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Hic Homo
HIC HOMO
Jeden Tag begegnen mir Menschen, die mich besser kennen als ich mich. Viele kennen mich so gut, dass sie mir sagen könnten, wer ich bin.
„Kennt ihr mich gut?“,
frage ich sie und sie sagen:
„So gut man eben jemanden kennen kann, ja.“
„Bin ich ein lustiger Mensch, ein trauriger, lache ich viel, weine ich eher, singe ich?“
„Mal so, mal so“,
sagen sie,
„du bist immer ein guter Zuhörer.“
Wenn ich nach mir frage und sie von mir erzählen, entsteht jemand neben mir oder in mir, vielleicht über mir, an dem ich mich messen kann, der Farbe hat und in den ich schlüpfen kann, wenn ich mir nicht mehr gefällt. Da dieser außer mir ich ist, für alle um mich und für mich auch immer mehr, wäre es kaum angemessen, wenn auch ich mich noch so nenne und mich meiner unrechtmäßig annähme. Habe daher angefangen, jetzt hic zu sein, wenn hic nicht gerade ich ist. Hic, eine anagrammattische Neukombination des Ich; laut dem lateinischem Wörterbuch bezeichnet hic ’einen Gegenstand dem Sprechenden als räumlich, zeitlich oder vorstellungsgemäß nächststehend’ oder auch ’der hier anwesende, gegenwärtig, heutig, jetzig’. Meine Freunde finden das albern, Dr. Edmondsson sogar besorgniserregend, sie sind nun mal nicht meine Freunde und sehen mich ohnehin meist nur als ich.
Meine Schwester, deren Name Jennifer ist, ein vertrauter Name, meldet sich nicht mehr. Sie habe mit mir reden wollen, erklärte sie mir bei unserem letzten Treffen, wollen und sollen, denn Dr. Edmondsson, so berichtete sie mir und legte dabei ihre Hand auf meine, Dr. Edmondsson habe ihr zugetragen, dass sie zu ihrem Bruder, also zu mir, nicht durchdringen könne, ja, genau so habe sie sich ausgedrückt: ‚nicht durchdringen’ und sie gebeten, im Interesse ihres Bruders, mir meinen Zustand aus ihrer, Dr. Edmondssons, Sicht darzulegen, damit, so meine Schwester nach Dr. Edmondsson, damit ’du leichter wieder zu dir selbst finden kannst’. Wir hätten doch immer ein so gutes, ja, enges Verhältnis gehabt, deshalb habe sie sie gefragt. Weiter redete sie, noch viel und lang über Dr. Edmondssons Vorstellungen. Derweil ich mit halbem Ohr einzelne Worte verstand, ohne Zusammenhang, so sehr hic mich auch bemühte, wurde mir mehr und mehr schwindelig, das Weiß der Küche, in der wir saßen, das helle Licht blendeten und stürzten zusammen mit ihren Worten bis zur Entkräftung auf mich ein. Mit großer Mühe versuchte hic, oft zu nicken und eine Miene aufrichtigen Interesses zu tragen, doch das konnte mir kaum gelungen sein, auch wenn Jennifer immer unbeirrt fortredete, sah hic doch, im Bemühen sie anzusehen, ihre Augen plötzlich mit unnatürlicher Genauigkeit, das leicht feuchte, sich wölbende, mir entgegenkommende großflächige Weiß, jetzt gar nicht mehr so weiß erscheinend, eher verschmutzt, darin schimmernd, starrend, die Pupillen, die Iris, blau, geädert, durchfurcht, sie wirkte für sich (so alleine) stumpf und wässrig wie undurchsichtige Pfützen, dann wieder ihren Mund, überzogen von ungeheuren Falten, glänzend vor Flüssigkeit und immer in ungestümer Bewegung, die zu wilden Kontraktionen führte, immer wieder die Zunge kurz hervorschnellend sichtbar werden ließ, dann lange ihren Hals, den das Sprechen zum Vibrieren brachte, den pochend Blut durchfloss, der viel zu rau und gebirgig war. Jede Stelle, obwohl in unerhörter Bewegung, blieb doch immer beängstigend starr und abgeschlossen. Da mir der Schweiß auszubrechen begann, wünschte hic mich fort, doch meine Schwäche und plötzliche Übelkeit ließen mich in mich zusammensacken.
„Erkläre mir, warum sind ich und du sich eigentlich so nah?“
Die Frage kam mitten in einem ihrer Sätze, sie hatte noch die Hand zur unterstreichenden Geste erhoben und obwohl hic sie sehr leise eher gemurmelt hatte, hielt sie sofort inne, irritiert zuerst, dann immer mehr bestürzt. Ob das alles sei, das ich dazu zu sagen habe, begann sie, nun immer mehr erregt. Sie weinte, sie schluchzte noch einiges, ging dann, ließ mich betroffen zurück. Ich war viel zu schwach, sie zurückzuhalten und erholte mich von meiner Schwäche erst Stunden später, konnte nicht erklären, dass die Frage mir nur verstehen helfen sollte, eine Nähe verstehen, die doch Verständnis ermöglicht und voraussetzt. Sie kenne mich nicht wieder, sagte sie, gerade ich sei doch immer so teilnahmsvoll gewesen und selbstlos und benähme mich jetzt, als sei ich allein auf der Welt, ein Egoist.
Dabei hatte Dr. Edmondsson mir erklärt, hic hätte mich ’rein gesundheitlich, rein physisch gesehen’ überhaupt nicht verändert, sei derselbe, habe keine Schäden davongetragen, nur ein paar Erinnerungen eingebüßt und auch die vielleicht nicht für immer.
Die Dinge, die ich früher geschrieben habe, verraten mir etwas über mich. Das ist bei jedem Menschen so, zu jeder Zeit. Leider hatte ich offenbar nicht viel geschrieben, vor allem Listen und Zusammenstellungen, daraus lerne hic nur Details. Hätte ich gewusst, wie wichtig es würde, ich hätte eine Nachricht an mich geschrieben, die mich erklärt. Als einziges habe hic unter meinen Dokumenten, auf der Rückseite eines Stammbaums, eine kleine Notiz gefunden, winzig in der Ecke: ‚Genau genug ist nur das Abwesende’. Seitdem trage ich den Zettel, sorgsam gefaltet zu einem kleinen Quadrat, immer in meinem Portemonnaie wie einen Schatz und betrachte ihn manchmal, den Stammbaum und überlege, wer sich hinter den Namen verbergen mag.
Hic sitze allein in meinem Zimmer und versuche mich an meinen letzten Traum zu erinnern. Das versuche hic oft, denn meine Träume können mir mehr über mich sagen als alles andere; in diesem bin ich ein Ritter, der mit einem Gefährten an seiner Seite eine endlose Schlacht schlägt, endlos und ohne Hoffnung auf Sieg, doch mein Gefährte spornt mich immer wieder an und ich ihn, ich weiß, seinen Tod könnte ich nie verwinden, erst mit seinem Tod wäre der Kampf wirklich verloren. Hic versuche, mich ganz in dem Traum zu verlieren, der Türsummer schellt, wieder und wieder. Das kommt nie vor.
„Ja?“
„Ich bin’s...“
„Wer ist ich?“
Jetzt etwas ungeduldig, fast beleidigt:
„Ich bin’s, Emsai, mach schon auf!“
Hic betätige den Türöffner, der Name läutet keine Glocke. Die Tür fliegt auf, einen Moment verharrt sie auf der Schwelle und schaut mich vorwurfsvoll an. Dann senkt sie den Kopf, fixiert mich herausfordernd und fällt in einen beschwörenden Ton.
„Na los, komm schon, wir wollen los!“
Sie greift nach meiner Hand, hic lasse mich steif ziehen.
„Wohin?“
„Dorthin!“ ruft sie laut lachend und zeigt aus einem der vorbeieilenden Fenster in die beginnende Dunkelheit.
„Mein Mantel…“
„Ach was, es wird Sommer, es ist warm.“
Sie zieht mich bis vor die Tür, ich fröstele, das Ganze erscheint mir unsinnig.
„Entschuldige, Du weißt es vielleicht nicht. Hic hatte einen schweren Unfall...“
Sie muss nicht wissen, weswegen, das behalte hic lieber für mich, solange hic es selbst nicht verstehe.
„Das heißt, deshalb, hic erinnere mich nicht an dich.“
Ihr Blick ist halb belustigt, halb ungläubig.
„Hick?“
„Ja, ich bin… ist jetzt hic. Das heißt, ich nenne mich jetzt so...“
Ich beginne, unsicher zu werden und nach Worten zu suchen. Einen Augenblick schaut sie mich ernst und prüfend an, dann reißt sie plötzlich die Arme hoch, umarmt mich ungestüm, wirbelt mich herum, lacht hell.
„Fatih, Fatih, was soll das? Wir haben keine Zeit für solche Spielchen, das hatten wir doch alles schon. Hey, wir haben heut nacht so viel vor.“
„Viel vor? Was denn?“
„Hmm. Willst du mich beleidigen? Hast du alles vergessen?“
Mit einer schnellen Bewegung ist ihr Kopf nah an meinem, sie packt mein Gesicht, gibt mir einen kurzen, heftigen Kuss. Es fühlt sich warm an.
„Ich weiß jetzt!“
Sie klingt begeistert, dreht sich im Kreis, sie singt.
„Was denn?“ frage hic lahm.
„Na, wie ich dich retten kann, Kleiner. Du hast doch gesagt, ich soll wiederkommen, wenn ich weiß, wie ich dich retten kann. Es hat ein paar Monate gedauert, aber jetzt weiß ich. Sogar uns beide werd ich retten! Schau, der Mond! Strahlt extra hell zur Feier dieser Nacht!“
Der Mond. Wirklich, er scheint besonders groß und wie gemalt, das Licht klar und präzise. Ohne es zu wollen, formen sich in meinem Kopf Worte, ich suche nach einer Wendung, die das Leuchten, das besondere Licht, in das der Mond alles taucht, beschreibt, es sollte geistreich klingen, romantisch. Im letzten Moment verschlucke hic sie, sage
„Ja, er scheint hell...“
„Ja, er scheint hell!“ ,
äfft sie mich lachend nach.
„Mann, Fatih, du hast dich kein bisschen verändert.“
Hatte ich das nicht? Wir laufen durch die Straßen, sie führt den Weg. Jetzt ruhig und nachdenklich geworden trabt sie mit gesenktem Kopf neben mir und ergreift meine Hand, die sie mir wie selbstverständlich aus der Tasche zieht und spricht bedeutungsschwer, etwas zu schwer, um noch ernst zu sein.
„Weißt du noch, was du letztes Mal gesagt hast? Dass kein Mensch je Illusionen hat, aber jeder immer welche hatte? Ich denke, morgen wirst du eine Menge Illusionen gehabt haben.“
Sie bleibt plötzlich stehen, schaut mich verschwörerisch an. Erst jetzt bemerke ich, wir sind auf einer Brücke. Mit einer schnellen Bewegung schwingt sie sich auf die andere Seite des Geländers. Sie blickt mir ernst in die Augen. Wie alt ist sie eigentlich? Mit diesem Blick wirkt sie unsagbar jung.
„Du … musst...“
Sie betont jedes Wort und macht großartige Pausen, als spreche sie eine Formel
„…mich…“
lässt ihre Stimme zu einem Raunen absinken und zieht ihre Augenbraue effektvoll hoch
„…retten!“
Jetzt wieder schneller, voller Eifer:
„Nur so kannst du auch dich selbst retten. Mache dir das zur Aufgabe: Rette mich! Sieh hinunter!“
Unter ihr, in vielleicht zehn Meter Tiefe braust ein dunkler, bodenloser Strom, in der Nähe der Pfeiler sich zu spritzenden Strudeln verwirbelnd. Sie greift meine Hand, die sie die ganze Zeit nicht losgelassen hat, fester und stößt sich mit einem leichten Ruck in eine leichte Schräglage. Sie hält sich jetzt nur noch an mir fest.
„Ich werde gleich loslassen. Nur du kannst ritterlich verhindern, dass ich in dem brodelnden Nichts unter mir verschwinde, indem du nach mir greifst, nur du kannst mich retten! Aber ich warne dich!“
Sie zwinkert mir verschwörerisch zu.
„Du wirst eine große Verantwortung damit übernehmen, für immer…“
Ihr Ton wird nun pathetisch-scherzhaft. Sie sieht mir fest in die Augen, ihr Lächeln siegessicher. Langsam löst sie den Griff um meine willenlose Hand. Sie hält den Körper absolut gerade und wie in Zeitlupe sehe ich ihr Gesicht kippen.
Hic schließe die Augen. Wie aus weiter Ferne höre ich einen gedehnten, eher erschrockenen Ruf, so unwirklich, das hic ihn kaum registriere. Vor meinen Augen sehe hic noch immer ihr Gesicht, die tiefbraunen Augen voller Vertrauen, die das Gesicht einrahmenden dunklen Locken. Mir ist, als würden Schneeflocken auf mein Gesicht fallen und schmelzen. Die ganze Zeit über habe hic kein Wort mehr gesagt, nur teilgenommen, jetzt spreche ich leise sinnlos in die Stille.
„Aber ich brauche niemanden, der mich rettet und auch niemanden, den ich rette.“
Ich musste grinsen. Ich verstand gar nichts, aber irgendwie war eine Last war von meinen Schultern genommen. Ich schwang mich über das Geländer, vielleicht würde ich sie noch erwischen.