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Herr Blumental
Herr Blumental
Wenn man einen Haufen Geschwister hat, passieren die komischsten Dinge. Jetzt erzähle ich euch von Grete, meiner kleinen Schwester. Sie ist fünfeinhalb. Und von Herrn Blumental, der sie eines Tages besuchte.
Ich kam an einem Mittag nach Hause; hatte mich auf dem Heimweg sehr beeilt, um noch vor dem Mittagessen schnell die Hausaufgaben zu erledigen und den ganzen Nachmittag für meine Lieblingsdinge zu haben. Grete öffnete mir die Tür noch bevor ich klingeln konnte und sagte, ohne ein Wort der Begrüßung: „Anna, weißt du, Herr Blumental ißt heute mit uns!“ „Wer ist Herr Blumental?“ wunderte ich mich, „und wo ist er denn?“ „Na, hier direkt neben mir“, antwortete Grete, als würde sie sich wiederum über meine Unwissenheit wundern. Ach so, es handelte sich also um eine von Gretes Phantasiefiguren, mit denen sie angeblich die merkwürdigsten Abenteuer erlebte. Ich wollte mich an ihr vorbeidrängen und in mein Zimmer verschwinden, aber Grete hielt mich auf. „Herr Blumental hat Mama Blumen mitgebracht“, erzählte sie, „er hat ihr einen Handkuß gegeben und sich für die Einladung bedankt. Er hat einen Riesenhunger und will die größte Portion haben. Papa hat er auch schon begrüßt und nun die ganze Zeit mit mir auf euch gewartet. Hoffentlich kommen Karl und Jana bald.“ „Jana hat heute siebte Stunde“, entgegnete ich, „wir essen etwas später. Und Karl müßte bald kommen. Geh doch noch mit Herrn Blumental im Spielzimmer spielen und laß mich meine Hausaufgaben machen. Hallo Mama!“, rief ich Mama zu, die mich erst jetzt entdeckt hatte. „Mama!“ rief Grete, „Herr Blumental hat Hunger. Wann essen wir?“ „Gretchen, wenn du Hunger hast, dann nimm dir einen Apfel, es dauert noch ein Weilchen. Und gib Herrn Blumental etwas ab“, erwiderte Mama lächelnd. „Neeeeiiiin, Herr Blumental will keinen Apfel, er ist weit hierher gereist. Es ist nicht freundlich, ihn jetzt nicht an den Tisch zu bitten. Er wartet die ganze Zeit auf das Essen. Dafür ist er doch gekommen“, quengelte Grete. „Hab Geduld, Grete“, sagte Mama und verschwand wieder in der Küche. Ich versuchte, mich davonzustehlen, aber Grete war mir dicht auf den Fersen. „Du hast Herrn Blumental noch nicht guten Tag gesagt“, beschwerte sie sich. „Ihr seid alle blöd zu ihm. Es ist reineweg ein Wunder, daß er überhaupt noch mit euch zusammen essen will!“ „Guten Tag“, sagte ich etwas gereizt und rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer. Grete schimpfte hinter mir her, verschwand dann aber bei Mama in der Küche, und ich wette, dort beschwerte sie sich weiter über unser Ungehobeltsein.
Ich preschte im Zimmer meine Rechenaufgaben auf’s Papier, las im Lesebuch zwei Seiten durch und zeichnete eine Streichholzschachtel von schräg oben. Dann mußte ich noch einen etwas albernen Aufsatz schreiben: „Mein schönster Ferientag“. Mein schönster Ferientag war natürlich gewesen, als ich meine neue Freundin, Frau Poschitz, kennenlernte, aber das ging die Lehrerin nichts an. Ich schrieb also über einen Badeausflug, den wir mit der ganzen Familie gemacht hatten, und es ist ein großes Glück, daß mir immer so viele Gedanken und bissige Sprüche, wie Papa sie nennt, einfallen, sonst wäre das ganze Unterfangen wohl recht langweilig gewesen.
Als ich fertig war, las ich noch ein Kapitel in „Tom Sawyers Abenteuer“ und eines in den „Lausbubengeschichten“, so daß ich beinahe die Essensglocke überhört hätte.
Mein Platz war immer der neben Grete zur einen und Karl zur anderen Seite. Am Kopf des Tisches saß Mama, seitlich daneben Frieder im Hochstuhl, dann Jana und dann Papa. Das andere Tischende war unbesetzt und war dafür der Ablageplatz für die Obstschüssel. Ich kam gerade ins Eßzimmer, als ich Grete hörte: „Warum sind nur sieben Teller auf dem Tisch? Wer ißt denn nicht mit?“ „Haha“, rief Karl, „wir sind doch sieben!“ „Neeeiiiin, wir haben doch Besuch. Hier sitzt Herr Blumental“, sagte Grete und deutete auf meinen Platz neben ihr, an den ich mich gerade setzen wollte. „Nein, Anna, du darfst dich doch nicht einfach auf Herrn Blumental setzen. Dann kriegt er ja einen Riesenschreck. Da sitzt er heute.“ „Herr Blumental kann da sitzen“, erwiderte ich und zeigte auf den freien Platz. „Hol ihm halt noch einen Teller aus der Küche.“ „Neeiiin, Mama, Herr Blumental sitzt neben mir“, brüllte Grete, „du mußt dir noch einen Teller holen, Anna.“ Papa lachte vergnügt, aber Mama sagte: „Grete, dann bitte Anna, heute mal Herrn Blumental ihren Platz zu leihen und sich ans Kopfende zu setzen. Und hol ihr einen Teller.“ „Nun reicht’s aber!“, rief Grete, „wenn man Besuch hat, dann muß man ihm doch wohl sofort den besten Platz anbieten und das beste Geschirr und den besten Saft!“ Papa wieherte vor lachen und Jana stöhnte. Damit es nicht noch länger dauerte, bis wir mit dem Essen beginnen konnten, holte ich mir einen Teller aus der Küche und setzte mich ans Kopfende des Tisches. „Nun muß Herr Blumental als erster Essen bekommen“, kommandierte Grete und hielt Papa Herrn Blumentals Teller hin. „Nun Grete“, sagte Papa, der die eine Gemüseschüssel in der Hand hielt, um allen davon aufzugeben, „unsichtbare Leute kriegen unsichtbares Essen, okay?“ „Neeeiiin,“ schrie Grete, „kann man das glauben? Herr Blumental ist schon sehr beleidigt! Er bekommt die besten Bissen, das ist doch klar, oder? Diiieesen Brokkoli und dort von deeen Pilzen. Die allergrößten will er haben. Und Salat, versteht sich.“ „Wenn du auch von seinem Teller ißt, dann geht das in Ordnung“, sagte Papa belustigt. „Ich kann doch nicht von seinem Teller essen!“, sagte Grete und starrte Papa an, als wäre der verrückt geworden. Man kann doch seinem Gast nicht wegessen, was man ihm gegeben hat.
Es dauerte eine ganze Weile, bis wir alle Essen auf unseren Tellern hatten, und Grete hatte es schließlich geschafft, daß auf Herrn Blumentals Teller zumindest ein Brokkoliröschen, zwei Pilze, eine halbe Kartoffel und in seiner Salatschüssel zwei Blättchen Salat lagen. Sehr zufrieden begann sie zu essen. Auf einmal rülpste sie sehr laut. „Grete!“ sagte Mama streng, „Geht das auch leiser?“ „Das war doch der Herr Blumental!“ sagte Grete und dann: „Pfui, Herr Blumental, geht das auch leiser?“ Sie schaute schräg und ruhig auf den leeren Platz, als hörte sie zu, und sagte dann: „Mama, Herr Blumental sagt, da wo er wohnt, rülpst man, wenn man sich für das Essen bedankt. Es heißt, daß es gut geschmeckt hat.“ Und dann – rülpste sie noch einmal laut. „Mensch Grete“, rief Jana laut, „das finde ich ekelig. „Mensch Jana“, rief Grete, „hörst du nicht, was ich sage? Das ist doch Herr Blumental.“ Dann kippte Grete mit voller Absicht ihr Wasserglas um. „Das war auch Herr Blumental!“ rief sie triumphierend. „Wo er herkommt, heißt das, daß man genug getrunken hat.“ Und noch ehe jemand reagieren konnte, nahm Grete die Kartoffelschüssel, in der noch ein paar Pellkartoffeln lagen, und kippte sie mit Schwung um, daß die Kartoffeln nur so über den Tisch kullerten und Frieder laut juchzte. „Das macht Herr Blumental, wenn er satt ist und keine Kartoffeln mehr mag. Haha!“ Da sprang Mama auf und hatte ein so ärgerliches Gesicht, daß Grete sich wieder hinsetzte und schwieg. Ich war sehr gespannt, was Mama machen würde. Sie ging zum leeren Platz, holte tief Luft und sagte: „Lieber Herr Blumental. Wir danken Ihnen sehr für Ihren Besuch und hoffen, daß sie wohl gespeist haben. Wenn Sie sich nun sehr beeilen, werden Sie noch den 3-Uhr-Zug erreichen, um wieder nach Hause zu fahren. Ich bringe Sie zur Tür.“ Und Mama tat so, als hakte sie sich unter und verschwand sehr heftig auftretend im Flur. Papa beeilte sich, die Kartoffeln wieder einzusammeln und einen Lappen zu holen.
Herr Blumental war seitdem nicht wieder bei uns. Dafür aber wohnt jetzt im Spielzimmer ein unsichtbares kleines, artiges Mädchen mit Namen Liselotte Annemaria Helmine. So ist Grete!