ihren Körper an meinem. Ich kann spüren, wie sie zittert und schwer atmet. Meine Lippen kommen ihrem Hals immer näher und jeder Millimeter, der zwischen uns verschwindet ist schwerer zu überwinden. Als sie ganz sachte ihren Hals berühren, zuckt sie zurück und drückt sich ihnen dann nur um so fester entgegen.
Wenn ich sie doch nur noch fester halten könnte!
Der Wecker klingelt und reißt uns gnadenlos auseinander. Die Wärme strahlt noch eine kleine Weile in mir fort, ich versuche sie festzuhalten, aber das gelingt mir ebenso wenig wie mit der Zeit.
„Ich muss jetzt gehen.“ sagt sie und ihr Blick ist so unendlich traurig, dass ich mich abwenden muss.
„Es ist grotesk“, erwidere ich. „Ich muss dir so weh tun und ich kann es nicht ändern.“ Ich möchte weinen, doch ich halte meine Tränen zurück.
„Ich weiss.“ Sie zieht mich zu sich und hält mich fest. „Jede Stunde mit Dir war die schönste meines Lebens und auch wenn die nächsten hundert Jahre nur Traurigkeit bringen sollten, so werde ich mich immer nur an sie erinnern.“
Ich kann die Tränen nicht mehr aufhalten und leise weine ich.
„Es ist nicht fair, dass Küsse so verbindlich sind“, sagt sie und öffnet die Haustür.
'Geh nicht, bitte geh nicht' schreit mein Herz, aber ich kann nur nicken. Es war unser beider Entscheidung. Sie streichelt ein allerletztes Mal meine Wange und dann ist sie für immer weg.
Wir haben gemeinsam einen Weg beschritten, der beschienen war von gleißend schönem Licht, der Überraschungen barg und Zärtlichkeiten bereithielt, aber sie musste mich zurücklassen. Ich kann nicht weitergehen mit ihr.
Sie dreht sich nocheinmal um, und winkt mir zu.
Sie weiß, dass es nur einen Herbst in Istanbul geben wird.