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Hey Jude!
Hey Jude war immer meine Begrüßung für sie gewesen. Und sie mochte es. Und deshalb war es wohl auch unser Lied gewesen, von dem wir jede Version kannten.
Auch jetzt, wo ich hier auf meinem Bett liege und an die Decke starre, geistert mir dieses Lied im Kopf herum.
Doch dann kam dieser Abend, als Jude und ich in meinem Zimmer saßen, uns stritten und gegenseitig gefragt hatten, was wir überhaupt wollen. Sie wollte mehr, als ich jemals zu geben gewagt hätte, ich wollte weniger, als sie mir gab.
„Es war deine Schuld“, warf sie mir vor. Und ich wusste, dass es stimmte.
„Hey Jude, du hast mich dazu gedrängt“, stammelte ich nur nach einer Erklärung suchend.
Der Türknall beförderte mich schlagartig in einen Trance-Zustand, aus dem ich bis heute noch nicht erwacht bin.
Ich fühle mich unwohl, wenn ich an den Abend zurückdenke.
Und mir wird übel, wenn ich an die Party an diesem Abend denke. Wie eine Zecke hängte ich mich an dieses Mädchen, dessen Name ich längst vergessen habe und dessen Gesicht ich hoffnungslos in meiner Erinnerung suche. Dort stoße ich jedoch immer wieder nur auf Jude: Ihre hellbraunen, schulterlangen Haare, ihre Grübchen, die sich beim Lachen auf ihren Wangen zaubern und ihre großen, braunen Augen, deren lebensfroher Blick nicht nur mich fesselt.
Diese Augen, die mich auch anschauten, als ich schon einmal hier lag – aber damals nicht allein. Jude wollte mich überraschen und mir eine Freude bereiten. Die Überraschung war ihr gelungen, die Freude nicht.
Hey Jude, don´t make it bad, war das einzige, was mir in dieser prekären Situation einfiel. Doch da zauberten sich nicht die Grübchen auf ihre Wangen.
Ich wühle in meinen Erinnerungen nach schöneren Ereignissen, als den grausamen Abend. Doch immer wieder sehe ich nur den Blick, der dieses Mal nicht diese Lebensfreude ausdrückte, der nicht immer wieder lächelte, wenn ich sie Jude nannte, sondern, der mich wohl am liebsten getötet hätte.
Was würde ich geben, damit sie mir verzeihen könnte. Doch wie soll das gehen, wenn ich nicht einmal mir selbst verzeihen kann? Wie soll sie mir vergeben, wo ich doch ihr ganzes Vertrauen zerstört habe?
Remember to let her into your heart, then you can start to make it better, antworten die Beatles.
Schnaps schmeckt besser, wenn man ihn alleine trinkt, habe ich gestern herausgefunden. Während Bier mir nämlich die Grenzen meiner Nehmerqualitäten aufzeigt, schreit der Schnaps nie Stopp, egal, wie viel man von ihm trinkt. In Gesellschaft ist das vielleicht hinderlich, in der Einsamkeit ein Segen. Doch zur Zerstörung der Erinnerungen ist er nur dann geeignet, wenn man soviel von ihm getrunken hat, dass eine Vergebung nicht mehr erlangt werden kann. Doch soweit bin ich noch nicht. Nicht, solange sie mir noch eine Chance geben kann.
Der Kellner gestern kannte mich und staunte nicht schlecht über meine Fähigkeit, Schnaps in kurzer Zeit zu sich zu nehmen. Er fragte mich, ob was nicht in Ordnung sei. Ich antwortete For well you know that it's a fool, worauf er mir nur einen fragenden Blick zuwarf. Kennt das Lied wohl nicht. Vielleicht kennt er auch Jude nicht. Er setzte sich neben mich und wollte reden. Doch mir war nicht nach reden oder zuhören. Alles was er sagte oder mich fragte, habe ich vergessen, seine Worte sind abgedriftet in die unendlichen Weiten meines neuronalen Verkehrssystems.
Gedanklich blättere ich zurück in unerem gemeinsamen Buch und stoße auf die Seite, die vom märchenhaften Beginn erzählt.
Schon lange hatten wir uns damals gekannt und solche Gefühle füreinander verspürt. Doch keiner von uns wusste es. Wir saßen uns gegenüber, hatten getrunken und nahmen uns trotz der Nähe kaum wahr.
„Du bist komisch“, begann sie dann doch das Gespräch aus dem Nichts. Noch heute habe ich diesen süßen Blick vor mir, der dieses wunderschöne Lächeln zeigte. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln, was im Vergleich zu ihrem Lächeln jedoch bei einem Versuch blieb.
„Du auch“, antwortete ich ihr bloß unromantisch und beendete das Gespräch abrupt. Erst später am Abend, oder auch früher am Morgen küssten wir uns und waren das Traumpaar, dessen heutige Trennung keiner verstehen würde.
Die Sonne brennt auf die Erde herab. Der Ventilator surrt leise die eintönige Melodie der Einsamkeit. Meine Hand wandert wie von selbst zum Drehknopf des Radios, dessen Boxen vom heißesten Tag des Jahres sprechen, bevor es wieder in eine halbsstündige Musikmelange wechselt. Hey Jude, beginnt plötzlich Paul McCartney. Ich schalte wieder ab. Aber seine Zeilen hallen nach, setzen sich in meinem Kopf fest und mit ihnen das Bild von Jude. Ein Mädchen, bei dem ich mir einbildete, sie zu lieben und von der ich mir einbildete, sie liebe mich. Doch ich hatte ihr nur Schmerzen verursacht.
And any time you feel the pain, hey Jude, refrain! Sie hat die Schmerzen gespürt, hat mich völlig zu Recht zurück gelassen in meiner Einsamkeit. Und nun lausche ich weiterhin dem Ventilator, während ich wütend auf mich selbst hilflos im Nirvana meiner Erinnerungen nach unseren Erlebnissen wühle. Das einzige, was mir bleibt, ist der Gedanke an eine Zeit, deren Bedeutung mir erst dann bewusst wurde, als sie längst schon der Vergangenheit angehörte.