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Herr der Schmerzen und des Krieges
In Blut ertränkte Königreiche hatte er gesehen wie Herrscher Rubine. Der Geschmack von verkohltem und verfaulten Fleisch lag ihm noch angenehm süß auf der Zunge. Die Rauschwaden brennender Dörfer hatten für ihn eine anregendere Wirkung als Opium. Aber das war alles schon so lange her gewesen. Königreiche? Heute regierte das Volk! Rauchschwaden, brennende Dörfer, verfaultes Fleisch? Vergangenheit! Zumindest für ihn.
Er zog an seinem Zigarettenstummel, warf ihn missmutig auf den steinigen Boden und trat die übriggebliebene Glut mit dem Fuß aus. Seine schwarzen Haare hingen ihm ungeschnittenen und fettig ins Gesicht, welches von einem verfilzten Bart überwuchert wurde. Sein Gewand aus edlem Tuch war dreckig, stank wie eine Rinderhorde und hatte mit der Zeit Löcher bekommen. Depressiv starrte er vor sich in den milchigen Schleier, der sich ihm unmerklich näherte. Am Anfang, das war schon Jahre her, hatte er ihn nicht wahrnehmen wollen, hatte ihn ausgeblendet. Nun war es zu spät. Trotzdem konnte er es immer noch nicht glauben. Das sollte es nun gewesen sein? Für immer?
Der letzte hatte vor wenigen Augenblicken den Glauben an ihn verloren, obwohl sich Gewalt heute doch besser als alles andere verkaufte. Aber er war wohl zu konservativ für diese Welt geworden. Seine Überzeugungswerkzeuge waren Feuer und Schwert, nicht seitenlange Verträge, barbusige Katalogsschönheiten oder Drogeninserate. Er war Hades und nicht der Teufel.
Der letzte Weltkrieg war schon zu lange her gewesen und dessen Opfer hatte er mit anderen Spinnern teilen müssen. Merkwürdige Götter hatten heute Hochkonjunktur. Selbst der Teufel bekam Schwierigkeiten. Musste vor kurzem sogar ein Strategiepapier für die Unterbelegung von Hotels für die Hölle adaptiert. Hades schüttelte düster den Kopf. Verkehrte Welt! Nicht einschüchtern, sondern einbalsamieren, hieß heute die Parole.
Der Beelzebub glaubte immer noch an den wiederkehrenden Aufschwung. Wie er selbst, früher. Jetzt wusste er, dass dieser nicht mehr kommen würde. Sein letztes Sandkorn fiel soeben zu Boden. Er würde nicht einmal mehr Zeit haben, seinen ehemaligen Rivalen, den Teufel, zu warnen. Aber selbst wenn, was würde es schon bringen? Das Problem war wie eine verdammte Rakete, die auf eine Mauer zuraste – unaufhaltsam.
Was würde ihn wohl hinter dem milchigen Schleier erwarten? Würde ihn etwas erwarten? Menschen kamen in den Himmel oder die Hölle, fanden sich in unendlichen Schlachten wieder oder auf dem Olymp. Aber ein Gott? Angestrengt kniff er die Augen zusammen. Doch er konnte nicht durch den Schleier blicken. Wie zu dichter Nebel. Traurig blickte er sich um. Er hatte an der Welt nur die Kriegsschauplätze geschätzt, aber jetzt, wo er sie verlassen musste, war selbst dieser Ort zauberhaft schön. Die Blumen, welche der Schleier noch nicht verschluckt hatte, die wenigen Sonnenstrahlen, die der Morgen schon brachte. Früher hätte er es als ekelhaft romantisch abgetan.
Plötzlich hatte er Angst. Wütend schüttelte er sich. Er war Hades! Nicht Goethe! Hätte er damals sein jetziges ich sehen könne, er hätte höhnisch gelacht. Er kannte keine Angst! Er nährte sich von Angst!
Entschlossen schritt er auf den Schleier zu. Wenn es das Ende sein sollte, dann bitteschön!
Nein, nach zwei Schritten blieb er wieder stehen. Ob man wohl davor weglaufen könnte? Aber in welche Richtung? Der Schleier hatte ihn eingekreist.
Hätte er doch bloß die 35.000 Gläubigen vor fünfzig Jahren nicht auch noch bei Pokern an diesen aalglatten Masochisten verloren. Er hätte wenigstens noch ein paar Jahre gehabt.
Plötzlich ertönte ein zischendes Geräusch neben ihm. Sein Kopf ruckte herum. Sein Blick fiel auf ein abgemagerten Jüngling mit Dornenkranz auf dem Haar. Blut floss aus mehreren seiner Wunden. Während er an einem Glimmstängel zog, blickte er Hades aus glasigen Augen an.
„Jesus, du hier? Ich dachte immer du hättest so viele...“
Der als Jesus angesprochene wedelte lässig mit der Hand. „Friede sei mit dir, Hades. Sorge dich nicht um uns! Solange Mohammed noch atmet, haben wir nichts zu befürchten. Aber Papa und ich machen uns in unserer unendlichen Güte Sorgen um dich.“
„Ach, ja?“ Hades hob eine Augenbraue.
Sein Gegenüber nickte eifrig und hielt Hades die Zigarette hin. „Auch mal?“
Hades schüttelte den Kopf.
„Wie auch immer“, hob Jesus an. „Wir schenken dir zweihundert Gläubige. Sogar Fanatiker. Von denen haben wir zur Zeit sowieso zu viele. Du stehst sonst aufm Trockenen, nicht?“
Plötzlich blitze in Hades Augen wieder barbarische Wildheit auf. „Das wollt ihr doch nicht ernsthaft...?“, zischte er säuselnd.
Jesus lächelte selbstherrlich. „Doch, doch. Das wollen wir in unserer unendlichen Güte. Wir lieben alle, Hades. Selbst dich. Egal ob Mensch oder Gott.“
Jesus schnippte seine Zigarette zu Boden und rückte seine Dornenkrone zurecht. Missmutig auf den Schleier blickend sagte er: „Ich muss wieder. Komm doch mal in nächster Zeit bei uns vorbei. Papa würde sich garantiert freuen. Und setzt die Fanatiker gut ein, sonst“, er schüttelte den Kopf, „mich macht dieser Schleier schon so verrückt.“
Dann war er wieder verschwunden. Im selben Moment entfloh auch der Nebel, wie ein schlechter Spuk. Dahinter erhob sich soeben die Sonne in den Himmel und tauchte den Horizont in blutrote Farbschattierungen.
Guter Laune schüttelte Hades den Kopf. Aus den Götter, die nach ihm gekommen waren, wurde er nicht schlau. Zum Glück waren ein paar dabei, die mussten auf Teufel komm raus, den Wohltäter raushängen lassen.
Er wühlte in seiner Gewandtasche und förderte einen zerknitterten Zettel zum Vorschein Dr. Prof. Lamm & Dr. Prof. Fromm, Gewalt im 21. Jahrhundert als ästhetische Kunstform, stand darauf geschrieben. Dahinter eine Telefonnummer. Der Teufel hatte ihm die beiden empfohlen. Noch vor kurzem hatte er gedacht, er würde ohne sie auskommen. Aber nun würde er sie konsultieren. Modernisierung war angesagt. Er würde diese extreme Erfahrung sozusagen als spirituellen Wendepunkt nutzen. Weg mit der griechischen Antike und ihren Werten von Ehre und Mut. Her mit Ruchlosigkeit und Massenvernichtungswaffen! Rosarote TV-Sendungen und die schillernden Parties der Waffenlobby würden seine Boten werden. Er leckte sich die Lippen. Fäulnis und Tod konnten auch glitzernd verpackt werden.
Grimmig nickend rückte er eine dezenten Designerkravatte unter einem sportlichen Anzug zurecht. Seine blauen Augen blitzen verführerisch auf. Mit einem mörderischen Lächeln auf den Lippen schlenderte er pfeifend dem Sonnenaufgang entgegen.
Oh happy day
When Jesus washed
When Jesus washed
Jesus washed
Washed my sins away
Oh happy day