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Heutag
HEUTAG
Nicht schnell, sondern langsam erwachte ich. An Wecker glaubte ich schon lange nicht mehr, denn zu oft hatte mich so einer aus dem Schlaf gerissen, obwohl ich eigentlich noch schlafen wollte. Nur ein langsames Erwachen ist ein gesundes Erwachen. Auch wenn es so mancher nur für Faulheit hält.
Als ich dann endlich die Kraft hatte, aufzustehen, plagte mich die Ungewissheit des neuen Tages. Montag? Dienstag? Oder schon Mittwoch? Hoffentlich. Im Gegensatz zu den erwähnten Weckern, Uhren und sonstigen Zeitanzeigern hatte ich großes Vertrauen zu Kalendern. Besonders mein Abreißkalender hatte es mir angetan. Obwohl, oder gerade weil er nicht ewig bei mir bleiben konnte (jeden Tag ging es ihm um ein Blatt schlechter), war ich überzeugt, dass er immer Recht hatte. Zumindest was das Datum anging.
Ui, Dienstag der zwanzigste. Gibt es auch nur einmal im Monat.
Da bemerkte ich, dass ich ja erst nochmal ein Blatt abreißen musste. Gehört sich so bei Abreißkalendern. Sonst ist ja immer Gestern.
Ratsch!
Und dann kam die Überraschung. Nur zur Information: Eigentlich kommt nach dem Dienstag immer der Mittwoch. Gehört sich so und war schon immer so. Aber in diesem Fall musste sich der Kalender wohl geirrt haben. Wahrscheinlich hatte er mit den ganzen Blättern die von ihm fortgerissen wurden irgendwann den Verstand verloren. Statt einer großen Zahl mit einem kleinen Wochentag drunter stand da ein großer Wochentag der die Zahl offenbar aufgefressen hatte. Und er hieß auch nicht Mittwoch, sondern Heutag. So blöd es auch klingen mag. Heutag!
"Irgendjemand von uns beiden braucht wohl dringend eine Therapie", flüsterte ich dem Kalender zu. Da ich selbst ein gutes Bild von mir hatte, auch was meine geistige Gesundheit anging, entschied ich, dass der Kalender schuld war. Immerhin antwortete er mir auch nicht, was ganz klar auf Schuldgefühle zurückzuführen war. Es hatte jetzt auch nicht mehr viel Sinn, lange über Kalendertage zu diskutieren.
Ich öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft zu genießen. Doch statt einer kühlen Brise kam mir ein heißer Wind entgegen. Feuer loderte in der aufkommenden Morgendämmerung. Nach genauerer Beobachtung bemerkte ich, dass jemand einen Kreis aus Feuer um mein bescheidenes Haus gezogen hatte. Obwohl die Flammen eine sichere Entfernung zu den Mauern meines Heims hatten, waren sie doch an einigen Stellen mehr als zwei Meter hoch und das ging etwas zu weit. Ich beschloss, die Feuerwehr zu rufen. Nach einem ausgiebigen Frühstück.
Eine halbe Stunde später stand ich also vor meinem guten alten Telefon (Handys waren nicht so das meine, vor allem weil die meisten von ihnen einen eingebauten Wecker hatten. Diese Verräter machten doch glatt gemeinsame Sache mit dem Feind!) und wählte die Nummer der Feuerwehr. Dauerte gar nicht lange, und eine Tonbandstimme meldete sich. "Guten Tag der Herr, normalerweise könnten Sie jetzt einen Brand melden, aber die Feuerwehr gibt es nur von Montag bis Sonntag. An Heutagen leider kein Dienst!". Naja, nichts zu machen.
Jetzt stand ich vor einer Entscheidung: Entweder du löschst den Flammenkreis selbst, oder du wartest bis das Feuer von selbst aus ist. Die zweite Alternative stand natürlich günstiger, denn wer von den Flammen eingeschlossen ist kann auch nicht zur Arbeit fahren. Außerdem sparte es Energie, denn anstatt zu kochen konnte ich über offenem Feuer grillen. Glücklicherweise hatte ich noch einige Würste im Kühlschrank. Die holte ich, spießte sie auf einen Stock und ging damit vor die Tür.
Dort wurde ich von einem Zwerg überrascht. Nein, ganz ehrlich. Sah aus wie ein Mann, war aber nur halb so groß wie ich, und ich war auch nicht gerade riesig. Außerdem trug er einen grünen Spitzhut, der ihn zwar ein wenig größer aussehen ließ, aber ihn endgültig als Zwerg kennzeichnete. Vor lauter Überraschung brachte ich nicht mehr als ein klägliches "Hallo" heraus, aber der Kleinwüchsige war nicht an einer Unterhaltung interessiert, er drehte sich um und rannte davon, mitten durch den Flammenkreis und schon sah ich ihn nicht mehr. "Merkwürdig", dachte ich und ging zum Feuer um meine Würstchen zu grillen. So saß ich also da, hielt mein Essen übers Feuer und sinnierte über den Sinn des Lebens. So nebenbei bemerkte ich dass das Feuer nicht von Holz, auch nicht von Kohle oder Benzin zehrte, sondern von einer Riesenmenge ausgetrocknetem Heu. Naja, eigentlich schon seltsam. Erstens ist Heu an einem Heutag sehr verdächtig und zweitens brennt Heu ja nicht besonders lange. Gesetzt den Fall dass es nicht irgendwo jemanden gibt der immer wieder neues Heu in die Flammen schiebt. In diesem Moment drängte sich eine Heugabel von der anderen Seite der Flammenwand her in mein Blickfeld und ließ direkt neben meinem improvisierten Grillspieß einen Berg Heu fallen. Das Feuer, das schon etwas heruntergebrannt war loderte in neuer Freude auf. Einer Freude die ich nicht ganz teilen konnte. Ich meine, einerseits profitierte ich ja auch von dem Feuer, andererseits war das doch etwas unheimlich, ein Flammenkreis hat ja doch irgendwie etwas Bedrohliches. Ich legte meinen Grillspieß zur Seite (die Würstchen waren fast fertig) und versuchte, durch dieses ganze Lodern und Flimmern hindurch etwas zu erkennen, was sich aber als ziemlich aussichtslos herausstellte. Da fiel mir wieder der seltsame Zwerg ein. Der war ja auch durchs Feuer gerannt, dürfte also nicht so schwer sein. Einmal tief Luft und Anlauf geholt und ich rannte durchs Feuer.
Auf der anderen Seite sah es eigentlich ganz normal aus. Die Straße die an meinem Haus vorbeiführte war immer noch in Ordnung und wie ich mit einem kurzen Blick in die Nachbarschaft feststellte war mein Haus das Einzige mit einem von Heu angetriebenen Feuerkreis. Wiedermal typisch. Da sah ich auch schon den Schuldigen. Stand direkt neben mir und einem Lastwagen voller Heu. Es war derselbe Zwerg den ich schon vorhin gesehen hatte. Schaufelte Gabel um Gabel mit seiner Heugabel in das Feuer das mein Haus umgab. Dabei kicherte er ständig vor sich hin, so wie es Zwerge normalerweise in schlechten Zeichentrickfilmen machen. "Hör mal Freundchen, das hier ist mein Grundstück. Lass das mit dem Heu!", sprach ich ihn an. Der Zwerg ließ erschrocken die Heugabel fallen und drehte sich um. "Hallo Fremder!", sagte er mit einer hohen, krächzenden Stimme. "Du weißt wohl nicht welcher Tag heute ist, naja nichts für ungut, ich werde es dir sagen, heute ist Heutag." Und bevor ich antworten konnte, redete er schon weiter. "Heutag", sprach er, "ist ein ganz besonderer Tag, denn da dreht sich alles um Heu. Heutag ist Heu-Tag!" Und er begann wieder zu kichern. "Moment mal! Was hat das damit zu tun? Nur weil Heutag ist musst du das Heu doch nicht verbrennen und schon gar nicht vor meinem Haus!"
Der Gnom machte ein nachdenkliches Gesicht. Er nahm seine grüne Mütze ab und kratzte sich am Kopf. "Hmm. So hab ich das noch gar nicht betrachtet. Ich glaube du hast Recht. Aber egal, jetzt habe ich schon angefangen und überhaupt, was soll ich mit dem ganzen Heu machen das ich besorgt habe?" Sprach's, hob seine Heugabel auf und gabelte weiter. Langsam verlor ich die Geduld. Irgendwas musste ich unternehmen, aber erst nach einer kleinen Zwischenmahlzeit. Fast hätte ich die Würstchen vergessen. Ich sprang wieder durchs Feuer und machte mit meiner Grillerei weiter. Die Würstchen schmeckten wirklich wunderbar aromatisch. Musste an dem Heu liegen. Ich vergaß meine Wut auf den Zwerg der inzwischen rund um mein Haus wanderte und immer wieder eine Gabel Heu in die Flammen warf und wandte mich wichtigeren Dingen zu. Ich holte Senf und Apfelsaft und ließ mir mein Essen so richtig schmecken.
Die Würstchen lagen mir etwas schwer im Magen, deswegen legte ich mich auf das Sofa, mit der Absicht ein kleines Mittagsschläfchen zu riskieren. Genau in dem Moment als ich eine gemütliche Position gefunden hatte und gerade am Einschlafen war, klingelte es an der Tür. Wer konnte das sein, um die Mittagszeit? Vielleicht war dem Zwerg das Heu ausgegangen? Oder irgendein Versicherungsvertreter? Egal, irgendwie überwand ich mich dann doch, aufzustehen und die Tür zu öffnen. Draußen stand eine ältere Dame, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Als sie mich sah, rief sie laut "Hallo Klaus, na, hast du mich vermisst?", worauf ich nur mit einem schwachen "Wer sind Sie?" antworten konnte.
Die Unbekannte war empört. "Na hör mal Klaus, erkennst du deine liebe Tante Sabine nicht mehr? Wir haben doch erst gestern telefoniert". Da fiel mir ein dass ich gar nicht Klaus hieß. "Ich heiße gar nicht Klaus", sagte ich also. Da begann die Tante zu lachen. "Ach Klaus, jetzt ist mir alles klar, du willst mich nur wiedermal zum Narren halten. Alles Gute zum Geburtstag, mein Junge!", und bevor ich etwas sagen konnte drückte sie mir ein großes Paket mit einer dicken Schleife drumherum in die Hand. Während ich den Karton öffnete - die angebliche Tante ließ mich dabei nicht aus den Augen - überlegte ich mir was ich machen konnte. Ich hatte das sichere Gefühl, dass sich diese sonderbare Frau nicht davon überzeugen ließ, dass ich nicht Klaus hieß und sie auch nicht meine Tante war. Trotzdem versuchte ich es noch einmal. "Hören Sie, ich heiße nicht Klaus, und ich bin mir sicher, dass ich Sie heute zum ersten Mal in meinem Leben sehe." Wieder kam nur ein Kichern zur Antwort. "Ach Kläuschen, lass den Unsinn und sieh dir lieber dein Geschenk an. Ich hoffe es gefällt dir."
Die ganze Situation kam mir so unwirklich vor, dass ich mir mittlerweile sicher war zu träumen. Vor mir stand eine dicke alte Frau, die behauptete meine Tante zu sein und im Hintergrund sah ich wie der Heuzwerg dafür sorgte dass ein gewisser Flammenkreis nicht zum erlöschen kam. Außerdem hatte mein Kalender versagt. Ich beschloss also, den ganzen Zirkus über mich ergehen zu lassen, in der Hoffnung so bald wie möglich aufzuwachen. Beim Stichwort Kalender kam mir ein Gedanke.
"Tante, welcher Tag ist denn heute?"
"Na Heutag, was denn sonst. Du hast Geburtstag, schon vergessen? Jetzt mach doch endlich dein Geschenk auf!"
Mittlerweile hatte ich es geschafft, die Schleife abzubekommen. Vorsichtig nahm ich den Deckel ab und den Gegenstand heraus der sich in der Schachtel verborgen hatte. Es war eine Karotte. Langsam überraschte mich gar nichts mehr und ich gab der Tante ein fröhliches "Danke, Tante Sabine". Dann begann ich an der Karotte zu knabbern. Es war wirklich eine gute Karotte. "Na, mein Häschen, lass es dir ruhig schmecken", freute sich die Tante, "Geburtstag hat man ja schließlich nicht so oft".
"Nicht so oft wie man möchte", gab ich schlau zurück, während ich das letzte Stück meines Geschenks zerkaute. Die Karotte war wirklich fantastisch.
"Jaja, ein kleiner Philosoph, mein Neffe", schmunzelte meine vermeintliche Tante, "also, fahren wir los! Dein Flammenkreis hat mir letztes Jahr übrigens besser gefallen, da fehlt noch das gewisse Etwas".
Ich hatte zwar keine Ahnung, was die Tante mit "Fahren wir los!" meinte, aber ich folgte ihr einfach. Die Tante ging voraus und hüpfte geschickt durch die Feuerwand, und ich folgte ihr. Auf der anderen Seite wartete eine rote Limousine. Tante Sabine war schon eingestiegen und deutete mir, mich auf den Beifahrersitz zu bequemen. Was ich auch tat. Innen waren die Sitze luxuriös gepolstert und im Autoradio lief klassische Musik.
Von der ganzen Aufregung, dem Gnom und meiner vermeintlichen Tante war ich etwas müde geworden. Vielleicht war auch das viele Essen schuld. Jedenfalls begann ich zu gähnen, lehnte mich in den gepolsterten Autositz zurück, hielt die Augen halb geschlossen und begann vor mich hinzudösen. Einschlafen konnte ich unter den gegebenen Umständen natürlich nicht.
"Hoffentlich kommen wir noch pünktlich zur Vorstellung!", meinte Tante Sabine besorgt. "Fahren wir ins Theater?", fragte ich abwesend. Die alte Dame begann wieder zu kichern, was dafür sorgte dass der Wagen ein paar kleine Schlenker machte. Ich sah aus dem Fenster und sah, dass wir auf einer Autobahn waren. Welche, konnte ich nicht genau sagen. "Ach, Kläuschen, du bist schon wieder albern! Als wenn du nicht genau wüsstest wo es hingeht. Jedesmal frage ich mich, ob du nicht lieber zu Hause geblieben wärst. Aber wenn du dann dort bist gefällt es dir jedesmal sehr gut. Du wirst schon sehen."
Und meine Nicht-Tante lächelte verschwörerisch. Ein Lächeln das mir nicht gefiel, denn ich wusste wirklich nicht wo es hinging. Ach ja, Traum. Alles nur ein Traum. Keine Sorgen machen. Tja, so etwas muss man sich immer wieder sagen, nicht wahr?
Schließlich nickte ich doch ein, und ich erwachte erst, als das beruhigende Motorgeräusch der Limousine verstummte. "Wir sind da", rief Tante Sabine und versuchte unsanft, mich wachzurütteln. Als ob ich nicht schon wach gewesen wäre. "Aber Tantchen, ich bin doch schon wach!", spielte ich meine Rolle als Neffe. "Dann ist ja gut", kam die Antwort, "steig jetzt aus, wir sind spät dran. Ich rieb mir die Augen und machte mich daran, die Tür zu öffnen. Kennt ihr das wenn ihr zum ersten Mal in einem fremden Auto sitzt und versucht, auszusteigen? Man findet nie auf Anhieb den Türgriff. Naja, das passierte mir auch jetzt, und das verstärkte meinen Glauben dass diese Frau unmöglich meine Tante sein konnte. Ihr fiel dieser Umstand natürlich nicht auf, aber ich spielte langsam mit dem Gedanken, davonzulaufen. Kann man eigentlich durch einen Traum verrückt werden?
Andererseits kümmerte sich die Tante sehr gut um mich. Möglicherweise war die Veranstaltung, was auch immer es war, wirklich nicht so übel. Mitten in meinen Überlegungen wurde ich auf einmal von einer gewissen Dame am Arm gepackt und in eine bestimmte Richtung gezerrt. "Ich hab dir doch gesagt, dass wir spät dran sind. Jetzt steh nicht blöd in der Gegend herum und komm mit. Wir verpassen sonst noch den Anfang!"
Ich stolperte also mehr oder weniger hilflos hinter meiner Tante oder wem auch immer hinterher und konnte mir sowieso nicht mehr helfen. Ich sah mich, so gut es ging, um. Die rote Limousine stand auf einem provisorischen Parkplatz der randvoll war. Die Tante hatte wahrscheinlich einige Zeit nach einer Parklücke gesucht, die groß genug für ihre Limousine war. In der Richtung in die ich gezerrt wurde, war ein großes graues Gebäude zu erkennen. Anscheinend fand dort die Veranstaltung statt. Neben mir stieg gerade ein Mann mit grünem Hut und grünem Mantel aus seinem grünen Kleinwagen und sah mir verwundert nach. Hätte ich an seiner Stelle auch gemacht.
"Jetzt lass mich doch mal los, Tante", rief ich, "ich kann auch selber gehen."
"Na gut", meinte sie, "dann geh mal selber, aber bitte beeil dich."
Und in dem Moment als sie das sagte und sich dabei zu mir umdrehte, rannte sie gegen einen kleinen Jungen.
"Oh, Entschuldigung!", entschuldigte sie sich, "ich hab dich nicht bemerkt."
Der Junge drehte sich um und rief fröhlich: "Tante Sabine, da bist du ja! Ich hab dich schon überall gesucht!"
Und er lächelte wie ein kleines Kind das gerade seine Lieblingstante wiedergefunden hatte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Jetzt würde sogar der Tante auffallen dass sie sich geirrt hatte. Ob sie wohl dachte, dass ich schuld an der Verwechslung sei? Immerhin hatte ich mehr als einmal darauf aufmerksam gemacht dass ich sie nicht einmal kannte. Andererseits war ich dann doch mit ihr mitgefahren und hatte sie in ihrem Glauben gelassen. Hatte ich das Falsche getan? Ich suchte bereits nach Worten, um diese furchtbare Verwechslungsgeschichte zu rechtfertigen, als es wiedermal völlig anders kam.
Tante Sabine machte ein empörtes Gesicht und stieß den Jungen, der zu einer Umarmung angesetzt hatte von sich weg.
"Was bildest du dir überhaupt ein?", rief sie, "Wer bist du überhaupt und woher kennst du meinen Namen?"
Dem Jungen traten Tränen in die Augen.
"Aber Tante, ich bin es doch. Klaus! Dein Lieblingsneffe!", stammelte er, "Du wolltest doch zu meinen Geburtstag mit mir in die Vorstellung gehen. Erst gestern haben wir telefoniert."
Und etwas leiser fügte er hinzu: "Du hast mich nicht abgeholt, da musste ich mit dem Zug fahren. Ich habe schon gedacht du hast meinen Geburtstag doch noch vergessen."
Und ein zweites Mal kroch er zu seiner Tante und hielt sich an ihrem Arm fest. Worauf ihn diese unsanft beiseite schob.
"Hör mal, Junge, wer immer du auch bist, ich habe keine Zeit für solche Späße. Ich und mein Neffe müssen es noch rechtzeitig bis zur Vorstellung schaffen. Keine Ahnung was mit dir los ist, aber du hältst uns nur auf."
Mit diesen Worten marschierte sie einfach an ihm vorbei.
Die ganze Szene kam mir irgendwie bekannt vor. Vorstellung hin oder her, egal was hier passierte, ich konnte diesem armen Jungen unmöglich seine Tante wegnehmen. Er war schon kurz davor in Tränen auszubrechen, also blieb ich kurz stehen und sprach ihn an:
"Hör mal Klaus, ich glaube deine Tante verwechselt uns. Heute morgen hat sie mich einfach mitgenommen obwohl ich sie nicht einmal kannte. Und sie hat mich Klaus genannt, obwohl ich so gar nicht heiße."
Klaus (ich nahm einmal an, dass er wirklich so hieß) machte ein nachdenkliches Gesicht. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
"Glaube ich nicht. Ich glaube, wir verwechseln uns bloß gegenseitig. Tante Sabine hat nämlich immer Recht. Egal was du auch denkst, egal was ich gedacht habe, aber Tante Sabine hat immer Recht. Das heißt, ich bin gar nicht Klaus. Und ich habe mir schon Sorgen gemacht."
Ich versuchte, dieser Behauptung zu folgen. Der Junge behauptete also dass seine Tante immer Recht hatte, was bedeutete dass es nicht seine Tante war. Irgendwo gab es da einen logischen Fehler.
"Warte mal, wenn du nicht Klaus bist, und Tante Sabine meine Tante ist, woher weißt du dann, dass sie immer Recht hat?", machte ich ihn darauf aufmerksam.
"Wer ist Tante Sabine?", war seine Antwort und plötzlich wusste ich, dass meine Tante immer Recht hatte. Auch wenn ich es heute Morgen nie für möglich gehalten hätte, ich hieß Klaus und die alte Dame, die gerade wütend zu mir zurückrannte um mich ein weiteres Mal am Arm hinter sich herzuziehen, war meine Tante Sabine. Die Karotte die ich gegessen hatte war meine Geburtstagskarotte gewesen, und neben mir stand nichts weiter als ein kleiner Junge der versucht hatte, mir meine Tante wegzunehmen.
Diese war gerade bei mir angelangt und böse auf mich.
"Ach Klaus, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst wirklich um jeden Preis die Vorstellung verpassen! Jetzt müssen wir schon rennen."
Und sie packte mich am Arm und lief in einem Tempo los, dass ich kaum mithalten konnte. Einen Augenblick später erreichten wir zum Glück schon die Eingangstür und meine Tante blieb stehen um diese zu öffnen. Ich sah an dem Gebäude hoch, in der Hoffnung auf einen Hinweis, um welche Art von Veranstaltung es sich handeln könnte. Von außen sah es aus wie eine Sporthalle oder so etwas in der Art. Mein Blick blieb an einem Schriftzug hängen der sich aus gelb lackierten Blechbuchstaben zusammensetzte.
"Veranstaltungszentrum".
Na sehr hilfreich. Ich lief meiner Tante hinterher.
Drinnen sah es aus wie in einem typischen Veranstaltungszentrum oder vielleicht auch einer Schule: Graue Korridore mit irgendwelchen Plakaten an den Wänden und ab und an irgendwelche Türen. Tante Sabine kannte sich zum Glück aus und rannte zielstrebig durch die weiten Gänge. Außer uns war niemand zu sehen und nach kurzer Zeit gelangten wir an eine große Doppeltür. Meine Tante drehte sich zu mir um und deutete mir, leise zu sein. Dann versuchte sie, einigermaßen zu Atem zu kommen und öffnete vorsichtig die Tür. Wir betraten leise den Raum.
Drinnen war ein großer Saal mit einer Bühne und ungefähr zwei- bis dreihundert Sitzplätzen. In den letzten Reihen waren noch einige Plätze frei und ich wollte mich schon setzen, aber Tante Sabine war anderer Meinung. Sie griff in ihre Tasche und brachte zwei Eintrittskarten zutage. Nach einem kurzen Blick auf diese steuerte sie die erste Reihe an und ich folgte ihr. Dabei sah ich mir die Gäste, die bereits Platz genommen hatten, etwas näher an. Wie mir schien stammten sie aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten. Ich sah kleine Kinder mit ihren Eltern, aber auch Männer in Anzügen und Menschen die so alt waren, dass sie kaum noch aufrecht sitzen konnten. Und was mir noch auffiel: Es war kein Laut zu hören, alle saßen nur da und hatten ihren Blick auf die Bühne gerichtet. Wahrscheinlich bemerkten sie gar nicht, dass ich sie beobachtete.
Vorne angekommen sah ich, dass die Stühle der ersten Reihe im Gegensatz zu den normalen Sitzen größer und mit gepolsterten Rücken- und Armlehnen versehen waren, was natürlich ein Vorteil war, aber irgendwie kam mir das Ganze auch seltsam vor. Tante Sabine hatte inzwischen schon unsere Plätze gefunden und sich gesetzt. Sie zeigte stumm auf den Platz neben ihr und ich setzte mich. Jetzt schaute auch sie gebannt in Richtung Bühne und ich tat dasselbe. Vermutlich um nicht aufzufallen. Dort war noch alles dunkel und ich sah nicht viel, außer einem roten Vorhang.
Ich dachte nach. Wahrscheinlich war die Veranstaltung, was immer es war, kurz vor dem Beginn. Das würde bedeuten dass wir es doch noch geschafft hatten. Ich wusste nur nicht, ob ich froh darüber sein sollte. Jetzt musste ich wirklich wissen, um was sich die ganze Geschichte überhaupt drehte. Ich schaute fragend zu Tante Sabine hinüber. Sie verstand den Wink und gab mir eine der Karten.
"Das große Heutag-Geburtstagsspektakel" konnte ich in dicken Buchstaben auf der Vorderseite lesen. Darunter war eine große Geburtstagstorte abgebildet. Auf der Rückseite war so etwas wie ein Programm zu sehen:
20.00 - Begrüßung durch den Vorsitzenden
20.20 - Heutag-Geburtstagsspektakel
21.00 - Offene Gesprächsrunde mit Kaffee und Kuchen
HINWEIS: Ehrengäste (1.Reihe), die vor 21.00 die Veranstaltung verlassen sind von allen kommenden Heutag-Veranstaltungen ausgeschlossen.
Jetzt war ich schon etwas schlauer. Tante Sabine und ich waren Ehrengäste (warum auch immer) und die Veranstaltung würde nicht viel länger als zwei Stunden dauern. Was mit einem "Geburtstagsspektakel" gemeint sein könnte entzog sich meiner Vorstellung, aber das würde ich sicher in der Begrüßungsrede erfahren. Während ich mir das Programm durchgelesen und darüber nachgedacht hatte, hatte sich im Saal immer noch nichts verändert. Alle schauten auf die Bühne, wo immer noch nichts zu sehen war.
In diesem Moment gingen die Scheinwerfer an und man konnte eines dieser Rednerpulte erkennen auf denen ein Mikrofon befestigt ist. Ein Mann in einem blauen Anzug trat von links auf die Bühne und steuerte auf das Pult zu. Das musste der Vorsitzende sein. Ich war schon richtig gespant, um was es jetzt gehen würde. Der Vorsitzende war an seinem Rednerpult angekommen und gebot Ruhe, indem er seine Arme ausstreckte. Was eine mehr als nutzlose Geste war, denn es herrschte sowieso schon Totenstille.
"Meine Freunde", erschallte seine Stimme durch den ganzen Saal, und er setzte ein etwas gekünsteltes Lächeln auf, "ich heiße euch herzlich willkommen zum diesjährigen Heutag-Geburtstagsspektakel. Wie ich sehe ist der Saal auch diesmal gut gefüllt, was mich persönlich immer besonders freut. Denn schließlich", er lächelte noch ein bisschen mehr, "ist es nicht immer leicht, neue Mitglieder anzuwerben. Und die Leute, die am Heutag Geburtstag haben werden auch immer weniger."
Allgemeines Gelächter. Er musste wohl so etwas wie einen Witz gemacht haben. Ich kam mir, wie schon den ganzen Tag, fehl am Platz vor.
"Nun jedoch zu etwas Ernstem", fuhr der Vorsitzende fort, "wie mir schon einige Leute mitgeteilt haben, danke übrigens für so viel Ehrlichkeit, befindet sich heute jemand unter uns, der nicht ist, wer er vorgibt zu sein. Leider muss ich darauf bestehen, dass unser ungebetener Gast die Veranstaltung verlässt. Eintritt nur für Heutag-Geburtstage und ihre Verwandten. Tut mir Leid."
Er schnippte mit den Fingern, eine berühmte Geste, und hinter ihm erschienen zwei große Männer in schwarzen Anzügen. Sie stiegen von der Bühne und gingen auf mich zu. Mir wurde klar, dass sich in diesem Moment alle Leute im Saal zu mir umdrehten und sich fragten, wer denn dieser Störenfried war. Der nicht war, wer er vorgab zu sein. Der schon den ganzen Tag über verwechselt worden war. Ich.
Die Männer waren nun in der Zuschauerreihe angekommen und standen direkt vor mir. Ich konnte nicht sehen, ob und wie sie mich ansahen, denn sie trugen dunkle Sonnenbrillen. Gerade als ich den Mund zu einer zugegeben eher schüchternen Erklärung aufmachen wollte, packten sie den Jungen, der neben mir saß. Ich drehte mich verblüfft zu ihm um und erkannte ihn. Es war derselbe Junge, den ich und Tante Sabine auf dem Parkplatz getroffen hatten.
"Na, Bürschchen, du hast wohl gedacht, du kommst so einfach in eine Heutagsveranstaltung? Wird Zeit für dich wieder nach draußen zu wandern.", sagten sie zu ihm, und nicht zu mir. Ich wusste nicht ob ich erleichtert sein sollte.
Der Junge zuckte zusammen und sah sich erschrocken um.
"Aber ich bin eingeladen! Ich habe heute Geburtstag! Fragen Sie meine Tante!"
"Ach ja, und wer sollte das sein, deine Tante?", kam es unfreundlich zurück.
"Die da drüben, meine Tante Sabine!", stammelte der Junge verängstigt und deutete an mir vorbei auf Tante Sabine. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte, aber bevor ich damit fertig war, stand meine Tante auf, verschränkte die Arme, und rief: "Ich kenne diesen Jungen nicht!", ohne ihn auch nur einen Blickes zu würdigen.
"Aber ich bin's doch, dein Neffe Klaus!"
"Wie kommt es dann, dass mein Neffe Klaus direkt neben mir sitzt?"
Die Widerrede war zwecklos, und der Junge wurde unsanft hinausbegleitet. Der Platz neben mir blieb leer.
Jetzt meldete sich der Vorsitzende wieder, er sagte etwas davon, wie unangenehm ihm solche Vorfälle wären. Ich dachte nach. Hatte derselbe Junge nicht vorher gesagt, dass ich er sei? Wieso war er zurückgekommen? Warum hatte er seine Meinung so plötzlich geändert?
Na, ich konnte mir sowieso keinen Reim mehr machen. Und als ich wie durch Zufall auf den Platz rechts von mir blickte, saß da ein anderer Junge. Er war so um die 12 und hatte eine blaue Kappe auf.
Als ich ihn so betrachtete, drehte er sich plötzlich zu mir um und flüsterte: "Hallo, Klaus! Ist es nicht ein Glück, dass ich noch einen Platz hier vorne erwischt habe. Als sie diesen Knilch hinausgeworfen haben, habe ich sofort die Gelegenheit ergriffen."
Ich wusste nicht recht was ich sagen sollte. "Schön", gab ich ihm zurück, "wie heißt du denn nochmal?". Anscheinend kannte er mich.
"Sag mal, Klaus, geht es dir nicht gut? Ich bin's, Rudolf, wir haben uns doch erst gestern gesehen."
"Ist wahrscheinlich die Aufregung", gab ich zurück. Im Flüsterton.
"Gut möglich. Ich bin auch schon ganz aufgeregt. Mein erstes Geburtstagsspektakel! Aber hören wir besser noch ein wenig zu, bevor es losgeht. Nicht dass wir noch was falsch machen."
Ich hielt also die Klappe. Ich fragte mich, wer dieser Rudolf war und was ich mit ihm zu tun hatte. Durch meine einzigartige Kombinationsgabe hatte ich wenigstens eines herausgefunden. Er kannte mich, und er hatte auch am Heutag Geburtstag. Doch was war der Heutag eigentlich? Mir fiel wieder der Zwerg ein, der das ganze Heu vor meinem Haus angezündet hatte. Ergab keinen Sinn. Dann fiel mir ein, was Rudolf gerade gesagt hatte, und ich lengte mein Augenmerk auf den Vorsitzenden, der immer noch mit seiner Eröffnungsrede beschäftigt war.
".. und das macht den Heutag zu einem ganz besonderen Ereignis.", hörte ich gerade.
"Ganz zu schweigen von all den netten Pflanzen und Tieren. 'Heutag ist Zahltag', sagte einst ein berühmter Dichter, und wo er Recht hat, will ich ihm natürlich zustimmen."
War natürlich klar, durch das Gespräch mit meinem Kumpel Rudolf hatte ich komplett den Anschluss verloren.
"Aber genug über den Heutag und seine Bedeutung. Jeder kennt sie, und ich bin mir sicher, manche von euch sterben schon fast vor Erwartung auf das diesjährige Spektakel."
Allgemeines Gelächter. Wieder einer dieser Witze die ich nicht verstand. Aber mitlachen ist einfach, vor allem wenn man einen sehr guten Lacher neben sich hat. Rudolfs kichern steckte einfach an. Meine Tante dagegen tat es nur aus Höflichkeit, wie ich feststellte. Aber jetzt wieder dem Redner zugehört.
"Bevor wir jetzt wirklich loslegen, möchte ich aber noch eine ganz besondere Frau auf die Bühne bitten. Ich bin mir sicher, jeder von euch kennt sie, es ist ja mittlerweile schon fast Tradition, sie gehört zum Heutag wie der Zwerg zum Heu. Einen kräftigen Applaus für Frau Sabine, die Dame die immer Recht hat!"
Und der Applaus kam auch, nicht zu knapp. Jetzt war mir klar, warum Tante Sabine auf keinen Fall zu spät kommen wollte.
Während also meine Tante auf die Bühne ging, stieß mich Rudolf von der Seite an.
"He, Klaus. Freust du dich auch schon so auf das Spektakel wie ich?"
"Keine Ahnung. Was würdest du sagen, wenn ich sage, dass ich gar nicht weiß was mich da erwartet?"
Rudolf besah mich mit einem merkwürdigen Blick, als ob ich etwas Unpassendes gesagt hätte.
"Ich glaube, das weiß keiner so genau. Aber ich bin mir sicher, es wird wieder ein Riesenspaß."
Dieser Rudolf, immer ging es ihm nur um den Spaß an der Sache.
Tante Sabine war vorne angekommen und hatte das Pult in Besitz genommen. Sie begann zu sprechen, ihre Stimme klang aufgeregt.
"Meine lieben Gäste. Wieder einmal ist es mir eine große Ehre, für sie die letzte Ansprache vor dem Spektakel zu halten. Eine noch viel höhere Ehre ist es, dass mein Neffe Klaus bei mir ist. Auch er feiert heute seinen Geburtstag, und auch für ihn ist das Spektakel immer etwas ganz Besonderes."
Wie konnte diese Frau Dinge für mich vorwegnehmen, über die ich gar nicht Bescheid wusste? Ach ja, sie hatte ja immer Recht. Vorfreude machte sich breit, während das Publikum mir und meiner Tante einen kleinen Zwischenapplaus spendierte. Einige Blicke waren auf mich gerichtet. Woher kannten mich diese Leute?
"Und bevor ich euch noch länger auf die Folter spanne", fuhr Tante Sabine fort, "will ich es lieber kurz machen und euch noch viel Spaß wünschen. Begrüßen wir die Festkapelle, und lasst das Spektakel beginnen!"
Damit verließ sie das Pult und machte sich wieder auf den Weg zu ihrem Ehrenplatz. Ich nahm mir noch einmal das Programm zur Hand.
20.00 - Begrüßung durch den Vorsitzenden
20.20 - Heutag-Geburtstagsspektakel
21.00 - Offene Gesprächsrunde mit Kaffee und Kuchen
HINWEIS: Ehrengäste (1.Reihe), die vor 21.00 die Veranstaltung verlassen sind von allen kommenden Heutag-Veranstaltungen ausgeschlossen.
An der großen Uhr, die an der linken Saalwand angebracht war, konnte ich erkennen, dass es genau 20:20 Uhr war. Ich fragte mich, was der letzte Satz zu bedeuten hatte. Was war so besonders an der Veranstaltung, dass ein frühzeitiges Verlassen ein lebenslanges Verbot zur Folge hatte? An der Ernsthaftigkeit der Aussage ließ ich keinen Zweifel, nachdem dieser kleine Junge, der sich für mich ausgeben wollte, aus dem Saal gezerrt worde war. Ich legte das Programm weg und wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu. Im Hintergrund konnte ich ein Orchester ausmachen, für das der Begriff "Festkapelle" etwas zu kurz geraten war.
Auf ein Handzeichen des Vorsitzenden, der wieder hinter dem Pult Platz genommen hatte, begann das Orchester zu spielen. Ich war beeindruckt. Trompeten, Posaunen, Klarinetten, Flöten, Hörner, Violinen, Trommeln und Pauken, ein ganzes Symphonieorchester, das volle Programm, spielten eine imposante Melodie. Wie auf ein Kommando erhoben sich die Menschen im Publikum und begannen zu singen. Auch ich, was eindeutig einem Gruppenzwang zuzuschreiben war.
Der Text gestaltete sich als sehr einfach, ein Vers sah ungefähr so aus:
Heutag, heutag, heutag, heutag.
Heutag, heutag, heutag, heutag.
Nein, ganz im Ernst. Das ganze Lied, übrigens wundervoll vom Orchester begleitet, setzte sich aus genau diesem einen, rätselhaften Wort zusammen. Da hätte ich das Textblatt gar nicht gebraucht, das mir Tante Sabine fürsorglich in die Hand gedrückt hatte. Na gut, eine gewisse Sicherheit gibt es einem natürlich schon. Da war ich ihr durchaus dankbar. Nach 12 Strophen war das Lied zu Ende und wir setzten uns wieder hin. Tante Sabine drehte den Kopf in meine Richtung.
"Na, Kläuschen, bist du schon gespannt?"
"Darauf kannst du wetten, Tante. Rudolf kann es auch nicht mehr erwarten."
Das freute die alte Dame, und sie lächelte uns beiden zu. Wir zurück. Da vernahm ich ein rollendes, klapperndes Geräusch. Kam aus Richtung der Bühne.
Zwei große Männer in Anzug und Sonnenbrille - Waren das die beiden Rausschmeißer? - rollten irgendetwas Großes, Sperriges herein. Ungefähr so groß wie ein Gartenhäuschen. Ich konnte nicht sagen, was es war, denn es war mit einem roten Tuch zugedeckt. Dasselbe Rot wie der Vorhang. Bei dem Vergleich mit dem Gartenhäuschen fiel mir wieder der Zwerg ein. Was er wohl gerade machte?
"Sieh nur, sie haben die Maschine mit einem blauen Tuch verhüllt. Das macht es spannender", meinte meine Tante.
Die Bemerkung war überflüssig, das hatte ich mir auch denken können. Ich wunderte mich, welche Art von "Maschine" unter diesem blauen Tuch verborgen war. Ein schönes Blau übrigens. Es gibt ja verschiedene Blautöne, manche sind zu grell, andere zu türkis, einige wiederum zu sehr ins violette. Dieses hier war ein edles Dunkelblau, wie man es manchmal in der Abenddämmerung sieht, auf der gegenüberliegenden Seite vom Sonnenuntergang. Aber jetzt mal genug von Farben, die verwirren mich in letzter Zeit ein wenig.
Der Vorsitzende war an die "Maschine", wie es meine Tante genannt hatte, herangetreten, die beiden Anzugtypen verschwunden. Mit einem Schwung zog er das blaue Tuch herunter, und was ich sah, verschlug mir die Sprache. Nicht umsonst hatten es diese Leute extra spannend gemacht.
Es war das, was ich unter dem Namen Papierschneidemaschine kenne. Nur eben riesengroß und auf Rädern. Eine riesige, rechteckige Platte, auf der an der Breitseite parallel zur Kante eine Kerbe verlief. Am Ende dieser Kerbe ein Gelenk an dem eine riesengroße Klinge mit Hebel befestigt war. Eine Klinge, die genau in die Kerbe passte und an der Hebelseite hoch in die Luft ragte. Ich kannte das alles noch aus der Schule wo wir so ein Teil in klein hatten. Papier einspannen, Hebel herunterlassen und die Klinge schneidet das Papier genau entlang der Kerbe. Echt praktisch so etwas.
Ich wunderte mich, was der praktische Nutzen diese Riesengeräts sein möge. Unter der Annahme, das der Apparat ebenfalls dazu benutzt wurde, Papier zu schneiden, konnte ich mir nur so etwas wie eine Origami-Hundehütte oder eine Menge von Riesenpapierschlangen vorstellen. Meine Fantasie hielt sich um die Tageszeit und unter den gegebenen Umständen allerdings in Grenzen. Darum fragte ich auch den Rudolf neben mir.
"Rudi, wofür ist denn dieser Apparat?"
"Keine Ahnung. Frag ich mich auch."
Wenigstens war ich nicht allein mit meiner Unwissenheit.
Jetzt verschwand der Vorsitzende, nachdem er noch einmal die gigantische Gerätschaft und dann das Publikum angestrahlt hatte, im Hintergrund. Stattdessen trat ein großgewachsener dunkelhäutiger Mann auf die Bühne. Ein Basketballspieler? Nein, der Gedanke war rassistisch. Aber zumindest war der Kerl sicherlich über zwei Meter groß, also das mit dem Basketball doch nicht ganz auszuschließen. Was mir auch sofort klar wurde, viele Menschen brauchen ein Mikrofon samt Lautsprecheranlage wenn sie vor einem halben Tausend Menschen sprechen. Dieser Mann nicht.
"Heutagskinder auf die Bühne", brüllte er und streckte seine großen Fäuste vor den massigen Körper, um seine Worte zu unterstreichen.
Freudig sprangen wir auf, ich, der Rudolf, und noch eine Reihe anderer Kinder, die allesamt in der erste Reihe saßen, wo jetzt ungefähr jeder zweite Platz frei wurde. Gemeinsam gingen wir zu der Treppe, die uns auf die Bühne brachte. Das war ganz leicht, ich musste nur den Anderen folgen. Die Gruppe bewegt sich eben leichter als der Durchschnitt. Oben angekommen erwartete uns gleich noch eine Treppe, eine die auf den großen Scheideapparat führte. Der Riese stand davor und machte mit seinem linken Arm eine eindeutige Geste. Ich ging einfach meinem Vordermann nach, das war Rudolf. Keine Ahnung wie der den Platz vor mir erwischt hatte. Inzwischen folgte uns der Typ, der wie ein Basketballspieler aussah, und zeigte uns, wo wir auf der Arbeitsplatte einer gigantischen Schneidemaschine hinlaufen mussten. Diese Situation war so irreal, sie erinnerte mich schlagartig wieder daran, dass das Ganze ja bloß ein Traum war.
So stand ich also nun vor der großen Kerbe, über mir eine Klinge, da musste ich erst gar nicht hinsehen. Zum Glück war ich nicht alleine, die anderen Kinder, es waren so um die zwei Dutzend, standen in einer Reihe links und rechts neben mir. Rudolf auch, er war an meiner linken Seite und hatte ein Lächeln auf seinem runden Gesicht. Hinter uns der Befehlshaber, wie ich ihn mal nennen werde. Ihr wisst schon, der große dunkelhäutige. Der mit dem Zeug zum Basketballspieler. Was jetzt erst einmal kam, war ein tosender Applaus von ziemlich weit unten, von unserem Publikum. Und die Stimme von unserem Befehlshaber.
"Niederknien. Kopf hinlegen!"
Und plötzlich wusste ich, worauf die Geschichte hinauslief und die Begeisterung über den Heutag verpuffte wie die Begeisterung über eine Geburtstagsveranstaltung in dem Moment wo man merkt, dass hunderte von Menschen nur gekommen sind um Köpfe von Geburtstagskindern rollen zu sehen. Der Schock riss meinen Körper, der durch die Befehlsgewalt einer mächtigen Stimme schon zum Knien angesetzt hatte, kerzengerade in die Höhe und ließ ihn erstarren. Was ein Problem war, denn die anderen Kinder knieten sich alle brav hin und legten den Kopf auf die Platte, so dass der Hals schön über der Kerbe platziert war. Hier half nur noch die Flucht nach vorne. Ich drehte mich um.
"Sir, ich mache das nicht!", hörte ich meine Stimme, der Befehlshaber stand mir gegenüber und ich sah ihm fest in die Augen.
"Im Gegensatz zu den Weichkeksen hier drüben will ich meinen Kopf behalten, zumindest noch ein paar Jahre", fügte ich hinzu.
Schien zu wirken, der Befehlshaber kratzte sich am Kopf. Ich ging an ihm vorbei über die lange Platte und zur Treppe. Das war übrigens so eine fahrbare Treppe, wie man sie ab und zu auf Flughäfen sieht. Als ich ein paar Stufen gegangen war, die Knie fingen schon an zu zittern, aber der Befehlshaber verfolgte mich nicht, kam mir meine Tante entgegen.
"Klaus!", rief sie, völlig außer Atem, "Was machst du da?"
"Ich gehe", sagte ich, "die Sache ist mir zu gefährlich."
"Das geht nicht", war Tante Sabine völlig außer sich, "heute ist doch dein Geburtstag! Du kannst doch nicht einfach davonlaufen, noch dazu vor den ganzen Gästen. Heutag ist nicht jeden Tag. Du willst dir diese Gelegenheit doch nicht entgehen lassen!"
"Doch", gab ich fest entschlossen zurück, "ich will meine Rübe behalten!"
"Kläuschen, jetzt mach dir doch nicht ins Hemd. Klar hast du jetzt ein wenig Angst, aber das wird schon. Die anderen sind auch keine solchen Angsthasen wie du."
Damit hatte sie leider Recht. Und noch nicht genug, von der anderen Seite kam Rudolf angerannt, Tränen in den Augen.
"Klaus, was ist bloß los mit dir?", schluchzte er, "Warum hast du mich allein gelassen? Ich kenne die anderen Kinder doch überhaupt nicht. Ich dachte wir machen das gemeinsam."
Tante Sabine schaute mich vorwurfsvoll an.
"Jetzt hast du sogar den armen Rudolf zum Weinen gebracht. Wie würde es dir denn gehen, wenn dein bester Freund einfach und ohne etwas zu sagen verschwinden würde, und das an deinem Geburtstag. Jetzt mach, dass du wieder raufkommst!"
"Aber was ist mit meinem Kopf? Ich will nicht sterben. Und die anderen wollen das sicher auch nicht", versuchte ich es noch einmal mit Vernunft.
"Papperlapapp!", kam die Antwort von Tante Sabine, "Das ist alles nicht so schlimm wie es aussieht. Das wird euch Spaß machen! Rudolf, sei so nett und kümmere dich um Klaus. Sieht so aus als sei der doch nicht so mutig. Wisst ihr was, Kinder? Ich gehe euch begleiten. Aber reißt euch bitte zusammen."
So wurden wir, Rudolf und ich, also wieder über die Platte geschoben, bis zu der Kerbe wo unsere Plätze noch warteten. Der Befehlshaber gab extra für uns noch einmal das Kommando.
"Niederknien. Kopf hinlegen!"
Wir wussten was zu tun war. Indessen stellte sich Tante Sabine neben den großen Mann, wohl um uns ein Gefühl der Sicherheit zu geben.
Als ich meinen Kopf senkte, mein Nacken ungeschützt über der Kerbe, sagte ich es noch einmal laut, nur um mich zu vergewissern:
"Zum Glück ist das alles nur ein Traum."
Der Befehlshaber gab wieder ein Kommando.
"Nieder mit dem Beil. Lasst die Köpfe rollen!"
Ich hörte ein Ächzen und Knarzen über mir. Langsam, ganz langsam, das war mir bewusst ohne dass ich hinsehen musste, senkte sich jetzt die Klinge, die eigentlich einmal dafür gedacht war, Papier zu schneiden. Oder in diesem Fall auch wieder nicht.
"Klaus", hörte ich die Stimme von Tante Sabine hinter mir.
"Ja, Tante Sabine?", natürlich ohne mich umzudrehen, das war jetzt außerhalb des Möglichen.
"Das ist kein Traum."
"Nicht?", fragte ich.
Noch im selben Moment wusste ich, dass es stimmte. Meine Tante hat immer Recht.
"Nein", gab sie sanft zurück, wie um mich zu beruhigen, "es ist auch nicht Heutag. Heute ist Mittwoch."
Damit fing sie gar hässlich an zu lachen. Was aber noch viel hässlicher war, das war dieses Geräusch links von mir, das immer näher kam. Es war ein Knacken und Knirschen, als würden gerade ein Dutzend Knochen, einer nach dem anderen, von einer gigantischen Papierschneidemaschine zerdrückt. Was ja auch der Fall war. Am Lautesten, das wurde mir bewusst, hört es sich immer noch bei einem selbst an. Noch bevor ich etwas tun konnte, klappte mein Kopf mit einem hässlichen Knirschen zur Seite und mein Blut spritze quer über die Platte unter und hinter mir, nicht zu knapp.
Das Letzte was ich sah, war das Publikum. Es jubelte.