Hinfallende Kleinkinder gucken blöd
Ich musste heute auf Chantal, mein rotzfreches Nachbarskind, aufpassen. Ich hätte eigentlich schon beim Namen misstrauisch werden müssen, denn grauenvolle Kinder haben meist auch grauenvolle Namen. Zudem heißt Chantal nicht nur Chantal. Zusätzlich trägt sie einen Haufen grässliche Innovativnamen: Chantal Jâna Dilia Mélina. Nachname: Metzger.
Das junge Ehepaar Metzger empfing mich in seiner Wohnung, übergab mir die Tochter und verschwand auch schon ins kinderlose Vergnügungswunderland. Mit 19 Jahren war es nun also zum allerersten Mal an der Zeit, dass ich den Babysitter mimte. Chantal grinste mich sogleich hämisch an, als Erstes wollte sie mir ihr Kinderzimmer zeigen.
„Das ist Rüdiger“ sagte sie und zeigte mit ihren kleinen Händchen in eine Zimmerecke. Dort lümmelte ein abgenutztes Meerschweinchen in einem viel zu kleinen Käfig herum. Wäre der arme Rüdiger im Besitz eines Gürtels, hätte er sich wahrscheinlich längst in einer stillen Minute erhängt. Chantal erzählte mir mit frohlockenden Augen, sie habe schon zwei Meerschweinchen und einen Hamster zerstreichelt. Da konnte ich nicht mithalten. Ich habe als Kind lediglich einen Satz Zierfische in einem schnoddrigen Tümpel ausgesetzt.
Nach unserem kleinen Zimmerrundgang wollte Chantal essen. Kinderverköstigung zählt nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und meine Befürchtungen bestätigten sich nach kurzer Zeit. Chantal stand nicht sonderlich auf meine Kochkünste. Zornig schlabberte und prustete sie ihr Mahl durch die Peripherie. Tomatensuppe was all around. Gutmütig wie ich bin wollte ich die Kleine nicht gleich zur Begrüßung zusammenscheißen, putzte und wischte ihr also stillschweigend hinterher.
Währenddessen plapperte mich die Speichel, Schleim und Suppe absondernde Göre mit allerlei nervtötenden, hirnlosen Anekdoten von Nachbarskindern und Barbiepuppen zu. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ich ein absolutes Kommunikationsproblem habe, was Kleinkinder angeht. Lächeln und ja sagen? Blöde Fragen stellen? Ignorieren? Wenn einem ein Kleinkind im Quietschton die Ohren wegquasselt, kann man ja nicht einfach ein zünftiges „Halt’s Maul“ rausposaunen.
„Es wäre mir ein Wohlgefallen, wenn du deine durchaus fundierten, an dieser Stelle jedoch völlig unangebrachten Erläuterungen umgehend einstelltest“ sagte ich also, um dem Kind nicht zu Nahe zu treten. Chantal brach in ein schallendes, minutenlanges Gelächter aus, das dem akustischen Vorschlaghammer einer über den Teller gekratzten Gabel gleichkam. Aus pädagogischer Sicht ein beherzter Griff ins Klo, den ich da vollzogen hatte.
Apropos Klo: Chantal konnte schon alleine aufs Örtchen, und sie war mit Recht stolz darauf.
„Ich geh kurz aufs Klo“ sagte sie, zwinkerte mir herzerwärmend zu und verschwand. Eigentlich ist sie ja doch ganz süß, dachte ich. Circa fünf Minuten hatte ich meine Ruhe. Dann brüllte sie lautstark durch die Wohnung: „ABPUTZEN!“
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich als absoluter Neuling im Metier der Babysitter und Pädagogen war mit dieser derart eindeutigen Aufforderung gnadenlos überfordert, der Situation nicht gewachsen. Kalter Angstschweiß tropfte von meiner Stirn und ich begann zu zittern. In wenigen Sekunden würde ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Kinderhintern (ausgenommen meinen eigenen) abputzen. Ich wusste doch gar nicht, wie das geht, wie man da ran muss und so weiter. Mit weichen Knien öffnete ich zögerlich die Klotüre. Durch den Spalt konnte ich Chantals blitzendes Grinsen schon sehen.
„Verarscht“ kreischte sie und rannte kichernd an mir vorbei ins Wohnzimmer. Blöd nur, dass ein oller Plüschtiger auf dem Fußboden lag. Zack. Pause. Geplärr. Tränen. Drama.
Ja, werter Leser, Sie haben richtig gelesen: Pause! Wenn es Kleinkinder nämlich derbe reinhaut (oder „wenn sie auf die Nase fallen“, wie Mütter sagen würden), wird nicht gleich geflennt. Für zwei bis vier Schrecksekunden starren die Ärmsten erstmal mit einem recht ausdruckslosen Gesicht Löcher in die Luft. Besonders absurde (vielleicht auch zynische) Kleinkinder lachen sogar erstmal. Plötzlich schwenkt allerdings die gute Miene um und wandelt sich zu großem Geheul. Faszinierend!
Außerdem musste ich die bittere Erfahrung machen, dass ungezogene Kleinkinder wie Chantal stets ihren aktuellen Erziehungsberechtigten dafür verantwortlich machen, dass sie hingefallen sind. Chantal hasste mich inbrünstig. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie es mir heimzahlen wollte…
Schlussendlich war die Zeit des Aufpassens verstrichen und ich war mit den Nerven völlig am Ende. Metzgers klingelten an der Haustür. Sie schienen sich gut amüsiert zu haben, zumindest torkelten mir die Beiden relativ lustig entgegen. Ich kassierte mein wohl verdientes Sümmchen und war im Begriff zu gehen, als plötzlich Chantal angerannt kam. Die Tatsache, dass ich sie bereits ausdrücklich ins Bett argumentiert hatte, schien sie nicht im Geringsten daran zu hindern.
„Wie hat’s dir denn gefallen?“ wandte sich Frau Metzger an ihre Tochter.
„Priiimaaaaa!“ jauchzte das kleine, hinterlistige Scheusal freudestrahlend.
„Na dann kann der Mike ja öfter auf dich aufpassen“ fügte Herr Metzger hinzu.
Ich ging nach Hause, rauchte eine Schachtel Zigaretten und dachte an Rüdiger.