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HH-Neugraben

Jot

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05.05.2007
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HH-Neugraben

Hallo. Bin neu im Forum und stelle mich mal selbt mit einer Geschichte über meine Person vor.

Neugraben, 19 September, 20.20 Uhr Eisenbahnüberführung...
copyright by Jan Maaß 2006

Von der letzte Stufe sind es nur schlappe 15 Schritte bis zur Tür des kleines Kiosks. Die würde ich auch schon blind hinbekommen. Heute Mittag hatte ich zum erstenmal die Strecke mit geschlossenen Augen abgelaufen und bin nicht einmal mit einem Zeitungsständer kollidiert. Auch wenn mich der Inder oder Pakistani, der im Kiosk arbeitet, komisch angeschaut hat, war's ihm im Endeffekt wohl egal, ob ich nun mit offenen, oder geschlossenen Augen bei ihn hineinstolper. Hauptsache ich kaufe was. Und ich kaufe dort immer das gleiche.

Aber heute Abend biege ich nicht nach rechts zum Kiosk ab. Ich bin pleite, also kann ich dort auch nichts kaufen. Durch die Scheiben sehe ich den Angestellten und wie er gerade Geld für eine BILD und einem Marsriegel einkassiert. Er nimmt keine Notiz von mir. Der Kunde trägt eine braune Lederjacke. Mehr erkenne ich nicht. Ich biege nach links, verlasse den überdachten Teil der Überführung, wo sich gegenüber vom Kiosk noch die Fahrkartenautomaten und die Pläne befinden. Die Türen gehen nicht automatisch auf. Ich muss sie aufdrücken. Dann bin ich draußen.
Im ersten Moment wirkt die Überführung vor mir wie eine lichtüberflutete Insel in der einsetzenden Dunkelheit. Für eine Sekunde bin ich richtig geschockt. Das liegt vor allem an der Beleuchtung, die hier nicht von oben kommt, wie man es vielleicht erwarten würde, sondern von unten. Dann stellt sich das komische Gefühl ein und ich kann weiter gehen. Der Beton schimmert noch feucht vom letzten Regenschauer, die Luft ist frisch und klar. Man merkt, dass der Sommer jetzt wohl entgültig vorbei ist und sich der Herbst ankündigt. Ein Windstoß trifft mich, bevor ich meine gewohnte Position auf der Überführung erreiche: Genau in der Mitte über Gleis 3 und Gleis 4. Mit etwas Phantasie blicke auf ein Königreich aus Schienen hinab, aber wirklich nur mit etwas Phantasie. Ohne Phantasie sind es nur Schienen und ich stehe sieben Meter darüber, sonst nichts.

Mit dem Rücken lehne ich mich an das Ostgeländer und schaue nach Westen, wo ein letzter, roter Streifen über dem Horizont dahinschwimmt. Der wird nicht mehr lange durchhalten, sicher nicht. Im Herbst kann sowas ganz fix gehen. Der Bahnhof unter mir ist beleuchtet und weiter im Westen blitzen ebenfalls die Lichter auf. Es sieht so aus, als würde es dort nach Hamburg hineingehen. Aber das stimmt nicht, denn nach Westen geht es hinaus in die Peripherie. Irgendwann kommt dann Stade, Cuxhaven, England, Irland, Kanada. Vielleicht alles Orte wo ich jetzt lieber wäre, als hier in Neugraben ruzustehen, um eine Dreiviertelstunde auf den nächsten Zug zu warten. Gleich darauf frage ich mich, warum es mir denn lieber wäre, jetzt in Cuxhaven zu sein, als hier. Ich hab nichts mit jener Stadt am Hut, kenne keine Leute dort. Vielleicht wäre es ja nur eine wilkommnde Abweschlung, sich mal woanders zu langweilen. Ich werfe einen Blick über die Schulter nach Osten. Obwohl es dort nach Hamburg hineingeht, ist es düster. Die Hochhäuser in Neuwiedentahl kann ich gerade noch so als Silhouette wahrnehmen. Hamburg verliert sich im Dunkeln. Schon merkwürdig. Dann schaue ich nach links, zurück zum überdachten Teil der Überführung. Die weiß-leuchtende Uhr neben dem DB und S-Bahn Logo zeigt 20.24. Noch sechsundreißig Minuten. Sechsunddreißig Minuten ohne etwas, um die Zeit totzuschlagen. Kein Alkohol.
Aber wenigstens habe ich die Überführung für mich alleine. Nur hin und wieder werden ein paar Leute vorbeikommen, wenn die S-Bahn aus der Innenstadt kommend am Endbahnhof die Leute abläd. Die Meisten warten dann an Gleis 3 auf die Regionalbahnen nach Stade und Cuxhaven. Ein Bruchteil wird an mir vorüber gehen zum Parkhaus, dass man mittels der Überführung direkt erreichen kann. Wie das wohl ist, eine Auto zu haben. Steuern dafür zu Zahlen, sich über die Benzinpreise zu ärgern, einen Unfall zu bauen, ein Kind zu überfahren. Ich hab mein Führerschein zwar gemacht, doch inzwischen Frage ich mich, wozu eigentlich. Ich kann ja hier stehen und eine Dreiviertelstunde auf die Bahn warten, anstatt eine Dreiviertelstunde auf der B-73 im Stau zu stehen, auf der am meisten befahrenen Bundesstraße Deutschlands, wenn es nach einer Doku, die mal auf Kabel 1 lief, geht. B-73. Ein leben mit dem Albtraum. Ich lebe an der B-73. Doch Albträume hat sie mir noch nie bereitet. Und nichts Alkoholisches...

Aber ich habe noch eine angebrochen Sprite im Rucksack. Das ist doch schon was. Ich kann die Sprite nehmen, sie in der Hand halten und dann sieht es schon so aus, als hätte ich etwas zu tun. Ansonsten hätte ich doch gar keine Berechtigung, hier zu stehen. Ich rauche nämlich nicht. Und normalerweise gehen doch nur Raucher nach draußen, um sich gemütlich eine durchzuziehen. Vielen Dank. Ich werde an Lungenkrebs sterben. Das habe ich längst akzeptiert. Ich habe so viel passiv geraucht, dass meine Lunge schlimmer aussieht, als die der meisten Kettenraucher. Und das mit 23 Jahren. Das ist zum Kotzen. Zum Kotzen wie mein morgendlicher Rauchehrhusten. Nochmal, liebe Leute: Danke schön. Aber vielleicht gibt es ja noch nen anderen Weg.

Die S-Bahn auf Gleis 2 verlässt den Bahnhof und fährt heulend nach Osten. Ich schaue ihr eine Zeit lang nach, dann verliere ich das Intersse an ihr. Von Westen kommt bereist die EVB. Die fährt zwar zurück in meine Richtung, aber ich kann sie dennoch nicht nehmen, weil sie vor meiner Zielstation nach Süden abbiegt und sich gen Bremervörde bewegt. Pech gehabt. Gleich müsste auch die nächste S-Bahn kommen. Und ich brache was, um die Zeit totzuschlagen. Ich durchforste noch einmal mein Portemonnaie. Nur einen Euro. Das Holsten kostet im Kiosk aber 1,55. das Leben ist gemein.

Die EVB fährt auf Gleis 3 ein. Niemand steigt aus. Sie soll die Pendler nur nach Hause bringen und jene drängen sich durch die Türen, als gäbe es da was umsonst, oder als wäre es schon unerträglich kalt draußen.

Ich wende den Blick ab. Neben der Tür zum überdachten Teil der Überführung stehen zwei leere Bierflaschen. Da ist Pfand drauf. Ich gehe auf die Faschen zu und will sie aufheben. Aber es stinkt hier so nach Pisse, dass ich es doch besser lasse. Außerdem habe ich ja immer noch die Sprite. Ich schlendere zurück zu meiner alten Position, knie mich hin und nehme den Rücksack ab. Er landet genau in einer Pfütze.

Eine Sekunde später gehört dieser Platz nicht mehr mir alleine. Ein Mädchen stößt die Tür auf und begibt sich ins Freie. Sie schaut mich nur kurz an und ich schaue auch nur kurz zurück. So Mische aus Funk und Goth. Wäre sie normaler, würde sie vielleicht richtig gut aussehen, aber so und OH GOTT! Kann jemand den Mädchen mal sagen, dass enge Hosen, über die das Fett rüberquirlt, einfach ekelhaft sind? Das macht sogar halbwegs schlanke Damen unattraktiv. Wer hat nur diesen völlig bescheuerten Modetrend in die Welt gesetzt, dass man unbedingt einen schmalen Hautstreifen zwischen Jacke und Hose sehen muss? Wenn man den Körper dazu hat, dann ja, aber auch bitte nur dann!

Vor der Treppe zu Gleis 4 macht sie Halt. Ich weiß nicht, was sie da will. Der nächste Zug fährt dort erst nach Mitternacht ab. Dann lehnt sie sich gegen die Brüstung und kramt eine Schachtel Marlboros aus ihrer pechschwarzen Handtasche hervor. Ach so. Natürlich. Was auch sonst. Ich wende mich wieder meinem Vorhaben zu und suche in meinem Rucksack nach der Sprite. Ihr Feuerzeug klickt ein paar Mal hintereinander und als ich meine Sprite gefunden hab, klickt es immer noch. Das ist wohl leer. Sie schaut zu mir herüber und ich schaue schnell weg. Sie will bestimmt Feuer von mir, aber sie traut sich wohl nicht zu fragen, weil ich heute wie der letzte Penner aussehe. Unrasiert, ausgefranste Joggingjacke, trüber Blick. Heute Mittag hab ich mir hier am Kiosk drei Dosen besorgt. Anders geht’s nicht. Computerunterricht. Umsetzung einer Projektes in Dreamweaver. Und das in einer Gruppe. Gruppenarbeit an sich ist nicht so schlimm, aber die Zusammensetzung. Zwei davon hatte ich für eine Fotografieaufgabe als Models angeheuert. Ein Mädchen und ein Junge. Beide hatten es vergessen - hatten sie behauptet - und mein wochenlang vorbereitetes Projekt damit scheitern lassen. Dass sie mir damit die Note versaut haben ist mir egal. Noten interssieren niemanden. Nur in einer Bewerbungsmappe sieht das nicht gut aus. Arschlöcher. Und nun muss ich mit denen Zusammenarbeiten und am besten noch so tun, als wäre nichts gewesen. Ich hasse es zu arbeiten, wenn die Stimmung im Team nicht funktioniert. Hätte gute Lust, die beiden mit dem Projekt auch im Stich zu lassen. Doch hier sieht das anders aus. Während die beiden nur mir die Mappe versaut haben und selbst keinen Schaden davontragen werden, so würde ich mir in diesem Fall selbst die Mappe vermasseln. Und wenn ich die zwei nur einen Tag mit Dreamweaver alleine lasse, dann kann ich auch gleich alle Dateien selbst im Papierkorb entsorgen. So sieht’s aus und das stinkt mir echt gewaltig. Und darum übersteh ich den Dienstag auch nur betrunken. Eine Dose hier, eine in der S-Bahn und eine auf dem Fußweg zur Schule. Dann in der Pause rüber zum nächsten Laden, die leeren Dosen abgeben, Pfand kassieren, noch mal zwei leeren, abgeben, Pfand kassieren und sich verduften. Hab extra noch fünf Minuten gewartet, damit ich den anderen ja nicht in der U-Bahn-Station über den Weg laufe. Dann müsste ich mit ihnen reden, obwohl ich ihnen am liebsten eine reinhauen würde.

Das Goth-Mädchen lässt wieder das Feuerzeug klicken, während die EVB nach Westen davonfährt. Wie die neue S-Bahn eingefahren ist, hab ich gar nicht mitbekommen. Die ersten Menschen kommen die Treppe herauf. Fast alle per Rolltreppe. Faules Gesocks. Aber vielleicht ist es auch nur Herdentrieb. Einer nimmt die Rolltreppe, also machen es alle. Und dann eine Lautsprecheransage. Die RB nach Stade würde heute abweichend auf Gleis 4 fahren. Verdammt! Das bedeutet, dass mehr Menschen als sonst die Überführung nutzen werden. Das ist nicht gut für die Stille. Außerdem ist der Bahnsteig 4 unüberdacht und ich kann die Menschen dann die ganze Zeit sehen, wie sie da rumstehen, als müssten sie ausgerechnet dort auf die Bahn warten, die erst in... Fünfundzwanzig Minuten einfahren wird. Solange könnte man sich auch in den Kiosk stellen. Da gibt es auch einen Bäcker, wo man Tellergroße Franzbrötchen bekommt, oder wie es ein Schweizer vor mir in der Reihe mal formuliert hat...
I chätt gärn dieses Schmoalsgebegk miet Ziemmmt

Die Tür geht auf. Die Menschen latschen an mir vorbei auf das Gleis 4 zu. Nur vorwärts Leute. Da wartet die Erlösung auf euch. Der Feierabend. Einige gehen auch geradeaus zum Parkhaus. Viel Spaß im Stau. Das Goth-Mädchen fragt nun einem nach dem anderem nach Feuer. Du blöde Kuh hättest auch mich fragen können. Hätte dich nicht gefressen auch wenn mir dein Outfit nicht gefällt. Beim fünften hat sie Glück. Ein Mann im beigen Dreiteiler und großer Brille. Fast schon im Rentenalter. Er hat ein silbernes Sturmfeuerzeug. Die gute alte Schule. Bestimmt wird das noch mit Petroleum oder Kohle betrieben. Das Goth-Mädchen bedankt sich und dann ist der Ansturm vorbei. Alles ist nun dort, wo es hingehört. Die Pendler auf Gleis 4, die Autofahrer im Parkhaus und ich auf der Überführung mit dem Goth-Mädchen gegenüber. Auf dem Bahnsteig blitzt die Glut mehrerer Zigaretten auf. Sie rauchen da unten, obwohl es da verboten ist und nicht hier oben, weil es hier so windig ist. Das empfinden viele als ungemütlich. Mir macht das nichts aus und dem Goth-Mädchen offenbar auch nicht. Vielleicht hat sie ja auch die gleichen Gedanken, wie ich. Ein wenig Action ins Leben bringen und auf den nächsten Güterzug springen. Doch das müsste super getimed sein. Und man muss darauf achten, nicht versehentlich auf der Hochspannungsleitung zu landen. Ne ne. Zu risky für mich. Ich beklag mich ja nicht mal bei meinen Models, dafür dass sie mir meine Zukunft vermasseln. Und das, wo es so schwer ist, in Hamburg ein Praktikum zu finden. Und wir müssen auch noch so ein dummes Pflichtpraktikum am Ende des 7. Semesters absolvieren. Ansonsten werden wir nicht für das Achte Semester zugelassen und erhalten keinen Abschluss. Das Praktikum soll drei Wochen dauern. Wie peinlich. Drei Monate, ok, aber drei Wochen? Mir wird Angst und Bange. Ich kann mich nie glaubwürdig für diese drei läppischen Wochen präsentieren, wo ich doch längst den Gedanken aufgegeben habe, in diesem Gewerbe etwas erreichen zu können. Ich hasse Grafik-Design fast schon. Pixelschieben ist wie Gabelstaplerfahren, nur, dass man einen krummen Rücken bekommt. Hab mal schwarz im Straßenbau gearbeitet und Pflastersteine von A nach B getragen. Sogar das war interessanter als ein Direct-Mailing.

JoJo hat einen Praktikumsplatz für diese drei Wochen gefunden. Bei CDE oder CDS. Ich glaub es war CDE. Da hatte der Chef zu ihm gesagt, dass er nicht sonderlich von Schulpraktikenten begeistert wäre. Den letzten hatte er schon nach drei Tagen für immer nach Hause schicken müssen, weil der nichts gepeilt hätte. Und häufig sitzen die nur rum und spielen mit ihrem Handy. Danach trete dann die gesamte Belegschaft an den Chef zu und würde darum betteln, die nächsten fünf Monate keine Praktikanten mehr einzustellen, egal, wo sie herkommen würden und welche Qualifikation sie hätten. Das macht nicht gerade Mut, aber... letzte Woche war die Personalchefin von Economia bei uns auf Werbetour. Vielleicht wäre das ja was für mich. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wer diese fürchterliche T-Com Werbung bei der Fußball WM verbrochen hat. Es wäre ein Kunstgriff gewesen, James Blond für dieses Projekt zu gewinnen, hat sie gesagt. James Blond und Fußball? Ich halte das für total bescheuert. Aber der Rest, den sie so erzählte, war ganz in Ordnung...

Es rattert hinter mir und eine Lautsprecheransage verkündet die Einfahrt des Regionalexpresses nach Cuxhaven. Auch der fährt in meine Richtung, hält aber nicht in meinem Kaff. Wieder Pech gehabt. Der Express schlängelt sich wie ein Wurm unter der Unterführung hindurch und hält auf Gleis 3. Auch das Goth-Mädchen betrachtet ihn aufmerksam. die Zigarette ist zur Hälfte aufgeraucht. Meine Sprite ist leer. Jetzt sieht es entgültig so aus, als hätte ich absolut nichts zu tun. Es sieht nicht einmal danach aus, als würde ich auf jemanden warten. Da habe ich eine Idee. Wieder landet mein Rucksack auf dem nassen Beton unter meinen roten Pumaschuhen. Himmel, jemand meinte mal, das wären Mädchenschuhe. Das erinnerte mich unangenehm an eine Episode aus meinem Leben, als sich so um die vierzehn Jahre alt war. Da hatte ich noch lange Haare, die ich zu einem Zopf geflochten habe. Kein einfacher Pferdeschwanz, das war mir nicht gut genug. Fast eher wie Lara Croft, nur nicht ganz so lang. Zusätzlich war ich magersüchtig (und ich habe mir vor kurzen erst eingestanden, dass ich es heute wohl immer noch in abgeschwächter Form bin) und damit sehr schlank. Wenn ich aus dem Haus ging, musste ich mich nicht großartig wie Tokyo Hotel schminken, um wie eine entlaufende Mangafigur auszusehen. Als ich dann eines Tages zum Postamt ging um mir ein paar Briefmarken zu besorgen, fragte der lächelnde Mann mit dem grauen Vollbart am Schalter doch tatsächlich, was er denn für die junge Dame tun könnte. Das war letztendlich der letzte Tropfen aus einer Vielzahl von dummen Sprüchen, die ich über mich hab ergehen lassen müssen. Aber dieser Spruch war, anders als die Neckerein der Mitschüler, völlig ernst gemeint. Eine Woche später waren die Haare dann ab. Man kann das Gefühl nicht beschreiben, was es für jemanden bedeutet, wenn er nach jahrelanger Zeit seine lange Haare abschneidet. Ich hätte mir genau so gut den Arm abhacken können. Ich glaub die folgende Woche war ich nur noch am Heulen gewesen. Wahrscheinlich lese ich deswegen so ungern Mangas. Sie erinnern mich immer an diesen Schritt, den ich bis heute bereuht habe. Aber zurück zu meiner Idee. Ich habe ja noch einen Walkman dabei. So ein richtig altes Ding, das noch richtig "Klack" macht, wenn das Band zuende ist. Ich stecke ihn mir in die linke Jackentasche und durch das Gewicht wird der Stoff auf meiner Schulter gespannt. Die Lautsprecher stöpsel ich mir in die Ohren. Aber ich schalte ihn nicht ein. Ich will jetzt keine Musik hören. Es soll für das Goth-Mädchen nur so aussehen, als hätte ich was zu tun. Als hätte ich eine Berechtigng, hier zu stehen. Unten fährt der Express bereits aus dem Bahnhof aus und windet sich über die Schienen nach Westen. Der rote Streifen über dem Horizont ist ganz verschwunden. Ich lege den Kopf in den Nacken. Keine Sterne, schade. Als ich wieder nach vorne sehe, verschwimmen die roten Rücklichter des Expresses bereits mit den anderen Lichtern, kurz darauf heult die nächste S-Bahn auf Gleis zwei, die Lautsprecheransage wiederholt sich und kurz darauf wimmelt es hier wieder von Menschen, die eilig die Treppe zu Gleis 4 herunterstürmen, obwohl der nächste Zug, mein Zug, dort noch immer nicht eingefahren ist. Dieses Verhalten ist wirklich zu komisch. Und so schnell wie es hier voll war, ist es wieder leer. Bahnsteig 4 ist jetzt voller. Die Menschen stehen dort aufgereiht wie zum Abschuss freigegeben. Aber sowas würde ich nie tun. Soweit bin ich nicht und soweit werde ich nie sein. Ich kompensiere all meinen Frust durch ein Rennrad. Ich fahre fast nur noch nachts, weil ich sonst kaum Zeit finde. Und wenn ich nicht fahre, kann ich nicht schlafen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich kann mich jedenfalls herrlich beim Fahren abreagieren. Ich habe dann keine Gedanken mehr, ich sehe nichts mehr, bis auf das Stückchen Asphalt vor mir. Man glaubt gar nicht, wie dunkel Dunkelheit und wie kalt Kälte wirklich ist. Das ist ein irres Gefühl.

Das Mädchen hat fertiggeraucht und zertritt die Zigarette auf dem Boden. Ein Ascher befindet sich drei Meter weiter auf der Mülltonne. Tolle Leistung. Ich denke, dass sie jetzt verschwindet, aber sie bleibt dort an der Treppe stehen und steckt sich die nächste Zigarette in den Mund. Und das gleiche Spielchen.
Klick Klick Klick, ein Fluch, Klick, Klick, Klick.

Na komm Mädel, jetzt frag ich doch endlich, ob ich Feuer habe! Das ist ja nicht zum Aushalten! Aber sie will es offenbar nicht. Naja. Mit Mädchen kann ich irgendwie nicht so richtig. Meine einzige Beziehung, die länger als eine Woche dauerte, scheiterte daran, dass ausgerechnet ich fremdging und später alles rauskam. Sie hatte mich gefragt, ob ich mir jetzt männlicher vorkäme, weil ich sie betrogen hätte und ich dachte an die Situation in der Post, an meine roten Schuhe, meine Magersucht und ich antwortete wahrheitsgemäß, dass es schon eine Art der Selbstbestätigung wäre. Darauf gab’s ne Ohrfeige und allebeide wollten nichts mehr von mir wissen. Ich bleibe nun lieber Single. Da hab ich den Stress nicht mehr, keiner anderen hinterher sehen zu dürfen. Viel zu anstrengend für mich.

Die Tür wird wieder aufgedrückt. Ein Mann. Den kenn ich doch! Das ist der Typ mit der Lederjacke aus dem Kiosk. Nur ohne BILD und ohne Marsrigel. Er labert in sein Handy über geschäftliche Dinge und bleibt unweit von mir auf der Überführung stehen. Und dann geht er auf und ab und labert und nölt. Gott geht der mir auf den Sack. Hoffentlich bleibt der nicht die ganze Zeit hier. Noch Zwölf Minuten.

Das Goth-Mädchen scheint ebenfalls genervt zu sein. Sie geht an uns beiden vorüber und verschwindet im überdachten Teil. Die Zigarette zwischen den Fingern haltend, hat sie es aufgegeben, sie anzuzünden. Das wäre vielleicht die Gelegenheit, mich nach Feuer zu fragen, aber sie hat es gelassen.

Und der Mann im Ledermantel hört nicht auf zu labern. Er scheint einen absoluten Idioten als Gesprächspartner zu haben. Er muss seine E-Mail Adresse Buchstabieren und sogar das web.de am Ende. W wie Werner, E wie Emil und B wie Boris.
Ich denke D wie Du nervst.

Die Tür wird aufgedrückt. Zuerst denke ich, das Goth-Mädchen kommt zurück. Aber dann der Supergau. Mutter mit Kinderwagen und zwei blödelnde-kreischende Rotzgören im Grundschulalter. Um diese Zeit? Kurz vor Neun? Und wenn die jetzt auch noch auf Gleis vier will! Dort gibt es keine Rolltreppe und einen Lift sowieso nicht. Dann fragt sie mich noch, ob ich ihr helfen könnte. Nein danke. Nachher lass ich das Ding noch fallen und das Baby purzelt die Treppen runter. Das Geschrei erspar ich mir lieber. Ich schwinge meinen Rucksack über die Schulter und tue so, als müsse ich in die andere Richtung. Soll der Mann in der Lederjacke das doch erledigen. Ich folge dem Goth-Mädchen in den überdachten Teil und verschwende keinen Blick mehr an das Gespann.

Drinnen ist es fast unmerklich wärmer als draußen. Das Goth-Mädchen steht im Kiosk, der Inder breitet die Arme aus und setzt einen entschuldigenden Blick auf. Da verkauft er Unmengen an Zigaretten am Tag und hat kein Feuer. Das ist fast schon zum Lachen. Ein Schwarzer mit Trollikoffer marschiert an mir vorbei und will nach draußen. Plötzlich bricht ihm der Griff ab und er ächzt mit verdrehten Augen über dieses Missgeschick. Da würde ich jetzt gerne helfen, aber ich wüsste nicht wie. Ich könnte mich schlau einmischen, fragen was passiert ist und dann das gleiche entschuldigende Gesicht ziehen, wie der Inder im Kiosk. Der Schwarze versucht den Koffer notdürftig zu reparieren und schiebt den Griff immer wieder zurück in die Löcher. Ich versuche, ihn nicht dabei anzuglotzen. Das ist unhöflich und macht die Leute nervös. Stattdessen tue ich so, als würde ich die Fahrpläne an der Wand studieren. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie das Goth-Mädchen den Kiosk verlässt. Sie schaut kurz auf dem Schwarzen mit dem Koffer und geht dann nach draußen. Für mich macht es jetzt auch keinen Sinn mehr, hier drinnen zu verweilen. Die Frau mit dem Kinderwagen dürfte sich schon längst den Mann mit der Lederjacke als Träger auserkoren haben und ich kann auch nicht zehn Minuten lang die Fahrpläne studieren. Wie sieht denn das aus? Ich drehe mich ab und will auch nach draußen. Genau in dem Moment, wo ich dem Schwarzen mit dem Koffer passiere, rastet dort irgendwas klackend ein und der Schwarze ballt die Faust, freut sich und lächelt mich mit strahlend weißen Zähnen an. Ich grinse höflich zurück und halte ihm die Tür auf. Er geht zügig voran und peilt das Parkhaus an. Die Rollen seines Koffers poltern über dem nassen Beton. Der Mann mit der Lederjacke wurde wie vorgesehen als Träger verpflichtet und die Hälfte des Weges zum Gleis 4 hat er schon hinter sich. Er nimmt jede Stufe so vorsichtig, als würde er auf rohen Eiern laufen. Die Mutter redet auf ihn ein und der Mann lacht. Mir wäre das Ding jetzt sicher entglitten. Und außerdem habe ich meine Schuldigkeit für heute getan. Ich hab meine Gruppe beim Dreamweaverproblem gerettet, ohne ihnen eine zu klatschen. Ich habe einem wildfremden Mann die Tür aufgehalten. Wenn das nicht genug Sozialdienst für einen Tag ist ...
Das Goth-Mädchen steht nahe des Ausgangs des überdachten Bereichs. Jetzt muss sie es tun. Eine bessere Gelegenheit bekommt sie nicht mehr. Ich lächle immer noch und versuche auf diese Weise so wenig asozial und genervt wie möglich zu wirken. Es klappt.
"Hast du mal Feuer?", fragt sie.
Ich bin verliebt...

 

Hallo Jot,

erstmal ein Herzliches Willkommen bei kg.de hier.

Dann etwas Formalkram:

Hallo. Bin neu im Forum und stelle mich mal selbt mit einer Geschichte über meine Person vor.

Neugraben, 19 September, 20.20 Uhr Eisenbahnüberführung...
copyright by Jan Maaß 2006

Soetwas bitte nicht in die Geschichte einbauen, sondern in das erste Anwort Posting unter die Geschichte.

Und nun zu deinem Werk, *wetz, wetz*. Was positiv auffällt, ist das relativ gründliche Korrekturlesen.


Und damit zum Inhalt. Die Geschichte macht einen stark autobiografischen Eindruck, gerade in Verbindung mit dem Einleitungssatz. Andererseits schreibst du in deiem Profil, Schüler zu sein. Wie auch immer, bitte fasse alle nachkommende Kritik als rein werkbezogen auf.

23.4kB, 3805 Worte und was ist passiert? Ein junger Mann verliebt sich in ein Mädchen, das er erstmal abstoßend fand. Das ist mehr Handlung, als in so manch anderem Erstlingswerk passiert. Aber es ist im Vergleich zur Länge der Geschichte relativ wenig.

Damit sind wir beim Hauptkritikpunkt. Die Geschichte hat Längen. Du hältst die Ichperspektive des Erzählers mit seinen Gedanken und seiner gräulich verfärbten Weltsicht konsequent und unterbrechungsfrei durch. Wenn du einen Blick auf die rein optische Gliederung der Geschichte wirfst, sind wir ziemlich nahe an der Bleiwüste.

Andererseits gelingt dir eine teils stimmungsvolle Darstellung des Wartens, eine Beschreibung der Umwelt, die durchaus für die Zukunft hier hoffen lässt, wenn die Angaben stimmen, dass du tatsächlich Schüler bist und damit noch relativ jung.

Was literarsich aus dir werden könnte, wird eine Frage der Selbstdisziplin sein, die viele Neulinge vermissen lassen und lieber nach wenigen Versuchen abtauchen ...

Genug Offtopic, zurück zur Handlung.

Bedenke bitte folgendes: Die Gedanken eines Protagonisten zu beschreiben, bedeutet nicht unbedingt, dass sich die Leserschaft mit ihm solidarisieren muss. Erst recht nicht, wenn es Seite um Seite geht. Und dann ist da noch die Heldenthematik ... Um sich zu identifizieren, muss der zugehörige Held heldenhafte Züge haben. Seitenweises Selbstmitleid ist da eher kontraproduktiv.

Bitte sehe das als Denkanstoss und nicht als kompletten Verriss an. Außerdem ist nichts in Erz gegossen. Die Chance zur Überarbeitung von Geschichten besteht hier immer.


Schönen Gruß,

AE

 

Danke, Alter Ego

Ich bin übrigens Schüler, weil ich nicht an einer Uni untergekommen bin und dadurch bei einer Grafik-Design Privatschule landete. Somit bin ich leider auch schon 24.

(Absätze sind jetzt auch drin)

 

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