Herkules Rockefeller
Herkules Rockefeller
Die Stimme sagt: Schlag zu!
Ist sie nun stark oder schwach?
Obwohl sie lodert voll Leidenschaft?
Und durchzogen wird von purer Kälte?
Und der Körper belebt wird von reinster Kraft?!
Die stimme sagt: Trink!
Und der alte Mann folgt.
Folgt diesem Ruf und weiß nicht, dass er hinkt.
Entdeckt sich selbst auf der Suche nach Gold
Landet im Land der trockenen Trunkenheit,
steigt auf in den Himmel, springt und ist frei.
Die liquide Leidenschaft, Muße und Gram,
Mit feuriger Peitsche und kräftigem Arm
Wird die Woge geschwungen um Leben zu knechten.
Der geknechtete Tropf liegt am Boden bezwungen.
Eine weitere Kehle die schluckt, schmeckt und speit.
Ein weiteres Leben geht in Rauch auf, um Vergebung betend.
Es regnet Asche auf eine der vielen Lichtungen aus Asphalt herab.
Und mit der Zeit bedeckt sie die Bäume, Sträucher, Häuser, Menschen und Tiere; bedeckt das Leben, das jeden Tag lebt und kränklich pulsiert, wie der Pickel auf der Stirn eines Vierzehnjährigen.
Der Mensch sieht dies und es stimmt ihn traurig. Er sieht die Flocken jeden Tag mit seinen feuchten Augen und schreit. Denn er erkennt, dass mit jeder Ascheflocke, die auf die asphaltene Lichtung fällt, sein Leben ein Stückchen mehr eingeäschert und auch er zu einem Teil der großen Wolke wird, die das Gleichgewicht schindet.
Er beginnt klagend um Verbesserung zu bitten und weiß doch, dass keine Verbesserung eintreten wird. Also entschließt er sich etwas zu ändern. Jeden Tag will er an sich und somit auch an dem großen Ganzen arbeiten:
Er schwitzt und pumpt.
Er liest und auch dadurch pumpt er.
Er frisst, trinkt, fickt, schläft und pumpt.
Pumpt stumpf, um dem erdenen Körper zu frönen und seinen täglichen Götzendienst zu leisten, denn was bleibt ihm? Er denkt nicht gesund, er denkt in Atomen!
Aber es reicht nicht! Nichts reicht ihm und der Ascheregen fällt weiter auf das Herz aus Stein.
Mit jedem Tag an dem all das Abmühen des Mannes umso hoffnungsloser erscheint wird auch er immer aschfarbener und passt sich dem Regen langsam an.
Eines Tages, als der Mann so sehr gepumpt und geschwitzt hatte, dass sein Körper inzwischen mehr einer Gebirgskette glich und der wolkenbedeckte Himmel vor bedrohlicher Schwärze mit dem Kosmos zu verschmelzen schien, an einem Tag im Mai, an dem kein Vogel sein Haupt anzuheben wagte, um bloß nicht die schweißtrunkenen Wolken am Mantelsaum des Uranos herauszufordern, an einem solchen Tag machte er sich auf den Weg in die Stadt um etwas zu erledigen.
Doch das Gebirge begab sich nicht in die Stadt um etwa Mettbrötchen mit Zwiebelflöckchen beim Meisterbäcker Biere zu ergattern, nein! Es wurde von etwas völlig anderem in die Siedlung der schlummernden Lemminge gezogen und ein dunkler Schatten utopischer Ausmaße schien jetzt selbst den schon pechschwarzen Himmel aufzusaugen.
Einige Beobachter der Nachbarstadt verglichen das, ihnen auf einem entfernt gelegenen Hügel szenisierte Bild mit mittelalterlichen Gemälden des Untergangs Sodoms, einem Fresko Giottos aus der nun in Trümmern liegenden Kapelle zu Assisi, allerdings fehlten hier die alles verschlingenden Flammen und die Menschen schienen noch immer so gelassen wie Hindu Kühe zu sein.
Die folgenden Begebenheiten sind für nicht Anwesende jedoch nur schwer vorstellbar, allerdings beteuern alle überbliebenen Augenzeugen den Mann auf den Marktplatz gehend gesehen und die nun folgenden Ereignisse initiiert zu haben.
Und so geschah es, dass der Platz von diesem Tage an verschwunden war und mit ihm auch die Menschen und die Stadt, die Wolken und auch das Gebirge.
Denn als der Mann den Marktplatz erreicht hatte, vollzog sich etwas außerordentliches, ja, etwas völlig fantastisches:
In der Mitte angekommen, zwischen all den Buden, den Ständen mit Wurst, Käse, Suppe und Kohl, den Menschen und dem bunten, geschäftigen Treiben der Stadtbewohner, den Hunden und Tauben, blieb der Mann stehen, schaute sich in alle Richtungen um und schwieg. Alles was von ihm ausging waren wortlose Blicke; Blicke, die die Menschen, die sie trafen, direkt in die Herzen zu stechen schienen und deren Seelen zu Salz erstarrten wie die Frau Lots im 1. Buch Mose.
Keine halbe Minute später schien die Luft zu zittern, die Vögel fielen aus den Bäumen, von den Dächern und Strommasten auf die Straße herab, die Hunde versteckten ihre Schnauzen unter ihren beiden Pfoten und Frau Schulz aus der Hermannstraße 17 ließ vor lauter Entsetzen den Wirsingeintopf fallen. „Das fehlte mir noch! Der gute Teppich! Jetzt musst du nicht nur schrubben, sondern auch noch mal kochen. Soll ich hier etwa verhungern?!“ brüllte ihr Mann aus seinem Sessel im Wohnzimmer. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Nicht nur das Wilhelm Schulz heute wohl ohne Mahlzeit zu Bett gehen musste (seine 7 Bier zählen da wohl nicht…), nein, die Erde begann auch noch zu schwanken und zu rütteln, als wäre die gesamte Stadt in einer Nussschale, die auf der stürmisch, mitt-winterlichen Werre ausgesetzt worden war.
Die Pflastersteine des historischen Marktplatzes begannen ein pandemonisches Eigenleben zu entwickeln und zu Rütteln und Schwanken, erhoben sich langsam aus ihrem jahrhundertealten Grab, die Menschen schrieen, rannten wild durcheinander, trampelten sich nieder und suchten in ihrer panischen Vernunft die Rettung.
Doch es war hoffnungslos, der Mann, der so sehr geschwitzt hatte, dass er nun mehr einer Gebirgskette glich als einem gewöhnlichen Menschen der lippeschen Tiefebenen, stand noch immer ungerührt und mit stoischer Gelassenheit in der Mitte des Marktplatzes, um das Tumult zu beobachten. Mehr noch, er schien die Vorkommnisse beinahe zu dirigieren.
Als die einstige Stadt nur noch ein Strom und Mahlstein aus Felsen, Dreck, Bäumen und Pflanzen, Autos, Ampeln, Menschen, Tieren, Bügeleisen, Mikrowellen, Lockenstäben, Nagellackentferner, Netzstrumpfhosen, Hi-Heels und Proteinriegeln, Ziegeln, Zigarettenstummeln und Affenschweiß war, der von Radiogeräten, Satellitenschüsseln, Raffaelos, Kunstdünger, einem seltsam anmutenden Holzhäuschen, das komischerweise ganz blieb, Motorrollern, Kneipeneinrichtung im rustikalen Stil und Suffpsychosen vervollständigt wurde und sich gen Himmel erhob, um in einem gigantischen Wirbel zu komplettieren, wusste keiner der Voyeure des Nachbarhügels so recht was nun geschehen war. Eines war zumindest klar; am nächsten Morgen war alles verschwunden, als ob die Götter persönlich ihren kosmischen Staubsauger ausgepackt hätten, um mit diesem Pfuhl menschlicher Schlacke endlich mal aufzuräumen.
Aber so war es nicht, denn alles was passierte, entstand innerhalb eines winzigen Augenblicks, nachdem der Mann in der Mitte in viele Gesichter geschaut hatte und schrecklich müde wurde. Müder als Morpheus, Piety oder Nähmaschinen es jemals sein könnten.
In der folgenden Sekunde schloss er ein letztes Mal seine Augen und seine Lider fuhren hernieder, wie in schier unendlich scheinender Zeitlupe. Universen entstanden und vergingen, Zivilisationen wuchsen empor, wie der giftige Efeu und starben in dem Moment als auch der Baum fiel, an den er sich geklammert hatte, Wesen liebten einander und vergingen im Schmerz um sich gegenseitig zu töten und gemeinsam dem Hass ein Opfer darzulegen. Der Mann sah dies alles, in der Mitte des Marktplatzes stehend und verstand, verstand nun endlich und hatte einen Entschluss gefasst, der alles ändern sollte…
Als er sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich sicher war das Richtige zu tun, war es für die Menschen des Marktes, für die Hunde und Katzen, die Bäume und Häuser und auch für den Wirsingeintopf von Frau Schulz bereits zu spät. Mit einem winzigen Augenschlag war das große Rad der Gezeiten in Wallung gekommen, eine kleine Bewegung hatte ausgereicht um die begangenen Fehler zu sühnen und die Zukunft wird zeigen ob in den lippeschen Tieflanden wieder das Gegluckse der gemeinen Lachaffen einkehren wird oder ob es gelingt, dem müden Boden ein wenig Harmonie und Zauber einzuhauchen.
Doch eines ist gewiss, der Kolibri wird weiterhin schwingen.