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Himmel und Hölle
Himmel und Hölle
Kühles halbdunkel im lehmgebauten Schulraum. Durch die unbeglasten Fensterlöcher tönt ab und zu ein Motorenbrummen der nahen Straße. Sonst Stille. Der Klassensprecher stolziert barfüssig auf den schmalen Schulbänken durch die Reihen. Kein Flüstern, kein Kichern, wenn man nicht seine Rute auf dem eigenen Schädel spüren möchte.
An der Tafel liest Jamila zum x-ten Mal dass die Schweiz ein Binnenland ist, mit vielen Bergen und einem großen Fluss der Rhein heisst. Jamila ist gelangweilt, sie wartet darauf, von ihrer Lehrerin eine neue Aufgabe zu bekommen. Aber diese sitzt lieber draussen unter dem Mangobaum und plaudert mit den Kolleginnen, läßt sich von zwei Mädchen die Haare flechten oder korrigiert zügig Schülerarbeiten. Die Zeit vergeht so langsam, man könnte dem Gras beim wachsen zusehen. Man könnte sogar fast die Ameisen hören, die an den Gräsern hochkrabbeln. So still ist es im Raum. Jamilas Augen wandern durchs Schulzimmer. ‚Die Schweiz ist ein Binnenland‘ „Wenn ich in der Schweiz wäre,“ träumt sie „dann würde ich in einem großen, schneeweißen Haus wohnen. Das Haus hätte drei Badezimmer mit diesen Toiletten bei denen automatisch Wasser kommt, wenn man auf einen Knopf drückt. Und eine grosse Küche mit vier elektrischen Kochstellen, wo man sich nicht immer die Hände an den heissen Kohlen verbrennt. Aber wahrscheinlich würde ich ja gar nicht selber kochen. Dafür gibt es schliesslich Hausmädchen, für die ganze Hausarbeit. In der Schweiz würde ich die schönsten Kleider haben und ich würde einen weißen Mann heiraten. Unsere Kinder würden mindestens fünf Paar Schuhe besitzen und alle hätte einen schönen Schulsack und ihre Schuluniform würde jeden Morgen vom Hausmädchen frisch gebügelt werden. Das wäre ein Leben!“
„Öffnet euer Heft. Diktat:...“ Die Madam ist zurück. Schnell öffnet Jamila ihr dünnes Schreibheft und spitzt ihre Ohren. Es ist gar nicht so einfach alles klar zu hören, im Zimmer drängen sich 147 Kinder. Die Besten dürfen an einem der Schulbänke sitzen, die andern sitzen vorne am Boden. Die Meisten Kinder lauschen aufmerksam. Sie wollen in den Tests gut abschneiden, um vielleicht auf eine bessere Schule gehen zu können und vielleicht sogar einen richtigen Beruf zu erlernen. Bauern gibt es in Uganda schliesslich schon genug.
Der Klassensprecher sammelt die Hefte ein für die Madam. Mittagspause.
Einige Kinder haben ein Stück Zuckerrohr dabei um ihren Durst zu stillen. Andere machen sich in der Mittagshitze auf den Weg nach Hause zum Mittagessen. Jamila bleibt meistens hier mit ihrer besten Freundin. Wie viele Schüler finden sie es besser einen leeren Magen zu haben, als den ganzen weiten Weg nach Hause zu eilen, auf der erst halb warmen Kohle einen wäßrigen Posho, Maisbrei zuzubereiten, die Kleinen zu füttern, die Plastikteller zu waschen und dann, wenn sie zu spät zur Schule zurückkommen noch Prügel für die Verspätung ertragen zu müssen.
Aber heute ist Jamilas Freundin nicht zur Schule gekommen. Wahrscheinlich muss sie ihrer Mutter auf dem Feld helfen. Der Mais ist reif.
Jamila schaut sich zögernd nach einem schattigen Platz um. Zu welchem Grüppchen soll sie sich dazusetzen? Auf die grosse Klappe von Bosco und seinen Freunden hat sie jedenfalls keine Lust. Hee, wer ist denn das? Den Jungen der da alleine noch unter der Tür steht, den hat Jamila noch nie gesehen. „Bist du neu bei uns in der Klasse?“ fragt sie ihn. „Wie heisst du, woher kommst du? Ich habe dich noch nie hier in der Gegend gesehen.“ Der Junge schaute sie einen Moment an, sagte aber nichts. „Hallo, bist du stumm oder was? – Hast du was zum Essen dabei? Komm wir setzen uns da drüben hin“. Jamila setzt sich in Bewegung, und der stumme Junge folgt ihr tatsächlich zum Platz.
Er reibt sich den Bauch, dann stützt er den Kopf in die Hände und starrt ins Gras. „Hast du Hunger? Ist doch normal… halte durch, in ein paar Stunden spürst du es nicht mehr.“ Der Junge starrt weiter vor sich hin. Jamilas Gedanken rasen. Wer ist dieser Junge? Verblüfft fragt sie: „Bist du etwa der Rückkehrer?!“ Und zweifelnd: „Warum hast du denn nichts zum Essen dabei?“.- „Kannst du wohl aufhören von Essen zu labern!“ fährt er sie an. Und dann ruhiger: „Entschuldige, du kannst es ja nicht wissen. Niemand hier hat überhaupt eine Ahnung von irgendwas.“ „Keine Ahnung von was?“ fragt Jamila. „Von drüben.“ antwortet der Junge. „Ihr glaubt, jeder der von drüben kommt, wäre unermesslich reich.“ – „Du warst also wirklich dort? Du warst in Europa? IN EUROPA! Erzähl mir davon, wie sah dein Haus aus, deine Schule, die Stadt, wieviele Fernseher hast du geha“ – „Sei doch still mit dem Blödsinn! Ok, ich erzähl dir jetzt mal was, aber egal, du wirst mir ja sowieso nicht glauben.“ Jamila schaut den Jungen fragend an.
„Also, hör gut zu,“ sagte er, „Europa ist nicht so wie ihr denkt. Also schon, aber ganz anders. Alle die tollen Sachen, die sind so teuer, dass Mama die nie nie kaufen konnte. Ausser manchmal hatten wir Glück und fanden im Second-Hand Laden richtig gute Sachen. Einmal hatten wir dort ein Radio gekauft. Ein echtes Radio von Sony, mit dem man auch Kassetten und sogar CD’s abspielen kann. In unserem Zimmer haben wir die Musik aufgedreht, Freunde eingeladen, alle zusammen einfach nur gefeiert und endlich wieder einmal Musik von Zuhause gehört. Aber dann sind auf einmal Polizisten gekommen und wollten die Quittung sehen. Mama müsse beweisen dass sie das Radio nicht geklaut habe. Sie konnte die Quittung nicht so schnell finden, aber sie sagte den Männern, dass sie das Radio im Second-Hand gekauft hat. Die Polizisten haben das Radio einfach vom Tisch weggenommen und auf allen Seiten aufgemacht. Sie sagten sie wollen kontrollieren dass keine Drogen darin versteckt sind. Sie konnten nichts finden. Unser schönes Radio war kaputt….“
Jamila schaut auf den Boden. Die Arme um die angezogenen Knie verschränkt, zeichnet sie mit den Zehen im Sand kleine Kreise. Der Junge bleibt still. Regt sich nicht, sein Blick geht starr ins Leere. Eine Fliege krabbelt auf seiner Backe. Niemand verscheucht sie. Der Schatten der Bäume in der Nähe wandert allmählich weiter. Erst als Jamila vom warmen Sonnenlicht geblendet wird, springt sie auf. Mit einem kleinen Stecken zeichnet sie in der staubigen Erde ein Spiel. Der Junge beobachtet sie aus den Augenwinkeln.
Jamila ruft: „Komm, spiel mit mir Himmel und Hölle!“