Herleitung und Diskussion des De-La-Bruyère-Problems
Die Flure im Hauptgebäude der ETH Zürich führen in manche geheime Nische, zu versteckten Computerräumen, fensterlosen Versuchslabors und unterirdischen Verbindungstunnels. Die Haupthalle, in ihrer düsteren Majestät, beeindruckt Erstsemestrige und zuweilen fühlen sich selbst erfahrene Doktoranden beobachtet durch die Büsten von Professoren früherer Tage. Es ist ein Ort, der von Geschichte lebt, von grossen Fragen und Erkenntnissen.
Da und dort, in den oberen Etagen, sind Tischreihen aufgestellt, wo Studenten ihre Bücher ausbreiten und über Fluiddynamik, partielle Differentialrechnung oder Graphentheorie diskutieren. Andere sitzen still da, vertieft in ihre Bücher.
Es sind aber nicht nur Studenten, die zwischen den Säulen und Wandgemälden arbeiten. Gelegentlich wagt sich auch ein Professor aus seinem Büro und setzt sich zu ihnen, um über die Rätsel des Universums nachzudenken.
Zu diesen Professoren gehörte einst auch ein gewisser Friedemann de la Bruyère. Fast alle ETH-Studenten kannten den glatzköpfigen Herrn, der schon früh morgens in den Lernsälen anzutreffen war. Meist sass er nur da, den Blick ins Leere gerichtet. Seine Kleidung war immer dieselbe: Anzug und Krawatte, wobei das Hemd stellenweise unter dem Jackett hervorschaute. Bei genauem Hinschauen fielen die Kaffeespritzer am Ärmel sowie die Risse am Hosensaum auf. Das änderte nichts am Respekt der jüngeren Studenten, die ihm ehrfürchtig auswichen. Sie hielten ihn für eines der grossen, mysteriösen Genies aus dem Mathematikdepartement, von denen jeder sprach, die aber niemand wirklich kannte. Aus den Augenwinkeln beobachteten sie, wie der Professor Notizen auf einen Zettel kritzelte und sie fragten sich, was für Weisheiten es wohl sein mochten. Aber nachzufragen, dazu fehlten ihnen der Mut, und letztlich zerriss Friedemann de la Bruyère die Zettel jedes Mal ohne dass jemand sie hätte lesen können.
Lange ein Rätsel blieb der Inhalt der ledernen Aktentasche, die der Professor stets mit sich trug. Erst einem jungen Mathematikstudenten mit Namen Jonas gelang es, einen Blick in die Tasche zu werfen. Eines frühen Morgens betrat er als erster Student den Lernsaal im G-Stock – einzig Friedemann de la Bruyère kauerte in der hintersten Reihe und schlief. Vor ihm lag der Aktenkoffer, halb geöffnet, und Jonas' Neugier liess ihm keine Wahl. Er warf einen Blick in die Ledertasche und stellte erstaunt fest, dass sich darin nur ein Bündel vergilbter Zeitungen befand.
Als später an diesem Tag Jonas' Kollegen eintrafen und sie erfolgreich die paar Aufgaben zur nichtlinearen Optimierung besprochen hatten, erzählte Jonas von seiner Beobachtung und wies auf den Professor, der gerade mit dem Schreiben einer Notiz beschäftigt war.
„Das ist kein richtiger Professor, jede Wette“, meinten Jonas' Kollegen. „Er hängt immer hier rum. Er isst verfaulte Bananen aus Abfalleimern und schneidet sich den Bart mit den Scheren im Studentenraum. Das ist ein Penner.“
Aber Jonas gefiel die Vorstellung nicht. Die Antwort erschien ihm zu einfach, denn wenn er dem Professor in die Augen schaute, sah er mehr als die kleinen Pupillen eines Säufers. Er sah Gedanken und Arbeit und Brillianz. Jonas war sich sicher: Professor Friedemann de la Bruyère war ein Genie, selbst wenn seine wirren Streifzüge durch die Vorlesungssäle, Bibliotheksabteilungen, Sporthallen und Mensen einen anderen Schluss nahe legten.
Um dies seinen Kollegen zu beweisen, schlug er vor, den Professor um Hilfe bei einem schwierigen Optimierungsproblem zu bitten. Mit dem Aufgabenblatt in der Hand näherte er sich dem Herrn und fragte: „Entschuldigen Sie, Herr Professor, hätten Sie vielleicht Zeit uns kurz bei einer Aufgabe zu helfen?“
Was Jonas nicht wusste: Seit vielen Jahren war es das erste Mal, dass ein Student den Professor ansprach. Entsprechend verdutzt reagierte Friedemann de la Bruyère. „Ich habe keine Zeit“, antwortete er brüsk. „Ich denke nach!“ Mit diesen Worten griff der Professor nach seinem Aktenkoffer voller Zeitungen und rauschte davon.
Dennoch verflog Jonas' Interesse an dem rätselhaften Mann nicht und von nun an folgte er dem Professor wenn immer er ihn sah. Kein einfaches Unterfangen, denn Friedemann de la Bruyère hatte in den vielen Jahren an der ETH manchen Geheimweg entdeckt. Oft verschwand er vor Jonas' Augen und der junge Student traf ihn erst Tage später wieder in anderen Abteilungen, gemütlich mit Zeitungslesen beschäftigt. Nur selten gelangen dem Jungen interessante Beobachtungen. So sah er eines Tages, wie der Professor ein Sandwich aus der Tasche eines Studenten stibitzte und dieses später heimlich verspeiste. Jonas bemerkte auch, dass der Professor ein leidenschaftlicher Voyeur war. Oft setzte er sich so hin, dass er den Blick frei hatte auf ein verliebtes Pärchen, das sich weniger auf den Schulstoff als aufs Kuscheln konzentrierte. Friedemann de la Bruyère, und das war Jonas‘ spannendste Erkenntnis, war also ein Mensch.
Mit der Zeit nahm Jonas Interesse an dem Professor wahnhafte Züge an. Er kam kaum mehr zum Schlafen und vernachlässigte allzu oft seine Studienarbeiten, aber er war sich ganz sicher: Es gab ein Geheimnis, eine Geschichte, die diesen Menschen umwob. Und Jonas wollte diese Geschichte kennen lernen.
An einem lauen Sommerabend, als der Professor auf der Polyterrasse stand und über die Dächer Zürichs blickte, wagte Jonas es schliesslich, ihn ein zweites Mal anzusprechen. Er stand zu dem Professor ans Geländer, musterte ihn und fragte: „Worüber denken Sie denn nach?“
Für eine Sekunde trafen sich die Blicke der beiden. Jonas überlegte sich mögliche Antworten: Stringtheorie, Big Bang, Strömungsgleichungen, verallgemeinerte Feldtheorie. Doch der Professor schwieg.
„Denken Sie denn schon lange nach?“, war die zweite Frage, die Jonas stellte und die ebenfalls unbeantwortet blieb. Der Professor wandte sich ab und hastete zum Portal des ETH-Hauptgebäudes, wo er sich daraufhin für viele Tage Jonas' Blicken entzog. Aber der Junge spürte, dass an diesem Sommerabend mehr geschehen war als von Auge erkennbar. Tief in Friedemann de la Bruyère hatte sich etwas bewegt.
Wie aus dem Nichts erschien er tatsächlich wieder, als Jonas zwei Wochen später aus einer Vorlesung über Finanzmathematik schlenderte. Er trat zu dem Studenten und murmelte: „Weisst du, ich denke schon sehr lange nach.“ Die Erkenntnis schien ihn schwer zu treffen. Er sah bestürzt aus. Sein Haar war zerzaust und das Jackett trug er verkehrt. „Ich denke schon so lange nach ... Zu lange ... Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt lösen kann, das Problem.“ Da war ehrliche, tiefe Angst in seinen Worten.
„Was ist denn das Problem?“, wollte Jonas wissen. Aber der Professor biss sich auf die Lippen und verschwand in einem Seitengang. Er liess einen tief erschütterten Jonas zurück. Der junge Student hatte noch nie vergleichbarer Verzweiflung ins Gesicht gesehen. Zum ersten Mal tat ihm Friedemann de la Bruyère Leid.
Jonas wusste durchaus, wie brutal Mathematik sein konnte: Er hatte die Geschichten gehört von gescheiterten Mathematikern, die sich erhängten, erschossen, die ins Irrenheim eingeliefert wurden oder plötzlich glaubten, Gott zu sein. Mathematik war grausam, sie veränderte das Gehirn mit ihrer puren Logik, mit ihren zwölften Dimensionen, mit der Unendlichkeit, mit Schleifen und Axiomen. Für Jonas reichten schon die paar Beweise, die er in der Vorlesung über Informationstheorie und stochastische Prozesse herleiten musste, um ihm den Schlaf zu rauben. Aber ein richtig guter Mathematiker lebte ständig am Rande des Wahnsinns, das hatte er mal gelesen. Oder auch dass neben Liebe Mathematik die grösste Gefahr für den jungen Verstand sei.
War Friedemann de la Bruyère eine dieser gescheiterten Existenzen, die sich von einem mathematischen Problem bezwingen liessen. Dann, was war dieses Problem? Jonas war überzeugt davon, dass die Antwort auf den Zetteln zu finden sein musste, die der Professor gelegentlich beschrieb, dann zerriss und vernichtete. Doch es gelang dem Studenten nicht, die Notizen zu rekonstruieren. Worte waren auf den Papierfetzen zu erkennen, aber keine Gleichungen, kein Zusammenhang.
Letztlich beschloss Jonas, dass seine bisherige Strategie des geheimen Spionierens versagt hatte. Er brauchte eine neue Strategie. Er musste ein echtes Gespräch suchen – und dazu die Schwächen des Professors ausnutzen.
Essen.
Mit einem Sandwich aus der Mensa bewaffnet und für den Notfall mit Schokolade ausgerüstet setzte Jonas sich eines Morgens zu Friedemann de la Bruyère. Bevor sich dieser aus dem Staub machen konnte, bot Jonas ihm das Sandwich an. „Sie haben doch sicher Hunger, nicht?“
Skeptisch studierte der Professor den Studenten, aber das Angebot konnte er nicht ausschlagen. Er brummte ein knappes „Danke“ und öffnete die Plastikverpackung.
Jonas packte seine Schulsachen aus und fragte nebenbei, ob der Professor heute eine Vorlesung halte.
Kopfschütteln. Friedemann de la Bruyère schloss seinen Aktenkoffer. Fluchtbereit.
„Ich würde gerne mal sehen, woran Sie arbeiten“, erzählte derweil der Student. „Ich interessiere mich vor allem für Finanzmathematik und so, wissen Sie, aber auch für Zahlentheorie.“
„Mhm“, machte der Professor. Er schaute sich um. Der Raum war leer.
„Was ist Ihr Gebiet?“
„Das ist kompliziert.“
„Ich mag komplizierte Fragen.“
„Hören Sie“, zischte der Professor plötzlich und näherte sich dem Studenten, bis nur noch ein paar Zentimeter ihre Gesichter trennten. „Ich habe es in vierzig Jahren nicht geschafft. Versuchen Sie’s besser gar nicht. Es ist zu schwierig.“ Er biss in sein Sandwich, kaute nicht, schluckte alles runter. „Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich! Suchen Sie nicht nach Antworten, die es gar nicht gibt!“
Die Stimme des Professors hallte unheimlich durch die verlassenen Flure und Hallen der ETH und liess Jonas erschaudern. Er stand auf, kratzte sich an der Stirn, und sagte: „Wenn Sie das Problem lösen, sagen Sie's mir, bitte.“
Ein Jahr lang, zwei Prüfungssessionen, und nie sah Jonas den alten Professor wieder. Die ETH hatte ein neues Reglement eingeführt, das es Obdachlosen untersagte, in den Hochschul-Räumlichkeit zu übernachten. Die Hausmeister wanderten neuerdings jeden Abend um elf Uhr durchs Gebäude und scheuchte die Penner nach draussen an die Kälte. Freilich beeindruckte das Friedemann de la Bruyère nicht. Er lebte weiter im Labyrinth, aber zurückgezogener in seine Verstecke, aus denen er sich nur noch wagte, um Studenten um ihre Verpflegung zu berauben.
Jonas arbeitete in der Zwischenzeit an seiner Masterarbeit. Anstatt den alten Professor zu beobachten, nutzte er die Abende vermehrt, um nach hübschen Studentinnen Ausschau zu halten. Er hatte eine entdeckt, Sarah, zweiundzwanzig, Physikerin und sehr klug, mit traurigen Augen. Sie war immer alleine, doch Jonas war zu schüchtern um sich zu ihr zu setzen. Er hockte im Computerraum an den PC gegenüber. Er beobachtete sie in der Mensa, wie sie alleine das Vegi-Menu ass und traurig Erbsen mit der Gabel über den Teller schob. Er verfolgte sie in Vorlesungen und Übungsstunden, wo er sie aus Augenwinkeln beobachtete. Doch er sprach sie nie an.
Eines Tages, als es draussen kalt war und regnete, schlenderte Jonas durch die kahlen Gänge der ETH und konnte seine Gedanken nicht von Sarah ablenken. Ihm war klar: Einmal musste er sie ansprechen. Einmal musste er sie fragen, ob sie mit ihm ins Kino wolle oder gerne tanze. Einmal ... Jonas setzte sich an einen Tisch in der Bibliothek. In Ruhe überlegen. Ein Brief. Ein Liebesbrief. Er suchte einen Zettel aus seiner Tasche, nahm einen Schreiber, und notierte: „Liebe Sarah“. Aber das gefiel ihm nicht. Es war so – so simpel. Also strich er die Worte durch und schrieb stattdessen: „Schöne, verzaubernde Sarah“. Aber auch das war nicht gut, die Worte passten nicht, der Rhythmus war falsch, die Aussage zu sehr aufs Äussere reduziert. Er strich auch diesen Satz durch mit der Erkenntnis, dass es gar nicht so leicht war, eine Liebeserklärung zu verfassen. Eigentlich wollte er heute ja an seiner Masterarbeit schreiben, aber dazu hatte er jetzt keine Zeit: Zuerst wollte er dieses kleine Problem lösen.