Herr Samuel
Herr Samuel
Herr Samuel ist einsam. Er ist nicht immer einsam, nein. Er ist nicht einsam, wenn seine Tochter zu Besuch kommt, aber die kommt nur alle zwei Wochen. Und sein Sohn, der kommt höchstens an Weihnachten. Oder zu Ostern. Weil seine neue Frau Herrn Samuel nicht mag. „Lass doch den alten Mann“, sagt die Frau von Herrn Samuels Sohn, „Er ist doch gut versorgt im Heim.“ Und Herr Samuels Sohn brummt hinter seiner Zeitung und ist eigentlich gar nicht böse darüber, dass er seinen alten Vater nicht besuchen fahren wird.
Herr Samuel ist einsam. Das denkt er sich, wenn er in seinem alten Plüschsessel sitzt, unter der Stehlampe mit den Troddeln am Lampenschirm. Herr Samuel ist einsam, denkt er und guckt traurig. So einsam ist Herr Samuel.
Der Boden im Heim ist weiß und alle Wände sind auch weiß. Vier Wände hat Herr Samuel, vier Wände, die ihm ganz allein gehören. Das, denkt Herr Samuel, ist ein großer Luxus, denn nicht jeder Mensch hat vier eigene Wände. Aber seine vier Wände, die sind so kahl und weiß. Die Wände sind fast so einsam wie ich, denkt Herr Samuel und da guckt er noch trauriger. Und der Sessel, der beige Plüschsessel mit dem eingeprägten Blumenmuster, ist das einzige, was ihm noch geblieben ist. Und die Stehlampe. Sonst ist Herr Samuel einsam.
Aber die Wand, denkt Herr Samuel, die Wand ist so weiß und so einsam. Er will nicht, dass auch seine Wand einsam ist, wo er doch schon einsam ist. Ich habe wenigstens meinen Sessel, denkt er und, die arme Wand, denkt er und da hat Herr Samuel eine Idee. Wenn er wenigstens einen Sessel hat, dann soll die Wand auch wenigstens einen Sessel haben. Aber nein, das geht ja nicht, denkt Herr Samuel und schlägt seine alte, einsame Hand gegen die Stirn. Einen Sessel, den kann er doch nicht an die Wand hängen! Aber Herr Samuel hat auch noch ein Kissen, das hat er ganz vergessen. Ein großes rosa Kissen, das ganz weich ist. Und so ein Kissen, denkt Herr Samuel, so ein Kissen könnte er an die Wand hängen. Damit die Wand nicht so einsam ist.
Und als Herr Samuels Tochter das nächste Mal zu Besuch kommt und einen großen Blumenstrauß mitbringt, der nach Fäulnis riecht, bittet er sie, in zwei Wochen statt des Blumenstraußes lieber viele rosa Kissen und Bilderrahmen mitzubringen, solche aus Metall, du weißt schon. Herr Samuels Tochter lächelt und sagt, Ja, ja, ich weiß schon und denkt, Jetzt ist er endgültig verrückt geworden.
Aber beim nächsten Mal bringt sie tatsächlich rosa Kissen mit und Bilderrahmen aus Metall und keine Blumen und als sie gegangen ist, fragt Herr Samuel die Nachtschwester, ob er eine Schere haben könne. Die Schwester runzelt die Stirn und bringt ihm eine Schere, die ganz stumpf ist, damit er sich nicht die Pulsadern damit aufschneidet. Sie weiß ja nicht, dass Herr Samuel keine Pulsadern aufschneiden will, sondern Kissen, weil seine Wand so einsam ist wie er und nicht mehr einsam sein soll. Und Herr Samuel schneidet und klebt die ganze Nacht und stopft die Kissen in die Bilderrahmen und die Bilderrahmen nagelt er an die Wand bis seine Zimmernachbarin von der anderen Seite dagegen schlägt und sagt, er solle still sein.
Die ganze Nacht arbeitet Herr Samuel, doch als die Sonne aufgeht, ist er fertig. Herr Samuel ist einsam. Aber meine Wand, die ist jetzt nicht mehr einsam, denkt Herr Samuel und jetzt lächelt er.