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Herzlichen Glückwunsch!
Einen Moment lang hielt sie die Augen geschlossen, bevor sie sie wieder öffnete. Wo war sie? Alles um sie herum war weiß, die Wände, das Fenster, sogar draußen, ein Tisch, ein Stuhl und das Bett, mit allem drum und dran. Jedoch fiel sie wieder in die Dunkelheit, bewusstlos schlief sie ein.
Nach wenigen Stunden, so schien es ihr, rief jemand ihren Namen: „Tanja...? Tanja, können Sie mich hören?“ Dann wieder Stille. In all dem Weiß öffnete sie wieder ihre Augen und sah sofort einen Mann vor sich, der sie interressiert anstarrte, als ob sie etwas besonderes wäre, ein Gegenstand zum bewundern. Das machte sie auf einmal sehr wütend. Alle waren doch gleich! Der Mann war ein Psycho, sie war sich ganz sicher. Was wollte er von ihr? Klar hörte sie ihn, aber sie musste ja nicht auf seine dämliche Fragen antworten, oder? Mit dem Wunsch, der Mann würde endlich verschwinden, schloss sie wieder die Augen. Sie schätzte fünf Minuten, um wieder die Augen aufzumachen. Immer noch da. Hach, was konnten Männer für Nervensägen sein! Da, endlich stand er auf und ging zur weißen Tür. Er trug selber weiße Sachen, dass konnte sie auf einmal erkennen, als er ihr seinen Rücken zuwandte. Manche Leute waren wirklich eintönig, hatten keinen Geschmack. Wie sehr sie solche Leute hasste.
Sie konnte so lange zählen wie sie wollte, rauskommen würde sie hier nie. Zur Zeit kamen öfters Leute herein, um sie anzustarren und dumme Fragen zu stellen. Wieso stellten sie überhaupt Fragen? Sie war doch gar kein Baby mehr, das von anderen aufgefordert wurde, ein Wort zu sagen! Der letzte Besuch war eine ungefähr vierzigjährige Frau gewesen. Ihre Augen waren glasig und darin hatte immer was Feuchtes geglitzert. Ihre Nase war gerötet und hob sich besonders spitz aus ihrem blassen Gesicht ab. Vor allem ihre eisgrauen Augen gefielen ihr nicht. Wie konnte man nur solche Augen haben! Die Frau hatte dieselbe Fragen wie der Doktor, so hieß der Mann, der sie zuerst abgefragt hatte, gestellt. Nachdem sie darauf nicht geantwortet hatte, war die Frau in Tränen ausgebrochen. Warum schämte sie sich nicht?Am nächsten Tag kam diese komische Frau wieder, am übernächsten noch einmal. Und am Tag danach. Es zog sich zu Wochen, zu einem Monat. Dann kam eines Tages die Frau mit einem Blumenstrauß. An dem Blumenstrauß war eine Karte gebunden, darauf war mit verschmierter Schrift geschrieben: „Für meine Tochter Tanja. Herzlichen Glückwunsch zu deinem 21.Geburtstag! Alles Liebe, deine Mutter.“ – „Wo ist meine Mutter? Warum kommt sie nicht selber?“, fragte sie. Die Frau wurde total blass im Gesicht und stammelte etwas Unverständliches, bevor diese aus dem Zimmer stürmte. Nach diesem Ereignis besuchte die Frau sie nicht mehr.
Sie legte den Blumenstrauß auf dem ihr schon längst vertrauten Tisch und die Karte band sie ab, um es sich genauer anzusehen. Auf der Vorderseite waren wiederum Blumen zu einem riesigen Strauß zusammengebunden, bloß, dass der Strauß viel prächtiger als der auf ihrem Tisch war. Darunter stand in feierlichen Buchstaben "Herzlichen Glückwunsch!".
`Zu was? Zu meinem Geburtstag?´
Aber ein zufriedenes Lächeln schlich sich über ihr Gesicht, als sie an die Einundzwanzig dachte. Ihr fiel plötzlich ein Gedanke ein. Sie zählte die Blumen auf dem Tisch – es waren genau 21 Blumen, wie früher.
Früher?
Auf einmal tat ihr der Kopf weh, besser war es wohl, die Karte beiseite zu legen, sie brachte nur Schmerzen.
In der Nacht konnte sie nicht richtig schlafen, zum ersten Mal hatte sie Träume.
Die Frau, die ihr den Strauß geschenkt hatte, blickte ihr aus weiter Ferne entgegen. Die Augen waren müde und leblos, dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab, als wären sie Tag und Nacht nicht zugemacht worden.
Ein Schuldgefühl überkam ihr und als sie sah, dass die Frau ihr den Rücken zukehren wollte, schrie sie auf. Sie streckte ihre Hand nach dem Arm dieser Frau aus, um sie zurückzuhalten. Doch der Arm entwich ihr und die Frau verschwand. Plötzlich sah sie die Karte wieder vor sich, die sie bekommen hatte, das "Herzlichen Glückwunsch!" und den Strauß, dann weitere Geschenke: Eine Karte mit Sternen, ein Laptop, das sie sich schon immer gewünscht hatte, die Nummer 20, dann die nächste Karte...
Sie ging zurück, die ganze Zahlen durch, von Jetzt bis Früher und wieder zurück. Sie sah lachende Gesichter, einen lächelnden Jungen mit einer Zuckerwatte in der Hand, ein Mädchen mit eine silbern auffallende Kette, das alte Gesicht eines Mannes und das einer Frau – der Frau.
Dann kam der Brand, überall weinende Menschen und daneben diese Frau, die schreiend und weinend zugleich ein großes Mädchen, das in das große Feuer rennen wollte, mit Mühe an den Armen zurückhielt.
Eine winzige Wohnung kam zum Vorschein, das unglückliche Gesicht der Frau und daneben wieder dasselbe Mädchen, etwas älter, sie schätzte es auf 19; ein Jahr wurde übersprungen, das Mädchen war eine richtige junge Dame, die gerade ihr Führerschein machte.
Weiter wollte sie nicht mehr träumen, ihr Kopf würde sonst platzen, aber sie konnte auf einmal die Stimme eines jungen Mannes hören und die einer alten Frau, die sich heftig miteinander stritten.
Plötzlich wurde sie aus dem Traum gerissen, und schweißgebadet sah sie sich um – um sie herum waren Frauen, alle in weiß und dann erkannte sie unter ihnen einen Mann, den Doktor.
Bevor sie noch was sagen konnte, übergab sie sich der Bewusstlosigkeit.
Endlich schien einmal die Sonne, dachte Tanja, als sie in ihrem Bett aufwachte. München war schon hellauf, sie hatte anscheinend verschlafen. Es war mitten im Herbst und vor einer Woche war es so kalt gewesen, da hatte es sogar geschneit. Für einen Moment lang schloss sie genüsslich die Augen, dann stand sie auf um sich im Bad fertig zu machen. Nach einem ausgedehnten Frühstück zog sie schnell ihren Mantel an, ihre Mutter wartete bestimmt schon auf sie. Sie holte ihren Autoschlüssel aus ihrer Tasche und kurz darauf war sie im Auto zum Krankenhaus unterwegs. „Zimmer 304.“, meinte die Frau am Schalter kurzbündig. „Ach, es wurde geändert?“ – ohne eine Antwort abzuwarten ging sie bis zum dritten Stock hoch, einen langen fast leeren Flur entlang, bis sie vor einer Tür stand. „Hier ist es also...“ Sie drückte die Tür auf und trat ein. Mitten in ihrer Bewegung hielt sie inne. Verblüfft starrte sie das kleine schmucklose Zimmer an. Ihr kam es seltsam vertraut vor. Egal, dachte sie und schritt zum riesengroßen Bett, wo sich eine schmale Gestalt aufrichtete und sie mit einem faden Lächeln begrüßte. "Mutter", begann Tanja, "Herzlichen Glückwunsch zu deinem fünfzigsten Geburtstag!"
-ENDE-