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Hexenstein
*
Die Hexe war tatsächlich hinter ihm her. Thilo rannte weiter durch den Wald, weiter über den nur von Mondlicht beschienenen Weg. Blieb noch einmal stehen und spähte zurück. Jetzt war sie nicht mehr zu sehen. Vielleicht war sie weg. Denn Hexen konnte es gar nicht geben. Nichts von all dem, was passierte, konnte es geben. Oder zumindest war es unwahrscheinlich. Mindestens so unwahrscheinlich wie ein Wolf, der vor Rotkäppchen und der Großmutter flüchtete, die mit Messer und Gabel hinter ihm her waren.
In Thilos normalem Leben geschah ohnehin kaum etwas, das erwähnenswert gewesen wäre. In seiner Version eines normalen Lebens saß er täglich von früh bis spät in seinem Büro, hockte am Rechner und programmierte an Computerspielen herum; er konstruierte virtuelle Welten. Privatleben hatte er kaum, nicht mal das mit Fertigpizza und zwölf Bier abends vor der Glotze.
Zunächst war es prächtig gelaufen. Er hatte innerhalb weniger Stunden sogar zwei Frauen kennengelernt. Warum es auf einen Schlag alles andere als prächtig lief, wusste er nicht so genau. Aber jetzt musste er um sein Leben rennen, das wusste er.
Sie war hinter ihm her und sie sah nicht mehr so aus, wie er sie in Erinnerung hatte.
Aus dem Wald: ein knurriges Geräusch. Er erstarrte.
*
Es war Freitagabend gewesen, auf dem Weg ins Wochenende. Er traf auf die Erste der beiden Frauen, als er nur noch zehn oder fünfzehn Minuten Fahrt vom nächsten Kuhdorf entfernt war, durch das er musste. Sie tauchte im Scheinwerferlicht auf wie eine große Schaufensterpuppe. Natürlich bremste er sofort. Eine Anhalterin! War es möglich, dass ihm das passierte? In gewissen Filmen waren bei solchen Sachen gewisse andere Sachen, von denen er träumte, nicht mehr ausgeschlossen.
Er stieß die Beifahrertür auf, kühle Luft wehte herein.
«Hallo!» Sie beugte sich ins Auto. «Da bist du ja endlich. Schön, dass du mich mitnimmst.»
«Nach Dahlburg? Wohnen Sie da?», fragte er.
Sie glich seiner Lieblingsdarstellerin in seinen Lieblings-Internet-Kurzfilmen. Feuerrotes Haar umrahmte ihr Gesicht. Es schien ihm, als hätte sie genau auf ihn gewartet. Auf ihn!
«Dahlburg?» Sie hatte sich schon in den Wagen gesetzt und schloss die Tür. «Nein, nicht direkt. Aber so ungefähr. Fahren wir los?»
Thilo fuhr an.
«Feierabend?», fragte sie.
«Ja», sagte Thilo, während sein Verstand verzweifelt versuchte, die passenden Worte zu finden. «Ich heiße Thilo …»
«Ich weiß, wie du heißt; ich bin Esmeralda. Du kannst mich duzen. Ich will sogar, dass du mich duzt.»
«Gut, gerne.» Immer wieder schlich sich sein Blick zu ihr, vergewisserte sich, dass sie wirklich neben ihm saß. Ja, das sah alles echt aus. Die Frau und die Straße; links Felder, rechts Wald, dann Wald auf beiden Seiten, das Licht der Scheinwerfer in der Kurve, alles echt.
«Halt.» Sie berührte seinen Arm. «Hier steige ich aus.»
Thilo bremste. «Jetzt schon? Mitten auf der Straße?»
«Es ist ein Stück im Wald. Mit deinem Auto kommst du da nicht rein. – Dort, der Weg.» Sie lächelte ihn an, strich sich Haar aus dem Gesicht. «Keine Angst, wir sehen uns bald wieder. Das ist alles kein Zufall; du wurdest mir zugestellt. Nur deshalb bist du überhaupt hier.» Sie öffnete die Tür. «Ich erkläre dir gerne alles, was dich interessiert, aber nicht jetzt, sondern wenn wir uns wiedersehen. Das willst du doch, oder? Und ich will es auch. Und noch viel mehr. Bis dahin!»
«Ich würde noch etwas essen gehen», sagte er schnell. «In Dahlburg, gibt es da einen Gasthof?»
Sie ist nicht unerheblich seltsam, dachte er, aber ihre Nähe so schnell wieder zu verlieren … dass das drohte, zwang ihm einen sanften Schmerz in die Brust.
«Ja, die Schwarze Eule», sagte sie. «Aber was da vorn kommt, das ist nicht Dahlburg.»
«Nein?» Thilo runzelte die Stirn. «Was dann?»
Sie holte zu einer Erklärung aus. «Du bist ein Mann, der an die Physik glaubt, oder? Es wird nichts ändern, wenn ich dir sage: Das da vorn ist nicht Dahlburg, sondern ein Geisterdorf, und es ist auf keiner Landkarte eingezeichnet, weil es aus einer anderen Dimension kommt und so, und darin hausen grauenhafte Wesen aus den Tiefen der Hölle. Aber ich sags dir natürlich trotzdem. Denn erstens glaubt einer, der an die Physik glaubt, nicht an Wesen aus den Tiefen der Hölle und zweitens interessierst du dich sowieso nicht für die Nebensächlichkeiten, oder?» Sie neigte sich zu ihm, er konnte ihre Haut riechen, den Duft ihres Haars.
Thilo zitterte. Schweiß perlte auf seiner Stirn. So nah war er noch nie dran gewesen. Normalerweise war er mindestens so weit weg davon wie ein Obdachloser von seiner ersten Million. Er spürte ihren Körper, der an seinem zog. Ihn heranzog.
Ich muss es bekommen, muss es bekommen, so dachte es in ihm.
«Das Dorf … auf keiner Landkarte?», stammelte er.
«Für dich. Für euch. Das Dorf – existiert ab dem achten Tag der Woche. Bis zum Vierzehnten. Am Fünfzehnten ist wieder der Erste und es ist weg. Und so weiter und so weiter.» Sie lächelte.
«Die Woche hat doch nur sieben Tage.»
«Unter anderem, weil du das weißt, habe ich dich ausgewählt. Weil du rational bist. Das habe ich gesehen. In der Kugel. Keine Sorge, du gelangst ins Dorf, du bist ja sogar schon im zwölften Tag der Woche; schließlich habe ich dafür gesorgt, dass du zeitlich die falsche Ausfahrt nimmst, und solange ich … hörst du mir noch zu? Der zwölfte Tag der Woche ist natürlich – von deinen dimensionalen Möglichkeiten aus gesehen – entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber niemals in der Gegenwart. Normalerweise.»
«Das ist physikalisch unmöglich!»
«Genau. Aber hast du dich schon mal gefragt, mein süßer Wissenschaftler, wie es sein kann, dass physikalisch überhaupt irgendetwas möglich ist?»
*
Jetzt sieht er sie. Eine dunkle Gestalt. Sie kommt über den Acker, aber keinesfalls auf ihren Beinen; das kann er ausschließen, weil sie keine Beine hat; jedenfalls nicht dort, wo sie sein sollten, und das, worauf sie sich fortbewegt, erinnert an die Dornfortsätze eines Hirschkäfers – nachdem man ihn zertreten hat. Nichts von alledem kann es geben, das weiß er absolut sicher. Es existiert, obwohl es unmöglich ist.
Er wendet sich ab und rennt in den Wald, aber er stolpert; sein Fuß bleibt hängen, in irgendsoeinem verdammten Scheißdreck. Er flucht! Warum muss er immer so ein verfluchtes Pech haben! Er hat sich den Knöchel verstaucht. Liegt im Gestrüpp und kramt hastig in seinen Taschen nach dem Messer, das er immer dabeihat. Klappt es auf, sein kleines, rotes Taschenmesser mit dem Korkenzieher dran, während jemand in ihm fassungslos den Kopf schüttelt.
*
Die Luft im Gasthof war stickig. In einer der Ecken saßen die bärtigen alten Männer und rauchten, und sie wirkten so unterhaltsam wie der Kachelofen in der Ecke. Einer von ihnen besaß ein drittes Auge auf der Stirn, ein Zweiter hatte dafür nur eines, das zwischen seinen Nasen platziert war, die aus seinen Wangenknochen wuchsen. Das war seltsam, aber noch seltsamer war der Effekt, den man auf den Landschaftsbildern an der Wand sehen konnte; wie der Wind durch die Bäume strich und die Äste sich bewegten. Manchmal ertönte der Ruf einer Eule. Thilo musste unbedingt nach den Algorithmen fragen, bevor er abreiste.
Zunächst saß er allein am Tisch. Aber bald lernte er die zweite Frau kennen. Sie war die hübsche blonde Bedienung, und Thilo hatte gehört, wie der Wirt sie «Magrat» genannt hatte. Beim dritten Bier setzte sie sich zu ihm. Zu ihm! Es war wie in einem Märchen.
«Wie ich sehe, geht es dir gut», sagte sie.
Er trank den letzten Schluck aus dem Krug, dann schob er ihn weg. «Ja, ich verbringe das Wochenende auf dem Land, also das soll ich machen, sagt mein Chef, um auszuspannen, Ruhe zu haben … ich habe einen wichtigen Job … und ich …»
«Das ist süß. Du brauchst deine Ruhe und da kommst du zu uns. Na, Hauptsache, du hast uns gefunden», sagte sie und zeigte dann auf den Krug. «Willst noch eins?»
«Nein. Lieber nicht.» Thilo merkte, dass er schwitzte wie in der Sauna. Magrats ausladende Formen strahlten Hitze aus wie ein Lagerfeuer oder, größer noch, wie ein brennender Scheiterhaufen.
«Dann machen wir etwas anderes.» Sie zwinkerte und fasste ihn kurz an der Hand. «Ich zeig dir das Zimmer oben. Dein Bett. Ich würde auch mit dir reinkommen, aber das geht noch nicht, meinen Eisprung habe ich erst morgen.»
«Das ist natürlich ungünstig.» Sein Verstand flog quer durch den Raum.
Magrat lachte. «Alle Frauen haben den Eisprung am dreizehnten Tag. Und das nur alle sieben Jahre.»
Er nickte. Sein Verstand knallte gegen die Scheibe. Surrte, flog auf und ab, flog wieder und wieder gegen das Glas.
Du musst das jetzt haben, endlich haben, dachte etwas anderes zu ihm. Egal, was in dieser Gegend los ist, egal, was sie alle für einen Quark reden von der 14-Tage-Woche oder den Wesen aus der 5. Dimension oder den Kaulquappenkrokodilen im Fomalhaut-Sternsystem; auch wenn die beiden Frauen oder sogar alle Frauen hier irre sind, sie wollen dich. Dich!
Magrat stand auf und zog ihn von seinem Stuhl. Dann führte sie ihn die Treppe hoch zu dem kleinen Gästezimmer, in dem er schlafen sollte.
«Ich hoffe, du hast keine Angst vor mir», sagte sie. «Es stimmt doch, was ich sage, oder?»
Thilo nickte. Beweisen hätte er es nicht können, aber er hielt es nicht für ausgeschlossen, und er vermutete, sie interessierte sich nicht für Prozentzahlen.
«Heute geht es alles noch nicht, wir machen es morgen, Süßer.» Sie streichelte kurz über die Beule in seiner Hose, was einen Wonneschauer in alle Richtungen entsendete, und huschte die Treppe hinunter.
Morgen. Wir machen es morgen. Wir.
*
Thilo robbt in ein Gebüsch.
Ich bleibe ruhig liegen, ganz ruhig, es ist dunkel hier, und wenn ich sie nicht sehe, dann findet sie mich nicht … Nein, das geht nicht, besser ich krieche zu irgendeinem Haus und bitte um Hilfe.
Um nicht so allein zu sterben, wie er gelebt hatte. Allezeit am Computer, allezeit mit Programmieren beschäftigt. Von den Kollegen gemieden. Für die war er so interessant wie ein kaputter Bildschirm. Die Frauen betrachteten ihn wie etwas, das sie normalerweise mit einem feuchten Tuch abwischen.
Thilo hielt inne und lauschte. Das Denken in ihm war gefährlich, er bekam nicht mehr mit, was in der echten Welt um ihn herum geschah. Falls es noch die echte war.
*
Bei Tagesanbruch war er hoch zum Dahlburger Hügel gefahren, hatte den Wagen stehen lassen und wanderte bei kühlem Oktoberwetter talwärts, um mit seiner alten, analogen Minolta Landschaftsaufnahmen zu machen. Und da traf er am Wegesrand zufällig Esmeralda wieder, die offensichtlich auf ihn wartete.
«Da bist du ja!» Sie lief auf ihn zu.
«Hallo», sagte er.
«Erinnerst du dich noch an mich?»
«Natürlich.»
«Das ist fein. Ich lade dich ein, zu mir nach Hause. Heute Abend. Ich habe im Wald ein Lebkuchenhaus für uns beide und natürlich auch einen Backofen und das ganze Zeug. Erst gibt es was zu essen und danach lass dich überraschen.»
Thilo glotzte sie mit großen Augen an. Er wusste, was solche rothaarigen Mädchen manchmal mit Männern anstellten.
«Aber nur, wenn mal nichts im Fernsehen läuft.» Sie lachte laut, dann reichte sie ihm
einen kleinen Gegenstand, der in der Vormittagssonne glitzerte. «Hier, für dich!»
«Was ist das?» Er griff zu.
«Ein Hexenstein», sagte sie. «Mein Ring. Damit mache ich dich untertan, sodass ich alles mit dir machen kann, was ich will. Und du willst es auch. Du hast es dann schon immer gewollt.»
Thilo schluckte. Ja. Endlich würde eine mit ihm machen, was sie wollte. Vielleicht durfte auch er machen, was sie wollte. Er nahm den Ring und streifte ihn sogleich über einen Finger. Selbst wenn der Unsinn mit dem Untertangemachtwerden stimmen sollte, das spielte keine Rolle mehr, sein Verstand lag inzwischen auf dem Fensterbrett, ohne sich zu bewegen, die Beinchen nach oben gestreckt.
«Sehr gut», sagte Esmeralda. «Ich bin nämlich eine Hexe und Hexen sagen immer die Wahrheit. Schließlich brauchen wir deinen freien Willen, deine freie Entscheidung, was anderes ist nicht erlaubt. Und das zählt nur, wenn du über alles informiert bist. Also. Ich werde dich hypnotisieren und fesseln und so weiter, dann werde ich dich vögeln; alle Hexen und auch die übrigen weiblichen und fast weiblichen Monster in der Umgebung benötigen für die Fortpflanzung irdische Männer; so rationale, die nur sehen, was sie beweisen können; weil es die gibt, sterben wir Monster nicht aus. Du und ich, wir treiben es, bis du mich geschwängert hast, und danach beiße ich dir den Kopf ab. Einverstanden?»
Thilos Kopf nickte vollautomatisch. Er hatte gegen die wichtigen Bestandteile des Geschehens keine Einwände.
«Ja, das klingt gut», sagte er.
«Wir sehen uns heute Abend, bei Sonnenuntergang, dort, wo du mich aus dem Auto gelassen hast. Und komm aus dem Gasthof direkt zu mir. Und mach nicht mit der blonden Schlampe dort rum, die meint es gar nicht gut mit dir; die beabsichtigt, dich in ihre Höhle zu locken und zu verführen, nur um schwanger zu werden; und anschließend tötet und frisst sie dich. Sie ist nichts als ein böser Ghul, eine Leichenfresserin, hast du verstanden?»
Thilo nickte. Klar hatte er verstanden. Jahrelang gar nichts und jetzt sogar zwei davon!
«Sie hat dich doch noch nicht bestiegen?», fragte Esmeralda.
«Nein», sagte Thilo. So viel Glück hatte er noch nicht gehabt.
«Das hätte auch keinen Sinn ergeben.» Sie küsste ihn und schwebte davon. Aus der Ferne winkte sie ihm noch einmal zu und verschwand im Wald.
Mittags erreichte er die Schwarze Eule, und kaum saß er, da gesellte sich Magrat zu ihm; ihre Lippen waren knallrot und sie duftete dunkel.
Thilo wusste warum und zitterte. Aber erst einmal schien ihr Gesichtsausdruck darauf hinzudeuten, dass sie mit ihm reden musste. Davon hatte er schon gehört, das war kein so gutes Zeichen. Und tatsächlich, sofort ging es los.
«Woher hast du das?», rief Magrat und zeigte auf seine Hand. Bevor er antworten konnte, ging es gleich weiter, ein schneller Schwall von Worten: «Du hast das von ihr, stimmt es? Von diesem Hexenmiststück aus dem Wald …»
«Hexenmiststück? Wer soll das sein?», fragte Thilo.
«Tu nicht so!», sagte sie. «Ich spüre diesen Stein! Aber ich habe dich zuerst gesehen, also gehörst du mir. Pass auf, wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren! Du läufst jetzt sofort zu der kleinen Scheune am Waldrand, versteckst dich dort und wartest, bis ich komme; ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen, aber glaub mir, du wirst es nicht bereuen, wenn ich bei dir bin und dich behandle.» Ihre Stimme änderte sich zurück ins Sanfte. «Ich hol dir mit dem hier die Marmelade raus!» Ihre Zunge fuhr aus dem Mund und strich ihm über die Nase, was geringfügig weniger befremdlich gewirkt hätte, wenn ihr Gesicht nicht über einen halben Meter von seinem entfernt gewesen wäre. Die Männer am Tisch in der Ecke blickten (mit mehr oder weniger vielen Augen) herüber.
«Du weißt, wo die Scheune steht?»
Er nickte und stöhnte.
«Was alles dich erwartet, erzähl ich dir, wenn wir allein sind, und nun los!» Magrat zerrte ihn hoch und bugsierte ihn zur Tür. Dann stieß sie ihn auf die Straße. «Und beeil dich, denn sie darf dich nicht vorher kriegen, das kannst du mir glauben! Sie hat dich belogen. Sie wird nicht mit dir vögeln, oder hast du irgendwas an dem Märchen mit Hänsel und Gretel nicht verstanden? Hat die böse Hexe denn mit dem Hänsel gevögelt? Sag mir, ob sie das hat!»
Da hatte sie recht. So war es nicht gewesen. Magrat schien Bescheid zu wissen, und es war offensichtlich ihr Wunsch, ihn vor Bösem zu bewahren. Vor Esmeralda. Wenn sie recht hatte, konnte sein Traum allerdings platzen; sein Traum, mit beiden zu schlafen.
Magrat schubste ihn und er taumelte einige Schritte. Sein Kopf fühlte sich betäubt an, empfindungslos wie ein großer weißer Radiergummi, und schmerzfrei.
Sie zeigte ihm die Richtung, in die er wollte.
Er ging los, hinaus aus dem Dorf, auf den Weg, der zur Scheune am Waldrand führte. Plötzlich ging unerwartet und schnell die Sonne unter, als hätte jemand auf Zeitraffer gedrückt; nach zwölf Sekunden war es Nacht und der Mond stand am Himmel; das verbesserte Thilos Stimmung kaum. Die hatte ohnehin eine Abschürfung bekommen.
Er wollte irgendetwas denken, aber er wusste nicht, womit. Normalerweise hätte er zunächst die verschiedenen Fakten geordnet, im zweiten Schritt die Daten verdichtet und dann zur Veranschaulichung übersichtliche Diagramme erstellt. Aber er hatte ja sein Laptop nicht dabei. Danke, liebe Kollegen, dass ihr mir geraten habt, ohne alle Elektronik in das Wochenende zu fahren. Als ob ihr gehofft hättet, dass ich allein nicht mehr zurückfinde. Thilo ging weiter, schaute sich um; niemand folgte ihm, keine Magrat, kein Wirt, keine Dorfbewohner.
Nach einer Weile, als ihm war, als hätte er einen Ruf gehört, wandte er sich um. Das Dorf lag schon einige hundert Meter zurück und er erblickte die Gestalt, die hinter ihm herkam, hinter ihm herkam mit verrenkten Bewegungen, als hätte ihr jemand die Arme und Beine ausgerissen und falsch herum wieder am verdrehten Körper angebracht: die Knie nach hinten, den Kopf auf der linken Schulter und auf der rechten Schulter etwas wie der Kopf eines etwas zu großen … es war dunkel, er sah es nicht richtig, aber das Ganze sah unbefriedigend wenig nach Freuden der Liebe aus. Es war besser, Abstand zu dieser … Sache einzuhalten.
*
Er erreicht die Scheune, trotz des Knöchels. Zieht die Tür auf, schleppt sich ins Innere und legt sich in eine der finsteren Ecken.
Dann Erschrecken! Ein Geräusch an der Tür!
Mit einem knarrenden Laut öffnet sie sich.
Im Eingang steht Magrat.
«Gott sei Dank!», sagt er. «Du bist es!»
Sie bleibt an der Tür stehen und schnuppert wie ein Hund. «Wo ist die scheiß Hexe?»
«Ich weiß nicht», sagt er. «Irgendwo. Sie hat mich verfolgt.»
«Sie hat dich noch nicht …?»
Thilo schüttelt den Kopf.
Magrat schließt die Tür hinter sich. «Um ein Haar wäre sie mir zuvorkommen – und jetzt zieh die Hose aus!»
«Hose aus? Jetzt gleich?» Er starrt sie an.
«Natürlich jetzt gleich! Worauf sollte ich warten? Ich bin fruchtbar! Ich will schleunig ein Kind von dir!»
Sie zieht ihre Jacke aus, streift ihr Kleid ab. Steht mit einem Mal nackt und groß vor ihm, ihre Brüste schaukeln unfasslich. «Mach es mir!», ruft sie und stürzt sich auf ihn. Sie zerrt ihm die Hose herunter, setzt sich auf ihn. Drei Sekunden, bis er es glauben kann, dann schließt er die Augen mit einem Grunzen.
Er hört ein Krachen und öffnet sie wieder. Die Rückwand der Hütte neigt sich nach außen, hebt und schiebt sich seitlich weg. Er sieht Magrats lachendes Gesicht, das sich seinem nähert für einen Kuss. Dahinter erscheint mit verrenkten Gliedern die Esmeralda-Kreatur; ihre Pranken packen Magrats Haare und zerren ihren Kopf nach oben. Magrat brüllt, während ihr Mund sich öffnet, immer weiter öffnet, zu einem gewaltigen Schlund und größer wird als ihr Schädel, auf dem sich anstelle des Haars jetzt lange fette dreckig-rosa Würmer krümmen. Die Tentakel peitschen durch die Luft. Thilo beginnt zu schreien. Esmeralda reißt den Magrat-Kraken von ihm herunter und zetert: «Nimm deine verwesten Drecksfinger von ihm! Ich habe ihn zuerst gesehen! Ich habe ihn hergeholt! Mir wird er ein Kind machen!» – «Nein, mir, du erbärmliche Missgeburt, mir macht er eins!» Magrat gelingt es, sich umzudrehen, wenigstens vielen ihrer Teile. Thilo sieht eine schnelle Bewegung, zwei schwarz geschuppte, dicke, hornige Ranken umkreisen Magrats Kopf; die schlägt mit einer ihrer Tentakelklauen in Esmeraldas Gesicht. Danach ist nicht mehr fehlerfrei zu unterscheiden, welche Körperteile zu wem gehören. Es erscheint sogar fraglich, ob die Körperteile noch selbst wissen, zu wem sie gehören. Immerhin haben die kämpfenden Furien hinreichend Luft, um (trotz der physikalischen Auseinandersetzung) herumzubrüllen – wobei es weiter um Familienplanung geht, während blutig spritzende Fleischfetzen durch die Scheune fliegen.
Thilo dreht sich auf den Bauch. Kriech weg!, schreit jemand in seinem Kopf, dem er wirklich wichtig ist. Es gibt kaum Platz auszuweichen, als das empfängnisbereite weibliche Gebilde ineinander verkrallt in seine Richtung stürzt. Etwas massiv Stacheliges schleudert auf seinen Kopf zu, er will die Hände heben und …
*
«Und das, was ist das?», fragte sein Chef und deutete auf eine Stelle. Die Blicke aller Anwesenden folgten seinem Finger.
«Das da ist jetzt», erklärte Thilo, «der abgerissene Kopf von dem weiblichen Ghul. Leider sind vorn die Augen eingedrückt, da sieht man kaum noch was. Die sind blau gewesen.»
Zufrieden entnahm er den Gesichtern seiner Kollegen, dass sie von seinen Urlaubsfotos beeindruckt waren. Einige der Körperteile der Monster waren gegen die Wände der Scheune geschmiert, aber die meisten Sachen lagen auf dem Boden verstreut herum, in unterschiedlich großen Portionen; offene Knochenbrüche in Fleischmanschetten, Bluttümpel am Boden und die zerfetzten Innereien zwischendrin vermittelten das Bild eines Kampfs, wie man ihn seit den Heldentaten der Antike nur noch in Ausnahmefällen zu sehen bekam.
Das war es also gewesen, was man ein Liebesspiel nannte, überdies auch noch mit zwei Frauen gleichzeitig. Die um ihn gekämpft hatten.
Die anderen äußerten Interesse, da auch mal hinzufahren, und fragten ihn, wo genau diese Ortschaft lag, die er da gefunden hatte.
«Das ist nicht für jeden geeignet», antwortete Thilo und sammelte die Fotos wieder ein.
Die Idee zu einem fantastischen Computerspiel war in seinen Kopf geraten, und er wollte schnell zu seinem Rechner.