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Hermann flieht
Als er aus dem Haus trat, hatte der Abend eben begonnen, in die graue Enge der Straße einzusickern.
Obwohl er noch mehr als ausreichend Zeit hatte, beeilte er sich. Seine Füße flogen über das rissige Pflaster, das Klackern, das sie dabei verursachten, wurde von den farblosen Häusern ringsum zurück geworfen. Es klang wie ein immer schneller werdender Trommelwirbel.
Hermann musste einen Moment inne halten, als die Welt um ihn zu schwanken begann. Er lehnte sich gegen eine Hauswand – es konnte nicht schaden, noch einen Moment zu verschnaufen.
Ein Blick die Straße hinauf zeigte ihm die Front der neuen Häuser, die ein Unternehmer aus Berlin dort innerhalb der letzten zwei Jahre gebaut hatte – breite, prächtige Häuser, Zeugen des Selbstbewusstseins derjenigen, denen die Reichsgründung Wohlstand gebracht hatte. Schön waren diese Häuser anzusehen, schon wie sie standen war herrlich: An einer breiten Allee, nicht so aneinandergedrängt und gebeugt wie jene in Herrmanns Straße.
Die fahle Gestalt eines spät heimkehrenden Arbeiters erschien vor den neuen Gebäuden; langsam schlurfte er in Hermanns Richtung, nur um endlich in einem Hauseingang zu verschwinden. Sonst lag alles verödet.
Noch vor ungefähr acht Jahren hatte Hermann mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft zu etwa dieser Stunde hier gespielt, dafür war der Platz noch ausreichend gewesen. Doch nun waren fast alle fort. Johann Aberlin, der schon immer mit seiner Gesundheit zu kämpfen gehabt hatte, war gestorben – an irgendeiner Kinderkrankheit, Hermann wusste es schon nicht mehr genau. Die meisten anderen waren einfach weggezogen. Mit Rainer Köfler, einem kräftigen Burschen, nur zwei Jahre älter als Hermann, war nicht mehr viel anzufangen – man erzählte sich, er sei schwachsinnig geworden. Jedenfalls traf man ihn nicht mehr an.
Hermann versuchte, den Gedanken an ihn abzuschütteln und ließ seine Blicke in die andere Richtung schweifen.
Da war der Laden des alten Schor – blind starrten seine staubigen Fenster über den schadhaften Beton. Frau Schor hatte den Laden gleich nach dem Tod ihres Mannes aufgegeben. Es hieß, dass sie jetzt in Hamburg lebte.
Alle zog es fort – warum sollte Hermann eine Ausnahme bilden?
Weiter schweiften seine Blicke die freudlose Eintönigkeit der Fassaden entlang, bis sie das Fenster seiner Kammer fanden. Der Anblick der schweren Vorhänge, hinter denen er sein bisheriges Leben verbracht hatte, machte ihn schaudern. Mit feuchten Fingern berührte er das Ticket in seiner Tasche wie einen Talisman.
Nein, es hatte keinen Sinn, hier zu bleiben – und wenn sein Vater in dieser Hinsicht auch noch so starrsinnig war. Seine Metzgerei warf kaum mehr genug zum Leben ab, immer weniger Kunden erschienen dort und wenn Hermann den Laden einst würde übernehmen müssen, hätte er womöglich gar nichts mehr zu tun.
Am meisten tat es ihm leid, seine Mutter zurück zu lassen. Doch da war nichts zu machen und instinktiv spürte Hermann, dass sie von hier nicht mehr würde entkommen können – hatte man erst einmal zu lang in dieser beklemmenden Gasse gelebt, so umschlang sie einen fest und hielt einen umklammert, bis einem die Luft ausging.
Wieder wurde Hermann schwindlig, doch er wusste, dass weiteres Verharren diesmal nicht helfen würde. Er riss sich los und entfernte sich mit großen Schritten von seinem Elternhaus.
Wieder sah er die Bauten des reichen Berliners, größer und größer wurden sie, zuletzt beinah einschüchternd.
Ja, Leute, die solche Häuser bauten, die waren es, die sich das Bleiben leisten konnten! Leute, die in den abenteuerlichen Jahren bis ’73 ihr Glück gemacht hatten und schlau genug gewesen waren, in der folgenden Krise nicht gleich wieder alles zu verlieren.
Oft hatte Hermanns Vater über sie geschimpft, über die „Geldmacher“, das „Kapitalisten-Gesindel“. Ihm schienen sie wie eine gegen ihn verschworene Gemeinschaft aus großbürgerlichen Zylinderträgern, jüdischen Halsabschneidern und ostelbischen Junkern.
Dabei hatte die enge Straße im hintersten Winkel von Wilhelmshaven eigentlich nicht viel mitbekommen von der Reichsgründung, vom Wirtschaftswunder und der Wirtschaftskrise. Einzig der versoffene Schuster Meyer vom Ende der Straße gab alle Jahre wieder seine Geschichten von der Schlacht bei Sedan zum Besten.
Die stummen Häuserzüge und die zerklüftete Straße waren von den großen Ereignissen in der Welt völlig unbeeindruckt geblieben – nur ein bisschen älter waren sie geworden.
Deutlich spürte Hermann, dass es ihm hier nur ähnlich ergehen könne, wenn er bliebe; dass man hier nichts anderes konnte, als älter werden, auf ewig ausgeschlossen vom Lauf der Dinge.
Nun hatte sich auch die Sonne aufgemacht in ferne Länder, noch einmal beschleunigte Hermann seine Schritte. Er musste fort und er würde fort kommen. Er würde nicht einfach warten, bis Monotonie und unerfüllte Hoffnung ihm das gleiche antaten wie Rainer.
Ein überschwänglicher Triumph erfüllte seine Brust, als er sah, welches Schnippchen er seinem eigenen Schicksal zu schlagen im Begriff war und er lachte, lachte laut aus. Vor Übermut begann er zu rennen. Was machte es schon, wenn sie gerade jetzt ihre schweren Vorhänge zur Seite schoben und ihn sahen, wie er lachend die Straße hinabrannte?
Sollten sie doch nur den Kopf über ihn schütteln, er war es schließlich, der davon kam, auf den schon ein neues, besseres Leben wartete!
Immer rascher trugen ihn seine Füße, lauter und schneller wurde der Trommelwirbel, doch nun war da kein Unwohlsein mehr in Hermann, wie er ihn vernahm, denn er nahm ihn als Beifall –
Heftig erschrak er, als er um die Ecke bog dabei und mitten in eine hünenhafte, düstere Gestalt hineinrannte. Gerade wollte er sich entschuldigen, da verdoppelte sich der Schrecken, steigerte sich in eiskaltes Grauen, als er die blassen, ausgemergelten Züge Rainers erkannte. Ohne sich zu bedenken sprang er von dem Schrecklichen fort.
Dieser blickte ihn mit einem bohrenden Fragen in den tief liegenden Augen an und brachte etwas über die schmalen Lippen. Hermann verstand es nicht richtig, gut möglich, dass es sein Name gewesen war –
Es war ihm egal, er rannte fort, die enge Straße und den schwachsinnigen Hünen hinter sich lassend.
Hermann hatte seine freien Stunden schon immer gern am Hafen verbracht, doch nie war dieser ihm so groß und bedeutsam erschienen, nie hatte er ihm schlicht den Atem genommen. Sein angespannter Geist war einfach nicht mehr in der Lage, die vielen Eindrücke, die auf ihn einstürmenden Bilder zu trennen und zu sortieren, er nahm alles zugleich wahr: Die umhereilenden Personen, Männer, Frauen, Kindern, die Lichter von den Gebäuden um den Hafen, von den Gaslaternen, wie sie sich im dunklen Wasser widerspiegelten, das Stimmengewirr, das Quietschen, das Ächzen – vor allem aber die leicht hin und her schwankenden Schiffe, deren vollen Umfang er nur erraten konnte und die in der Beinahe-Dunkelheit wie wunderschöne, stählerne Bestien anmuteten.
Dieses dort musste das seine sein. Es war noch größer und majestätischer als all die andern. Das muntere Lichterspiel aus seinen Bullaugen schien ihn zu locken, die die Luft erfüllenden Schiffssirenen wurden Hermann zu feierlichen Abschiedsrufen an seine alte, ungeliebte Heimat.
Die Wassermassen aller Ozeane lagen vor Hermann ausgebreitet, nur darauf wartend, dass er über sie seinem neuen Leben entgegen ging – nicht mehr lang und er wäre in Amerika, um dort sein Glück zu machen.
Alles war in Bewegung und der Trubel bereitete ihm Kopfschmerzen – die Zeit an Bord zu gehen, war noch nicht gekommen. Er entfernte sich ein Stück weit vom schlimmsten Betrieb und lehnte ich an die Wand eines Hafengebäudes. Hier hatte er Luft zum Atmen und konnte, so er wollte, doch immer noch alles überschauen.
Während er nun ruhiger wurde, entdeckte er ganz in seiner Nähe, halb im Lichte einer Laterne, einen Andern, der es ihm gleichtat, der gleichfalls etwas abseits stand und die Szene beobachtete.
Gleich auf den ersten Blick sah Hermann, dass er es hier mit jemandem zu tun hatte – dass der Fremde ein echter Kerl war, einer, dem das Leben eine Form verliehen hatte, die ihm nicht mehr zu nehmen war. Ja, im weißen Gaslicht erschien er Hermann wie eine Statue, ein Werk des göttlichen Bildhauers.
Die Züge des Kerls – Hermann sah ihn im Profil – waren die von einem, der gelebt hatte. Sie waren gezeichnet von Freud und Leid, die Geschichte eines bewegten Lebens war in ihnen zu lesen.
Ähnlich war es mit den Augen: All das, was sie im Laufe vieler Jahre gesehen haben mussten, kochte und brodelte in ihnen.
Seine Haltung war ein Ausdruck unermüdlicher Tüchtigkeit. Er stand da, als wäre er bereit, jeden Augenblick los zu marschieren, zu tun, was er tun musste oder tun wollte.
Hermanns Herz schlug unwillkürlich höher beim Anblick dieser prächtigen Menschen.
Ein Anderer, ein hagerer Herr mit Melone ging an dem Fremden vorüber, dieser hob ruckartig die Hand, berührte ihn bei der Schulter und sagte etwas, das Hermann nicht verstehen konnte. Ein leises Lächeln spielte dabei um seine Lippen.
Hermann glaubte das Bild richtig deuten zu können: Der Fremde hatte einen alten Bekannten wiedererkannt. Doch dieser schaute nur fragend, schüttelte den Kopf und ging weiter. In einem Anflug von Bitterkeit verzog sich das Gesicht des bewunderten Fremden.
Dann bewegte er den Kopf, nur minimal, doch so weit, dass sein Gesicht nicht länger im Zwielicht, sondern im vollen Lichte der Laterne war. Mit einer müden Geste hob er eine Hand; diese umklammerte eine Flasche, die er nun an die Lippen setzte.
Von Entsetzen ergriffen erkannte Hermann nun die wahre Natur des Fremden; dass er eben nichts weiter war als dies: Ein Fremder. Dass er ihn bis eben missverstanden hatte. Dass zum Großteil Gram diese Züge zerfurcht hatte, dass es Angst und alter Schrecken waren, die hinter diesen Augen tobten.
Der Fremde: Er war ein Ausgestoßener, einer, der sich selbst ausgestoßen hatte, vor vielen Jahren; ein Heimatloser in jedem Land der Erde. Einer, der sich selbst verloren hatte, irgendwo auf der Überfahrt von einer ungastlichen Küste zur nächsten, dessen Träume unter den Wasserbergen des Ozeans ruhten.
Nur zu gern wäre der Fremde entkommen, hätte die Form, die das Leben ihm einst aufdrückte, abgestreift wie einen alten Mantel – doch er konnte nicht. Er konnte nirgendwo hin. Denn er war überall und immer der Fremde und überall und auf ewig war er fern der Heimat.
Vermutlich war er sogar sich selbst ein Fremder.
Noch für einen Augenblick blieb Hermann reglos stehen. Er sah jetzt nur noch den Fremden. Wie unter Krämpfen sprang dessen Kehle vor und zurück, während er den Inhalt der Flasche in sich hinein kippte.
Hermann rannte – wieder. Er rannte davon vor einem Schicksal, dass sich ihm als genau so unerträglich offenbart hatte wie jenes, dem er gerade entronnen war.