Herbstzeitlose
„Siehst du das, Liebling?“, frage ich Trude. Sie antwortet nicht.
Ich stehe am Fenster, die Scheiben sind beschlagen von meinem Atem. Ich spähe in den Garten unserer Nachbarn.
„Die Bergthalers haben ihre Liegestühle immer noch nicht eingewintert. Ich frage mich, wann sie das tun.“ Trude schweigt. Ich drehe mich zu ihr um und sehe sie an. Ihre unbewegte Mine, ihr Gesicht, jetzt mit feinen Falten geschmückt. Wie sehr ich dieses Gesicht liebe. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich wende den Blick ab und sehe wieder nach draußen.
„Einen schönen Garten haben sie, die Bergthalers. Vielleicht sollten wir einen Apfelbaum pflanzen? Mit etwas Glück wächst er genauso schön wie die Bäume der Bergthalers. Sie haben einen schönen Garten, nicht wahr?“
Ich seufze und gehe in die Küche. Trude schweigt. Sie schweigt oft in letzter Zeit. Es macht mir nichts aus. Hauptsache, sie ist da. Ich lächle. Hauptsache, sie ist da.
Dann setze ich Teewasser auf und warte, bis der Kessel pfeift. Ich sage kein Wort. Das Ticken des Weckers auf dem Wandregal erscheint mir wie ein Schlagbohrer.
Als der Tee lange genug gezogen hat, entferne ich den Beutel, zuckere die dampfende Flüssigkeit und gehe zurück zum Fenster. Warte ich auf ein Wort von Trude? Wie kann ich das tun. Ich spüre, wie meine Augen tränen und weiß, dass nicht der Dampf schuld daran hat. Ich schließe die Augen und warte, bis der Zustand vorübergeht. Diese Gefühle sind neu für mich. Ich werde von ihnen weggespült, ohne etwas dagegen tun zu können. Wie ein kleines Blatt, das das Meer davonträgt.
Aber ich wehre mich nicht. Wozu auch? Ich kann nichts mehr ändern.
„Oder was hältst du von einem Marillenbaum? Nein? Ja, du hast Recht. Die wachsen bei uns schlecht.“
Ich überlege, womit ich ihr eine Freude bereiten könnte.
„Birnen! Wie wäre es mit einem Birnenbaum? Ich glaube, für Birnen haben wir hier genau das richtige Klima.“ Ich nippe am Tee und verbrenne mir die Lippen. Ich sage nichts mehr. Niemand spricht. Die Stille kriecht in die Unendlichkeit. Schließlich halte ich es nicht mehr aus.
„Diese Liegestühle, ich weiß auch nicht, das ist doch merkwürdig, oder? Ich meine, jetzt ist schon Ende Oktober und sie stehen immer noch da. Ist dir aufgefallen, dass sie ganz nah beieinander stehen? So nah, dass sich die Armlehnen berühren? Ist doch schön, oder?“
Ich verstumme und lasse den Blick über den Garten wandern. Der Wind vollführt Wirbelspiele mit den Blättern auf der Erde, das Schilf um den Tümpel ist gelb und ausgetrocknet. Es erinnert mich an bleiche Knochen. Die Äste der Bäume wiegen hin und her wie unheimliche Finger.
Mit einem Mal ist mein Mund wie ausgetrocknet, ich fühle mich schwer. Ich will Trude bitten, herzukommen und mich in den Arm zu nehmen. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht.
Der Wind wird heftiger, zerrt und zieht, ich muss den Blick abwenden. Ich schlurfe in die Küche und stelle die leere Tasse in die Spüle.
Dann zwinge ich mich, die gepackten Koffer anzusehen. Es sind nur drei, sie stehen mitten im Raum als wollten sie sagen: Wehr dich nicht. Es ist besser so. Alles wird gut.
Aber nichts ist gut. Gar nichts. Ich presse die Lippen gegeneinander. So lange, bis ich kein Gefühl mehr darin verspüre. Trude, denke ich.
„Trude“, sage ich.
Trude schweigt. Erwarte ich etwas anderes?
Ich atme ganz tief ein. Und wieder aus. Dann wandere ich in unserer Wohnung umher. Ich betrachte die gerahmten Bilder der Enkel auf der Kommode, streiche mit dem Daumen über das Glas, hinterlasse Striche im Staub.
Abgehängte Bilder haben schwarz umrahmte Stellen auf den Tapeten hinterlassen. Die Fensterstöcke sind leer geräumt, die Vorhänge abgenommen. Meine Schritte hallen, immer schneller laufe ich umher, suche nach Spuren unserer Vergangenheit.
Noch sind nicht alle Zeichen getilgt, noch gibt es Dinge, kleine Dinge, die nur wir beide kennen. Da ist die Kerbe im Tischbein, über die Trude immer zärtlich streicht und dann lacht, wenn wir uns daran erinnern, wie sich Dennis voller Übermut als Samuraikämpfer versucht hatte.
Oder das gestickte Bild, das einen Affen zeigen sollte aber zu einem Bären geworden war. Nur wir beide wissen davon und werfen uns immer wissende Blicke zu, wenn jemand dem charmanten Bären Bewunderung zollt. Das Bild liegt jetzt auf dem Tisch zusammen mit all den anderen.
Ich nehme es in die Hand, spüre das Garn unter den Händen, drücke es an die Brust. So fest, dass der Holzrahmen knackt.
„Ach Trude“, beginne ich. „Kannst du mir keine Antworten geben? Das kannst du doch immer. Wieso also? Was ist passiert?“
„Mit wem sprichst du, Vater?“ Ich habe nicht gehört, dass die Tür geöffnet wurde.
„Ich weiß es nicht“, sage ich. Leere und Einsamkeit füllen plötzlich mein Herz und quetschen es mit kalter Hand.
Peter speist mich mit einem Achselzucken ab und beginnt pfeifend die Koffer nach unten in sein Auto zu tragen. Ich schlurfe wieder zum Fenster und blicke nach draußen. Nach einer Weile kommt er wieder herauf.
„Na komm schon, Vater. Wir müssen los. Es wird dir im Altersheim gefallen. Dort brauchst du dir um nichts mehr Sorgen machen.“
„Ich … ich weiß.“ Ich muss vernünftig sein. Trude, denke ich. Wo bist du?
„Um die Möbel und den Rest wird sich jemand kümmern.“ Peter glaubt, ich weiß nicht, dass das, was von unserem Leben übrig geblieben ist, die Stadtreinigung abholen wird und dann … ich will nicht mehr daran denken. Ich will gar nichts mehr.
„Du lässt das Bild von Trude zurück?“, fragt mein Sohn nur halb interessiert.
„Ja“, sage ich. Sie soll nicht auch ins Altersheim umziehen müssen.