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Herr R.
Herr R. trug schwarz. Wie immer. Langsam und unter ohrenbetäubendem Quietschen wurde der Sarg in das Grab gesenkt. Die Menschen standen da, schweigsam, den Blick nach unten, in Trauer. Nur ein Mann in der allerletzten Reihe sah ungerührt zu, wie der Sarg eingelassen wurde. Herr R. Herr R. trug zu seinem schwarzen Mantel einen schwarzen Hut und eine kleine, runde, rahmenlose Brille. Unter der Hutkrempe lugte ein Rest von Haaren hervor, und auf der Wange prangte ein Pickel. Herr R. war von leicht untersetzter Statur, und machte insgesamt einen sehr unauffälligen Eindruck. Ein Mensch, den man gar nicht richtig wahrnahm. Wenn es eine Farbe für einen solchen Menschen gibt, dann Grau. Nicht Schwarz. Grau. Niemanden in der Trauergruppe fiel er auf, niemand wusste auch, dass er den Verstorbenen gar nicht persönlich kannte. Erst in der vorangegangenen Totenmesse erfuhr Herr R. etwas darüber. Der Verstorbene, Herr G., war ein Angestellter mittleren Alters und starb schwer krank. Krebs. Er hinterließ eine Frau und keine Kinder und wurde als vorbildlicher und guter Mann in der Gemeinde beschrieben. Besondere Eigenschaften oder Interessen schien er keine gehabt zu haben. Die Frau weinte zwar etwas, schien aber sonst ziemlich gefasst. Sie war wohl vorbereitet gewesen. Die anderen Menschen, es waren so an die zwanzig, waren sehr formell und korrekt. Keine großen Gefühle. Kein Leichenschmaus danach. Jeder ging seiner Wege. Auch Herr R. Herr R. ging nach Hause.
Zu Hause nahm er seinen Mantel ab und setzte sich ans Fenster. Er sah nach draußen, ohne dass er dabei irgendetwas beobachtete. Er sah einfach nur vor sich hin.
Herr R. ist alt. Lange hat er auch nicht mehr. Auf fremde Begräbnisse geht Herr R. jetzt schon mittlerweile seit gut vierzig Jahren. Angefangen hat das, als er noch ein Jüngling war. Er hat zeit seines Lebens als Friedhofsgärtner gearbeitet. Das konnte er gut, und darauf war und ist er auch stolz. Mittlerweile ist er seit ein paar Jahren pensioniert, er verlor auf diese Weise eine Arbeit, die für ihn mehr als nur ein Job war. Es war eine Lebenseinstellung. Das warf zwar einen derart kontrollierten Menschen wie ihn nicht aus der Bahn, da er so was immer kommen hatte sehen, so wie er auch jetzt sein nahes Ende sieht, demontierte ihn und seine von Natur aus spärlich vorhandenen Kräfte jedoch jeden Tag etwas mehr.
Herr R. hat niemals in seinem Leben eine Person gehabt, die er als Freund bezeichnen konnte. Bekannte und Berufskollegen sehr wohl, aber das war es auch schon. Er hat keine Frau und hatte niemals eine, genauso wenig wie Geschwister. Er ist somit als eine Person zu bezeichnen, die keinerlei soziale Kontakte pflegt.
Seine Eltern wurden aus dem Leben gerissen, als er sechs war. Da auch seine Eltern keine Geschwister und Verwandten hatten, wurde er ins Internat gesteckt. Dort wuchs er heran, unter Gleichaltrigen, die ihn zwar niemals hänselten oder gar hassten und verprügelten, aber auch nicht wirklich beachteten. Er führte schon damals ein sehr monotones Leben, das aus seinen täglichen Pflichten und seiner Freizeit bestand, die er wie heute auch schon damals hauptsächlich mit Spazieren gehen und aus dem Fenster gucken verbrachte. Da er die Natur gern hatte, erwachte in ihn der Berufswunsch, Gärtner zu werden. Nach dem Abschluss des Internats sprach er bei der Friedhofsgärtnerei vor. Er bekam den Job auf der Stelle und behielt ihn auch bis zu seiner Pensionierung. Herr R. war niemals in einer Disko, geschweige denn am Abend in der Stadt. Sein Leben bestand fortan aus seiner Arbeitszeit und Feierabend. Am Sonntag gönnte er sich etwas Abwechslung, indem er fernsah und spazieren ging. Wenn er Urlaub hatte, schlief er eine halbe Stunde länger. Natürlich träumte sogar ein Mensch wie Herr R. in seinen jungen Jahren von einer Frau. Er wusste ja nur nicht, wie man eine bekommt. Er war der Meinung, dass alles irgendwie auf ihn zukommen würde. Nein, eigentlich hatte er auch hier nicht wirklich diese Meinung. Er machte sich eigentlich kaum Gedanken darüber. Man könnte sagen, dass mit dem Tod seiner Eltern auch sein Gehirn aufgehört hatte zu denken. Ja, eigentlich war er ab diesem Moment für sein restliches Leben tot. Sein einziges Verhalten, was ihn als lebendig kennzeichnete, war die tägliche Nahrungsaufnahme. Aber auch diese erledigte er mit der maschinenhaften Ruhe eines Uhrwerks. Durch nichts war Herr R. aus der Bahn zu bringen, er hatte, wenn man so will, totale Kontrolle über sich selbst. Es wäre ja eine sehr trostlose Sache, wenn es bis an sein Lebensende so weitergegangen wäre, aber da gab es dann zum Glück dieses Ereignis, das Herr R. zu einer Beschäftigung brachte, die ihn noch mehr ausfüllte als sein Beruf. Mittlerweile weiß er ja gar nicht mehr, warum er täglich auf fremde Beerdigungen geht, aber es gab da einen Anlass, der ihn zu seinem ersten Schritt bewog.
Während er nämlich als junger Friedhofsgärtner die Gräber pflegte, hörte er unweit eine sehr zu Herzen gehende Bestattung. Sie war ziemlich laut, viele Leute schienen zu weinen. Herr R. unterbrach seine Tätigkeit und begab sich zu der Szene. Angst zu haben, dass man ihn bemerken würde, hatte er nicht, denn er wusste sehr gut um seine Fähigkeit, unauffällig zu sein, und das machte er sich hier zu Nutze. Er sah, dass ungewöhnlich viele Kinder mit ihren Eltern hier waren. Es war überhaupt eine größere Trauergemeinde, sicher über fünfzig Leute. Sehr viele Kinder weinten, den Erwachsenen, die die Fassung behielten, merkte man ihre Mühe an, und Herr R. sah, wie sich die Trauer in ihr Gesicht regelrecht eingrub. Im Zentrum der Trauergemeinde war eine junge Frau, sie hatte rotblondes Haar und war ziemlich hübsch. Herr R. hatte sich sofort in sie verliebt, obwohl er das gar nicht bemerkte. Aber unbewusst war das auf jeden Fall so. Was Herr R. in diesem Schlüsselmoment auch nicht merkte, was aber definitiv so war: Er hat eine überaus empfindliche Antenne für die Emotionen anderer Leute. Er scheint zwar selbst völlig frei davon zu sein, weiß aber intuitiv, wie sich ein Mensch wirklich fühlt, selbst wenn dieser wie Putin oder so dreinschaut.
Die junge Frau war am Ende ihrer Kräfte und musste von zwei anderen Leuten gestützt werden. Auf dem Holzkreuz standen die Namen vierer Personen. Aufgrund von Geburts- und Todestag war es offensichtlich, dass es sich dabei um ihren Mann und drei kleinen Kindern im Alter von sechs, sieben und acht Jahren handeln musste. Herr R. empfand zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie ein Gefühl, diese Sache ließ ihn nicht kalt. Man muss bedenken, wenn Herr R. zum ersten Mal so etwas wie ein Gefühl, eine innere Regung empfindet, ist das so, wie wenn ein Durchschnittsmensch gleichzeitig weint und einen Lachkrampf bekommt.
Für Herrn R. blieb diese Begegnung einscheidend. Vor allem scheint sie ein Erlebnis aus seiner Kindheit hervorgeholt zu haben und auch die junge, hübsche Frau mit ihrer grenzenlosen Trauer erregte etwas in ihm. Selbst wenn Herr R. der größte Draufgänger wäre, er konnte nicht einfach die Frau anmachen. Geschweige denn, sich weiterhin mit ihr auseinander zu setzen. Doch als Herr R. an dem Tag nach Hause ging, da spürte er, dass er den nächsten Tag so etwas wieder gerne machen würde. Ja, er freute sich regelrecht darauf. Endlich hatte Herr R. einen Sinn in seinem Leben gefunden, etwas, das ihn ausfüllt, neben seiner Arbeit. Und sollte an „seinem“ Friedhof an einem Tag gerade niemand beerdigt werden, guckte er nach der Arbeit einfach woanders hin. Sterben tun die Leute ja immer. Manchmal kam es vor, dass er die Stadt umsonst nach Beerdigungen abgesucht hatte, was ja auch daran lag, dass nach Feierabend kaum welche stattfinden. Aber umso mehr freute er sich, wenn er einschlafen konnte und nicht wusste, was der nächste Tag bringen würde. Und wenn dann am nächsten Tag tatsächlich gleich am Vormittag eine Beisetzung stattfand, hätte Herr R. am liebsten einen Freudensprung vollführt. Natürlich freute er sich nur im Stillen.
So aufregend waren für Herrn R. die ersten Tage, Wochen, Monate seines neu entdeckten Hobbies. Außerdem konnte man auf diese Art interessante Informationen über die gerade Verstorbenen sammeln. Die Totenmesse war somit äußerst spannend, es gab Musik und bunte Blumen, und der Pfarrer fand immer angemessene Worte. Was brauchte da jemand wie Herr R. noch soziale Kontakte? Sein Leben war durch und durch ausgefüllt.
Doch wie es bei all exzessiv betriebenen Tätigkeiten ist, sie nützen sich ab. Schafft man es nicht, sich davon loszureißen oder einen Abstand zu nehmen, wenn es erforderlich ist, so entsteht die Gefahr einer Sucht. So auch bei Herrn R. Nur so ist es zu erklären, dass er begann, auch seiner liebsten Freizeitbeschäftigung mit den Jahren immer mehr gleichgültig gegenüberzustehen und sie trotzdem immer noch ausübte. Was sollte er auch sonst machen?
Jetzt ist er alt und pensioniert. Er sieht aus dem Fenster. Blätter fallen von den Bäumen. Es ist Herbst. Bald ist es auch bei ihm soweit. Er weiß es. Er hatte es auch schon mit sechs Jahren gewusst. Aber er hatte sich dabei nie Gedanken über sein Ende gemacht. Schon gar nicht über seine Beerdigung. Wozu auch? Er blickt lange auf sein Leben zurück. Zum ersten und zum letzten Mal rollt eine Träne über sein Gesicht. Dann schließt er die Augen.
Ein paar Tage später findet Herrn R.’s Beerdigung statt. Niemand ist da. Nur der Pfarrer und die zwei Totengräber. Eine kurze Totenmesse wird abgehalten, dann der Sarg eingelassen.
Falls es eine Moral dieser Geschichte geben sollte: „Die Art, wie man lebt, ist wichtiger als das, was man hinterlässt.“ (Zitat Captain Picard, aus „Star Trek 8“)