Hoch hinaus in die Tiefe
In der Nacht als das Seil riss, verlor ich ein Leben.
Alles geschah so schnell, der Anblick war schrecklich. Die Erinnerungen in meinem Gedächtnis sind nie erloschen, sie prägen mein Leben.
In der Nacht als das Seil riss, trieb dich mein kranker Verstand in die Tiefe. Und das schlimmste daran ist, dass ich alleine die Schuld dafür trage.
Schon als kleiner Junge begeisterte mich nichts so sehr, wie die gigantischen Gletscher. Ich sah sie als eine Art Götter und mein grösster Wunsch war es, irgendwann ganz oben zu stehen und über alles hinwegzuschauen.
Mit zwanzig Jahren dann erlebte ich endlich meine erste Bergtour. Doch ich strebte immer ein noch höheres Ziel an und wollte schliesslich das fast Unmögliche erreichen.
Niemand zuvor hatte es geschafft, den Mount- Everest zu besteigen. Auch mein Bruder war begeistert von der Idee. Und obwohl er keinerlei Übung hatte, wollte er unbedingt an diesem speziellen Ereignis teilnehmen.
„Lass mich doch mitkommen, das wäre der ultimative Kick! Komm schon!“, flehte er mich damals an. Und ich schwöre bei Gott, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich alles anders machen. Wie konnte ich nur so naiv sein, zu glauben, er würde das packen?
So hatte sich mein Team und ich über Jahre auf diese Expedition vorbereitet, und voller Vorfreude starteten wir in unser Abenteuer. Wir würden Helden werden.
Am Anfang lief alles glatt, es gab keine Komplikationen und wir konnten nach knapp einer Woche problemlos unser erstes Basislager aufbauen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie aufgeregt wir damals waren. Es war schon alles genau eingeplant und berechnet.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns dessen noch bewusst, was wir taten und riskierten.
Je höher wir kletterten, desto dünner wurde die Luft und mit jedem Schritt wuchs die Angst in uns, die Angst zu versagen. Schliesslich führte uns der eiserne Wille zum nächsten Lager.
Die folgenden Nächte waren hart. Es war so kalt wie noch nie und langsam gingen uns die Gasbrenner aus. Wir mussten uns beeilen, wenn wir gut versorgt oben ankommen wollten. Die Berge hatten mich in ihren Bann gezogen. Nichts hielt mich mehr zurück. Ich wollte nur noch nach oben, und das auf schnellstem Wege.
„Aber Mark, das können wir unmöglich wagen, es wäre viel zu riskant die Gletscherwand direkt hinaufzuklettern, das weißt du doch!“, hielt mir John damals vor. Er hatte ja Recht, das weiss ich jetzt. Natürlich lief alles nach meinem Plan, niemand hätte es gewagt mir zu widersprechen. Immerhin war ich Captain der Truppe und alle vertrauten mir. Das rächte sich bald. Schon in der Hälfte der Strecke brachen Gewitterwolken auf. Und an diesem Punkt tat ich den entscheidenden Fehler. Eigentlich war es sonnenklar, wir mussten uns einen sicheren Unterschlupf suchen, denn Gewitter in den Bergen sind lebensgefährlich! Doch ich wollte nicht. Ich wollte und konnte nicht aufhören zu klettern. Ich musste einfach weiter. Mein Ehrgeiz war so gross, der Drang fast nicht auszuhalten. Dabei vergass ich, was ich alles aufs Spiel setzte.
Alle versuchten mich zu überzeugen, zu warten bis der Sturm sich gelegt hatte, doch ich wollte nicht. Ich hatte nur noch das eine im Kopf. Ja, man kann regelrecht sagen, dass ich besessen war.
Es ging weiter bergauf. Mühsam versuchten wir uns nach oben zu kämpfen, jeder Schritt voller Spannung.
Finn war zu langsam. Er hielt die ganze Truppe auf, deshalb beschleunigte ich mein Tempo noch mehr. Ich wollte es unbedingt schaffen.
Ein plötzlicher Schrei unterbrach die Stille. Als ich erschrocken nach unten blickte, sah ich Finn ein Stück weiter unten in der Luft hängen. Krampfhaft klammerte er sich um das Seil und rief mir verzweifelte Hilferufe zu. „ Mark, Mark! Mein Seil! Mein Seil ist angerissen Mark! Hilf mir!“ „ Du musst dich vorsichtig nach oben ziehen Finn, zu John! – John, du machst Finn einen Knopf ums Seil, und dann klettern wir weiter!“, rief ich nach unten. Rund eine halbe Stunde später waren wir wieder startklar. Langsam dämmerte es ein, und ein tobender Bergsturm zog auf. Jetzt merkte auch ich, wir mussten uns schleunigst sichern. Ein solcher Bergsturm konnte unser Ende sein. Die Angst war allen ins Gesicht geschrieben, und auch mir wurde jetzt klar in welcher Situation wir uns befanden. Mein Traum entwickelte sich zu einem Alptraum.
Die Zeit rannte uns davon. Wir mussten weiterklettern, ob wir nun wollten oder nicht. Jetzt arbeiteten wir als Team zusammen, ein Fuss nach dem andern, jeder Schritt zweimal überlegt. Endlich war weiter oben knapp ein Felsvorsprung zu erkennen. Das war unsere letzte Chance.
Bloss noch einige Meter, und ich war zum ersten Mal stolz auf meine Gruppe. Wir hatten uns tapfer geschlagen. Doch dann geschah es. Aus heiterem Himmel, niemand hatte damit gerechnet.
Das Seil riss.
Und ich hörte bloss noch den qualvollen Schrei meines Bruders, als er gegen die Bergwand prallte und nach unten fiel.
Für einen Moment blieb mir die Luft weg, und meine Welt schien plötzlich still zu stehen.
Ich sah, wie sich die ganze Geschichte vor meinen Augen abspielte. Jeden Fehlentscheid, den ich hätte vermeiden können. Mir wurde erst jetzt klar, was ich getan hatte, was ich riskiert hatte, als das Seil angerissen war. Ich hatte meinen Bruder umgebracht, und das bei klarem Verstand. Die Wahrheit traf mich wie der Blitz. Doch wir durften keine Zeit verlieren, wir mussten uns in Sicherheit bringen, bevor noch ein Unglück geschah!
Wir liessen ihn einfach zurück. Wir konnten nicht einmal nach ihm sehen, wir hatten ja keine Wahl.
In jener schlaflosen Nacht hörte ich immer wieder die Stimme meines Bruders.
„ Mark, Mark! Mein Seil! Mein Seil ist angerissen Mark! Hilf mir!“ Ich hätte mich um ihn kümmern müssen.
Am nächsten Morgen hatte der Sturm die Spuren des Unglücks verwischt und ohne Zögern beschlossen wir, unseren Abstieg anzutreten. Den Mount- Everest hatten wir nicht geschafft. Vielleicht sollte es nicht sein.
Heute stehe ich an derselben Stelle wo das Unglück geschah. Alles hier erinnert mich an dich und mein Herz schmerzt grauenvoll, wenn ich daran denke, was damals geschehen war. Es tut mir so unglaublich leid. Dein Leben musste geopfert werden, damit ich verstand was ich tat, damit ich von meinem Wahn befreit wurde. Ich war so egoistisch.
In der Nacht, als das Seil riss verlor ich ein Leben, das Leben meines tapferen, kleinen Bruders, und ich alleine trage die Schuld dafür.