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Herbststürme im Wasserglas

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06.01.2005
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Herbststürme im Wasserglas

Alte Heimat gesehen mit neuen Augen. Wenig hat sich verändert, erschreckend wenig. Es ist schon komisch, wie wenig sich wirklich verändert. Man denkt immer, wenn man für längere Zeit weggeht, dass sich so verdammt viel ändern würde und man alles verpasst. Darin liegt ja die größte Angst, zumindest bei mir, beziehungsweise lag. Jetzt ist sie weg, diese Angst, die mal da war. Es ist nicht so, dass mir im Zuge dieser Befreiung der berühmte Stein vom Herzen gefallen wäre, nein, wirklich nicht. Der Aufenthalt in ungeahnter Freiheit war sehr kurz und ehe ich realisieren konnte, frei zu sein, befand ich mich schon im beklemmenden Griff der Zerrissenheit zwischen zwei Welten und der aus den Umständen resultierenden Selbständigkeit. Gerade diese wird uns ja immer sehr überzeugend als so wünschens- und erreichenswert dargestellt, auch mir und dabei ist sie das gar nicht. Der schöne Anfang mündet im realen Verlauf mit Tiefschlägen und schließlich in der alltäglichen Routine, bis man „es“ dann irgendwann ist: Frei, unabhängig, auf niemanden angewiesen, für sich selbst verantwortlich. Aber so muss es ja sein.
Mama ist älter geworden. Nicht alt, aber älter. Früher ist sie nicht so schnell älter geworden, aber das bilde ich mir wahrscheinlich nur ein. Sagen sollte ich ihr das wohl lieber nicht, auch wenn sie immer fragt, ob ich irgendwelche Veränderungen wahrgenommen hätte. Jedes mal fragt sie das, wenn ich wieder zurückfahre. Vater ist schon älter, das war er schon vorher, obwohl er sich für sein Alter gut hält. Regen klopft an die Scheibe, vehement klopft ein Tropfen nach dem anderen an die Scheibe meines alten Zimmers, zur Ramschherberge ist es verkommen. Spuren meiner Ära sind mit weißen Farbeimern verschwunden. Nie würden sie es vermieten, an einen Studenten oder so, niemals. Fremde Leute ins Haus und dann in dieses Zimmer mit angeschlossenem Bad. Da machen sie es eher zum gesichtslosen Ramschraum, den jeder benutzt wie es ihm passt, das schwarze Schaf in der Familienhierarchie der Räume in diesem Haus – nervig, hässlich stellt man ihn nicht in die vorderste Reihe beim Gruppenbild, trotzdem füttert man ihn durch und wäscht seine Unterhosen.
Laute Motorengeräusche, ein Auto rast viel zu schnell in den Hof, der Bewohner des unteren Zimmers trifft ein, die Wagentüre mehr donnernd als schließend. Älter ist er, manchmal frage ich mich, woran. Trotzdem mag ich ihn sehr, irgendwie gehört er einfach dazu, obwohl oder vielleicht auch ein bisschen weil er in der Familie immer die Rolle meines alten Zimmers übernommen hat, ob mit Absicht oder nicht bleibt sein Geheimnis, wie so vieles. Oft bot mir diese, seine Rolle Schatten, manchmal vollkommene Dunkelheit trotz und das war hilfreich und der Entwicklung des oben bereits angesprochenen, von der Gesellschaft gepriesenen Ideals der Unabhängigkeit, zumindest in mir, sehr zuträglich. Jedoch ist auch so ein Leben der freien Entwicklung nicht immer schön, wenn man als Setzling neben einen anderen jungen Spross gepflanzt wird und genau weiß, dass man aufgrund der Tatsache als junger Olivenbaum im Schatten einer Eiche zu wachsen, sich jegliche Bemühungen, den Himmel als erster zu erreichen, sparen kann. Damals sah ich das zumindest so.
Der letzte Wasserschwall hastet in Richtung Dachrinne, die Speicher sind leer, es wird hell. Langsam setzt sich ein Sonnenstrahl nach dem Nächsten durch, sie haben den Kampf vorerst gewonnen. Alles ist mir fremd geworden, noch fremder als sonst, meine ich. Vielleicht liegt es am Frühling, der ist so anders, kaum besser als der Herbst, aber den will ja nun gar keiner. Komischer-weise fühle ich mich gerade wie er: Nichts Halbes, nichts Ganzes, so ein Mittelding. Ein bisschen davon und ein bisschen davon, aber nicht eindeutig, immer launisch und unberechenbar, trotzdem unterschätzt und zur „Übergangsphase“ degradiert, ein Hinführer sozusagen, einer, der einen zu etwas wirklich Wichtigem, etwas Sehenswertem begleitet; die Vorhut, die alles abkriegt und der man später einen Kranz aufs Grab wirft mit einer „Danke“-Scherpe dran.
Mein Bruder kommt, klopft mir auf die Schulter, härter, als ich es würde. Komisch, der ist nicht älter. Wie immer steht er vor mir, dunkler Pullover, Jeans, Schlüssel, Zigarette in der Hand, abnehmen will er seit nunmehr fünf Jahren. Pubertäre Streits waren seit jeher eine Schmeling vs. Harry Potter Veranstaltung, meine Zauberkraft bedarf jedoch keiner Sprüche, sondern einem guten Sprachschatz und schneller Beine – wobei der Einsatz ersteren Mittels schon mal überhaupt erst den Einsatz des zweiten nötig machte.
Alte Gesichter schenken mir eine altes Lächeln und neue Begeisterung. Ja, ich bin wieder hier, nur kurz. Ja, ich weiß, sollte öfter kommen. Der auch durch mein Verschulden klägliche Rest derer, die mir die Hände freudig schütteln ist versammelt, dort, wo man sich niederlässt. Einiges ist geschehen: Jobwechsel, Heirat, Abschlüsse, Umschulungen, Führerscheine, neue Autos, Verwarnungen, Anzeigen, eine U-Haft, ein Entzug der Fahrerlaubnis, die alte Diskothek ist dicht – schade, war ein schöner Ort. Komisch hier, dazustehen wie eine Station auf der 14-tägigen Sightseeingtour durch Europa. Ich halte Kontakt, versuche es wenigstens. In England war wenig Zeit, Telefonieren war teuer dort, Schreiben braucht Geduld und Lust, auch hier.
Trotzdem alles wie früher, das Bier schmeckt noch genauso und mögen tue ich sie auch. Sie mich anscheinend zurück. Auch hier ist keiner richtig älter geworden – weder im Aussehen noch im Verhalten. Einige Gesichter sind mir schon zwei Jahre nicht mehr unter die Augen gekommen und nicht einmal die scheinen mir zeitgezeichnet.
Mein Zug fährt dann, jetzt scheint die Sonne, meine alte Nachbarin winkt mir zu und lacht, ein Bier geht noch. Ein Arm auf meinen Schultern, eine vertraute Stimme spricht vom Vermissen – ich vermisse auch, sehr sogar, manchmal. Früher hat er mir das nicht gesagt und jetzt fließen Worte dahin wie ein Schwall Regenwasser in der Dachrinne. Tränen in den Augen, ich blinzele schnell, unbemerkt, er redet immer noch. Neben mir Alltag, man spricht von Schichten, Containern, Diensten, Überstunden, Mehrarbeit, Kurzarbeit und dem gestrigen Abend, der anscheinend nicht so toll war. Die Stimme neben mir verstummt, schön, dass er mir das sagt, das bedeutet mir sehr viel, er mir auch. Schneider hält morgen, scheiße, der mag mich nicht und ich mag seine Theoreme nicht, mein Abend ist tot.
Mutter hat geweint, als ich vorhin gegangen bin. Das hat sie das letzte Mal am Bahnhof gemacht als ich für ein halbes Jahr nach England gegangen bin, das ist schon wieder anderthalb Jahre her. Ich habe Angst vorm nächsten Mal, wenn ich wieder hierher komme. Vielleicht sollte ich erst einmal gar nicht mehr wiederkommen. Dumme Idee, bringt nichts, macht alles nur schlimmer. Gedanken an Rückkehr erschrecken mich seit Tagen, machen mir Angst. Angeboten haben sie es, könnte die renovierte Wohnung im Untergeschoss haben, hier studieren, ist auch billiger und die Gegend viel schöner. Der Wahrheitsgehalt dieses Arguments ist leider sehr hoch.
Damals wollte ich weg – so schnell wie möglich. Ein Semester, dann England, Wohnung, Rad, kein Auto, dafür Wasserhähne, die nur für mich sprudeln, aber Wasser ist teuer.
Ich muss gehen, aufbrechen, wieder einmal alles hinter mir lassen, wieder verlassen und gehen. Abschied, Umarmungen, gute Worte, Arme auf meinen Schultern. Neue Nummern werden getauscht, wir müssen dann, Züge warten auf niemanden – auch nicht auf mich.
Später sitze ich im Zug, mein Bruder hat mich gebracht, vorm Fenster steht er, winkt. Besuchen will er mich, ich weiß nicht, ob ich das will, lächle, mal schauen. Durch ein unsichtbares Tor lässt der weiß-rote Zug den vom Regen feuchten Bahnsteig hinter sich. Ich freue mich auf meinen Wasserhahn!

 

Lieber Daemon!

Ich mag die Melancholie und Traurigkeit, mit der Du Deine Geschichte erzählst. Deine Geschichte habe ich wirklich gerne gelesen.

Mir sind beim Lesen allerdings einige Sachen aufgefallen:

"Älter ist er, manchmal frage ich mich, woran."
Diesen Satz musste ich zweimal lesen, um zu verstehen, was genau Du damit meintest. Das Wort "woran" finde ich in diesem Satz nicht ganz so passend. "woran altert man" ist richtig. Aber Du triffst hier eine ganz andere Feststellung, nämlich dass Du das Älter sein des Gegenübers nicht mit einem Mehr an Lebensjahren in Verbindung bringst. Das sollte in diesem Satz etwas klarer herauskommen.

"Oft bot mir diese, seine Rolle Schatten, manchmal vollkommene Dunkelheit trotz und das war hilfreich und der Entwicklung des oben bereits angesprochenen, von der Gesellschaft gepriesenen Ideals der Unabhängigkeit, zumindest in mir, sehr zuträglich."
Mit diesem Satz konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden. Ich verfalle oft selbst der Versuchung, Schachtelsätze zu schreiben. Aber trotzdem: bitte, bitte nicht! Hier stört mich das Wort "trotz". Trotz was?! Die Message kommt hier meiner Meinung nach gar nicht rüber. Vielleicht könntest Du diese Aussage überarbeiten.

"Jedoch ist auch so ein Leben der freien Entwicklung nicht immer schön, wenn man als Setzling neben einen anderen jungen Spross gepflanzt wird und genau weiß, dass man aufgrund der Tatsache als junger Olivenbaum im Schatten einer Eiche zu wachsen, sich jegliche Bemühungen, den Himmel als erster zu erreichen, sparen kann. Damals sah ich das zumindest so."
Dein Text ist eine Mischung aus Szenen, die Du schilderst, ohne dem Leser gleich deutlich zu sagen, was Du damit genau sagen willst - das finde ich genial. Auf manche Messages sollte man den Leser einfach selbst draufkommen lassen. Aber an anderen Stellen, wie an der oben zitierten, habe ich das Empfinden, dass Du dem Leser sehr mechanisch erklärst, was Dein Protagonist empfindet. Auch wenn ich Deine Wortwahl in diesem Absatz sehr schön und den Vergleich Eiche - Ölbaum kreativ und passend finde, fehlt doch ein griffiges Beispiel für den Gemütszustand, den Du hier beschriebst. Gut gemeinter Rat: erzähle nicht so direkt, was der Protagonist fühlt. Laß ihn das in einer konkreten Situation erleben. Was muss dem Prot passieren, damit er sich wie ein kleiner Setzling neben der Eiche fühlt? Diese Erklärung kannst Du ja dann - wenn Du Dich gar nicht von dem Vergleich trennen möchtest (würde ich auch nicht wollen, weil ich ihn wirklich schön finde!), hinten dran setzen, sozusagen als kleine Pointe.

Was ich sehr schön fand, war die Szene mit dem Bruder! Meiner Meinung war das eines der absoluten Highlights Deines Textes! So sollte die ganze Geschichte sein, dann würde ich hier außer "super" gar nix dazuschreiben. :-)

"Komisch hier, dazustehen wie eine Station auf der 14-tägigen Sightseeingtour durch Europa."
Auch da kommt für mich wieder die Problematik durch "wie sag ich's meinem Leser?". Den Vergleich finde ich wieder genial - keine Frage! Aber kann ein Mensch dastehen wie eine Station auf der 14-tägigen Sightseeingtour? Stell Dir das mal bildlich vor... Bitte den Satz grammatikalisch schlüssig formulieren. Du mußt nichts weglassen, eher nur ummodelieren oder hinzufügen.

"Sie mich anscheinend zurück."
Du wolltest ausdrücken, dass die Sympathie Prot - Mädchen auf Gegenseitigkeit beruht. Leider ist der Satz nicht gaaaaaaaanz so treffend. Vielleicht findest Du dafür eine bessere Aussage.

"Schneider hält morgen, scheiße, der mag mich nicht und ich mag seine Theoreme nicht, mein Abend ist tot."
Wer ist Schneider? Und wen, was, wie oder wo hält er morgen? Hääää?! Tiefe Ratlosigkeit. Da ist mir nicht ganz klar, was Du damit sagen wolltest.

Bitte nimm die Anregungen auf keinen Fall als böswillige Kritik. Ich finde, Dein Text hat absolut Substanz. Die Kritik soll Dir einfach nur helfen, dieses feine Stück zu optimieren.

Liebe Grüße
Andrea

 

Danke, Andrea, dass Du Dir so viel Zeit genommen hast und Dir solche Mühe gabst.

Ich werde Deine Vorschläge mal überdenken. Wie wahrscheinlich Deine eigenen Geschichten auch, entstehen meine immer nur in einer konrketen Stimmung - dann ist alles schlüssig und klar und man selber versteht ja am besten was die Worte sagen sollen. Für einen Dritten gestaltet sich das natürlich etwas schwieriger. Deshalb danke für Deine Zeit und Deine Antwort!

Liebe Grüße,
Daemon

 

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