Monster-WG
- Beitritt
- 20.08.2019
- Beiträge
- 359
Hoffnung ist ein zerbrechliches Gut
Hoffnung ist ein zerbrechliches Gut
Angewidert schaute Inés um sich. Die zuckenden Leiber, die zu den Elektro Beats des DJs ihren Rhythmus fanden. Die Mädchen in ihren Minikleidchen, die ihre Hintern an den Schößen der Gäste rieben. Gierige Finger, begehrliche Blicke, schmutzige Berührungen, Worte voller Vulgarität. Herren in Anzug und Krawatte, die die Sau rausließen, nach Aufmerksamkeit lechzten, nach Macht dürsteten. Sie betrachtete die chromfarbene Bar, den Ventilator an der Decke, der die rauchgeschwängerte Luft durcheinanderwirbelte, die Gerüche nach Marihuana, Alkohol und Schweiß verteilte. Sie schüttelte sich, rieb sich über die Arme. Seit drei Jahren hielt Manolo Escobar sie im El Paraíso gefangen. Paradies, was für ein Name für ein Bordell. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner César machte er ihr das Leben zur Hölle. Wie sie seine Partys hasste. Nur noch eine Weile mitspielen, sein Vertrauen gewinnen, dann ergibt sich vielleicht die Chance auf Flucht.
Sie nahm sich ein Glas Champagner, ging nach draußen auf die Terrasse. Ihr Blick verlor sich in der Weite des Grundstücks. Um sie herum war nichts außer Himmel, Einsamkeit und Stille. Sie konnte nicht genug davon bekommen. Andächtig lauschte sie dem Zirpen der Zikaden, betrachtete den Mond, der hin und wieder durch die Wolkendecke blitzte und mit seinem silbrigen Schein alles verschönerte. Hoch über den Pinien kreiste ein Vogel. Sie bewunderte die ausgebreiteten Schwingen, die Eleganz des Flugs, die klaren Konturen, die sich im Licht des Mondes abzeichneten. Der Vogel stieß einen langgezogenen Laut aus, als würde er sich mit ihr unterhalten wollen. Wie gerne würde sie fliegen können. Wie gerne wäre sie frei.
Die Terrassentür wurde geöffnet, die Beats des DJs drangen hinaus in die Stille, mit der Ruhe war es vorbei. Sie schloss die Augen, schwang ihre Hüften, einfach nur für sich selbst. Ein kühler Luftzug streichelte ihre Haut, fühlte sich an wie eine Liebkosung.
Noch bevor er ein Wort sagte, spürte sie seine Präsenz. Im Zeitlupentempo drehte sie sich um, hob die Lider, starrte ihn an. Litt sie an Halluzinationen? Die nussbraunen Augen, das Grübchen am Kinn. Es musste eine Verwechslung sein. Doch in dem Moment, als er die Ärmel hochkrempelte und sie das Tattoo auf seinem Handgelenk sah, war sie sich sicher. Emilio, ihre Jugendliebe. Er war es. Er war hier. Im El Paraíso. Was hatte das zu bedeuten?
Wie ein Jäger, der seine Beute langsam umkreist und nicht aufschrecken will, kam er näher. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, das Herz hämmerte in der Brust als er vor ihr verharrte. Ihre Fingerspitzen fuhren über die Linien des Unendlichkeitssymbols. Sie biss sich auf die Lippe, trat einen Schritt zurück.
„Inés! Ich kann es nicht glauben. Endlich habe ich dich gefunden.“ Seine Blicke glitten über ihren Körper, verweilten auf ihrem Gesicht.
Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. War es Erstaunen? Abscheu? Die Vergangenheit brodelte in ihr hoch. Sie erinnerte sich an die Magie, die zwischen ihnen bestanden hatte. An die Vertrautheit. Das Sicherheitsgefühl. Die Geborgenheit. Hatte der Zauber noch eine Chance?
Sie fixierte ihn, trank einen Schluck Champagner, um die Trockenheit in ihrer Kehle zu beseitigen. Wie schön wäre es, wenn er sie halten würde, wenn er sie streicheln würde, sie trösten würde, sie aus diesem Elend befreien würde. Doch da war eine Mauer zwischen ihnen. Eine Mauer voller Fragen.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte er kaum hörbar.
„Ja. Ich hätte nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen. Und schon gar nicht in einem Etablissement wie diesem. Willst wohl ein wenig Spaß.“
Er schüttelte den Kopf, setzte zu einer Erklärung an.
In dem Moment trat Escobar nach draußen, gesellte sich zu ihnen, legte Inés den Arm um die Schulter. Mr. Besitzergreifend, schoss es ihr durch den Kopf. Er muss sein Territorium markieren. Schlagartig befand sich ihr gesamter Körper in Alarmbereitschaft.
„Wie ich sehe, habt ihr euch bekannt gemacht. Was hältst du von Emilio Castillo, dem neuen Mitglied meines Imperiums?“
In ihrem Blick lag Verwunderung. Was hatte das zu bedeuten?
„Ich arbeite im Sicherheitsbereich“, erklärte Emilio schnell.
„Chef, kommst du bitte rein? Wir brauchen deine Hilfe”, rief Miguel, der Assistent von Escobar von drinnen.
Escobar lächelte und hob die Hände. „Ich bitte um Entschuldigung. Wie ihr seht, wird nach dem Hausherrn verlangt. Ich muss mich um die Gäste kümmern.“
Emilio nickte ihm zu.
Escobar hauchte Inés einen Kuss auf die Wange. „Kümmere dich um unseren Neuzugang. Er hat ein wenig Vergnügen verdient.“
Oh Gott, wenn er wüsste. Er darf nicht erfahren, dass ich Emilio kenne.
Sie wartete, bis Escobar im Haus verschwunden war, wandte sich Emilio zu, während sie die Nägel in ihren Arm grub. Ein Gefühl tiefer Ermattung überfiel sie. „Es ist lange her“, raunte sie und griff nach seiner Hand. Eine verstohlene Berührung. Ein kurzer Moment der Intimität.
Er entzog sich ihrem Griff. „Sei vorsichtig. Keine Vertraulichkeiten, solange wir unter Beobachtung sind. Er darf keinen Verdacht schöpfen.“
„Er hat mich eben gebeten, mich um dich zu kümmern“, erwiderte sie trocken.“ Ihre Hände krampften sich um das Glas.
„Shit! Ich kann mich kaum zusammenreißen. Wenn ich mir vorstelle, was die mit dir machen.“ Sein Gesicht lief rot an, die Augäpfel traten hervor. „Als César mir vor zwei Tagen die Modelkartei gezeigt hat, wärs mir fast hochgekommen. Shit“, fluchte er erneut. „Auf sowas kann man sich nicht vorbereiten.“
„Beruhig dich. Wieso arbeitest du für ihn? Du wolltest studieren. Bist du vom Weg abgekommen?“
„Nichts dergleichen. Ich habe mit meinem Jurastudium begonnen. Momentan sind Semesterferien und ich wollte die Chance nutzen, dich zu suchen. Ich bin deinetwegen hier. Du bist mir nie aus dem Kopf gegangen. Von einem Tag auf den anderen warst du verschwunden.“
Sie biss sich auf die Lippe. „Es ging so schnell. Ich hatte keine Chance.“ Ihre Stimme versagte, sie senkte den Blick.“
„Was zum Teufel ist damals geschehen?“
„Das lässt sich nicht in ein paar Minuten erklären.“
„Ich habe Zeit. Escobar wollte, dass du dich um mich kümmerst. Also…“ Er brach ab, sah sie herausfordernd an.
„Es ist die Hölle“, rutsche es ihr heraus. Sie driftete ab, war mit einem Mal im Folterkeller, ans Andreaskreuz gefesselt. Sie spürte die Rohrstockhiebe auf ihrer nackten Haut, hörte die Erniedrigungen, das höhnische Lachen. Mit Gewalt unterbrach sie den Strom ihrer Erinnerungen. „Hat die Polizei nach mir gesucht? Hat mich jemand als vermisst gemeldet?“
„Nein. Deine Eltern sind der Meinung, dass du frei sein wolltest. Dein Dad ist auf hundertachtzig. Er ist überzeugt, dass du dich mit deinem Bruder Xavier zusammengetan hat.“
Sie schluckte, kämpfte die Tränen herunter. „Scheiße!“ entfuhr es ihr. „Das glauben sie wirklich? Ich fasse es nicht. Alles nur wegen dem Streit.“
„Welchem Streit?“
„Kurz vor der Abschlussfeier. Papa hat mich genervt. Du weißt schon, weil er nicht wollte, dass ich auf die Uni gehe. Ich war voller Wut, habe ihn angeschrien. Meine letzten Worte waren, dass er mich nie wiedersehen wird. Wie hätte ich ahnen können, was dann passieren würde?“ Ihre Stimme wurde immer leiser. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Mir war klar, dass du nicht freiwillig dein Bündel gepackt hast. Du hättest mich nie ohne Erklärung sitzenlassen. Und jetzt das. Du an diesem Ort.“
„Du kennst mich besser als meine Eltern.“ Jeder Nerv in ihrem Körper wollte sie dazu bringen, sich an ihn zu lehnen. Sie riss sich zusammen. „Wie hast du mich gefunden?“
„Ich hatte von Anfang an César in Verdacht, also habe ich mich mit ihm angefreundet, habe ihm etwas vorgespielt. Wann immer ich Freizeit hatte, habe ich Botengänge für ihn erledigt, ab und an eine Line mit ihm gezogen, ein paar Drinks gekippt. Ich wusste, dass er mich irgendwann zu dir führen würde. Wie du siehst, hat es funktioniert.“
„Unglaublich!“ Mehr brachte sie nicht heraus.
„Und jetzt will ich wissen, was passiert ist. Erzähl schon…“ Er legte den Kopf schief, sah sie an, Erwartung in seinem Blick. „Wenn du nicht willst, dass ich auf der Stelle ausraste und den Laden hier aufmische, dann pack aus.“
Sie unterdrückte den Impuls, ihn anzufauchen, um diesem Gespräch aus dem Weg zu gehen. „Später. Ich kann jetzt nicht“, wehrte sie ab. „Erzähl mir von meinen Eltern. Wie geht es ihnen?“
Schweiß lief ihm über das Gesicht, eine Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn, seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Himmel Hergott! Du machst es mir nicht leicht.“
„Ich bitte dich. Tue es mir zu liebe. Ich muss wissen, wie es ihnen geht.“
„Dein Vater ist schwer erkrankt. Er leidet unter einer seltenen Immunschwäche. Hat mit der Leber zu tun. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten, wird medizinisch betreut. Deiner Mutter geht es den Umständen entsprechend gut.“
„Und Xavier? Gibt es etwas Neues von ihm?“
„Nein. Keiner weiß, wo er abgeblieben ist.“ Er stockte, drehte sich in alle Richtungen. „Ich könnte dich sofort von hier wegbringen. Lass uns zur Polizei gehen.“
Sie rang um Worte. „Das kannst du vergessen. Sie würden uns auf der Stelle töten, und nicht nur uns. Auch unsere Familien. Escobar hat Kontakte in die höchsten Kreise. Politiker, Richter. Er schmiert sie alle. Du hast keine Ahnung.“
„Vergiss nicht, dass ich César zwischenzeitlich gut kenne. Es gibt immer einen Ausweg. Du musst nicht bleiben.“
„Du bist verrückt. Schau dich an.“ Sie legte den Kopf schief, ihr Blick verweilte auf seinem Gesicht. „Emilio Castillo unter all dem Abschaum. Du gehörst nicht an diesen Ort.“
Er zuckte mit den Schultern, ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Komm mit mir.“
Sie reckte ihr Kinn, sah ihm tief in die Augen. „Und wenn ich das nicht will.“
Er schluckte, griff sich an die Brust. „Du möchtest freiwillig bleiben? Das nehme ich dir nicht ab. Bist du etwa gerne deren Hure?“
Ihr Gesicht verhärtete sich zu einer Maske. „Hier fragt keiner nach meinen Wünschen. Schau mich an. Ich bin seine Ware, sein Besitz.“ Sie zog ihren Rock ein wenig höher, so dass er den Barcode auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels sehen konnte. „Er hat mich gebrandmarkt. Dieser Mann wird mich überall finden. Ich will kein Leben voller Angst.“
Er griff nach ihrer Hand, hielt sie fest umklammert. „Wie hältst du das nur aus? Wenn ich mir vorstelle, was ihr hier treibt… Weißt du noch? Wie wir unser erstes Mal zelebrieren wollten?“
Sie schluckte, presste die Lider zusammen, riss sie wieder auf. „Es tut mir so leid. Ich musste mich anpassen. Nur so überlebe ich“, flüstert sie, entzog ihm ihre Hand. „Ich halte mich an seine Regeln, er vertraut mir jeden Tag ein wenig mehr. Stück für Stück wird er mir mehr Freiheit gewähren.“ Sie spürte, wie sich ihre Gesichtszüge bei dieser Lüge verhärteten.
Er griff nach ihrem Arm, zog sie an sich. „Das glaubst du doch selbst nichts. Mein Gott, Inés. Ergreif deine Chance. Jetzt. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Bitte nimm mein Angebot an.“
„Du glaubst immer noch an Märchen“, erwiderte sie leise. Ihre Beine waren wie Blei, am liebsten würde sie sich setzen, sich irgendwo festhalten, die Augen schließen. „Oh, Emilio. Ich schäme mich so“, seufzte sie. „Du solltest mich niemals so sehen. Als Escobars Hure. In diesen Klamotten, mit diesem Barcode, mit all den Make-up-Schichten.“
Eine Sekunde lang berührte er ihren Arm. „Wahrscheinlich hast du recht. Ja, ich gebs zu. Die Vorstellung ist widerlich. Fremde Männer auf dir, in dir. Ich wills mir nicht genauer ausmalen.“
„Ich bin nichts weiter als eine Nutte.“ Ihre Stimme brach, sie holte tief Luft, bevor sie fortfahren konnte. „Unsere Liebe hatte nie eine Chance.“
Hilfesuchend klammerte sie sich an ihrem Champagnerglas fest. Ihr wurde immer heißer, mit jeder Minute, die sie mit ihm verbrachte. Sie konnte die Distanz kaum ertragen, wollte ihren Kopf an seine Brust lehnen, seine Hände spüren, wie sie ihre Haare streichelten, ihre Schultern, ihr Gesicht. Reine Hände, die ihr Trost spendeten, ihr neuen Lebensmut einhauchten, nicht die Griffel eines Freiers, eines Sklavenhalters. „Ich bin froh, dich zu sehen. Mit dir reden zu können.“
Seine Finger glitten durch ihre schwarzen Locken. „Escobar ist nicht immer vor Ort. Wir werden uns unsere Momente stehlen.“ Seine Hand war so nah bei ihrer, nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander. Der Zauber war noch nicht verpufft.
Mit einem Mal war da Hoffnung. Sehnsucht regte sich in ihr. Das Verlangen nach einem anderen Leben, einem anderen Ort, einem Ausweg. Die Wirkung des Alkohols breitete sich immer weiter in ihr aus. Die Welt war etwas farbenfroher, sie fühlte intensiver. Sie konnte nicht widerstehen, griff nach seiner Hand. Pure Elektrizität. Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
„Verlier die Hoffnung nicht, hörst du? Jetzt bin ich hier. Zwar noch auf der untersten Gehaltsstufe, aber ich werde meinen Job gut machen, werde die Strukturen dieser Organisation kennenlernen. Und dann wird der Tag kommen, an dem wir die Falle zuschnappen lassen werden.“
Er beugte seinen Kopf ein wenig näher zu ihr. Verdammt! Wenn er nicht aufhörte, würde sie sich an ihn lehnen. Hier und jetzt. Auf der Stelle. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Spannung lag in der Luft, sie kämpfte mit sich, musste die Kontrolle bewahren. Mit zitternden Händen zog sie einen Fächer aus ihrer Clutch, fächerte sich Luft zu.
„Ich werde dich retten. Und wenn wir außer Landes flüchten müssen. Nur wir beide. Irgendwo. Sonne… Sand… Meer…“
Sie rückte von ihm ab, war kurz davor, zu kollabieren. Schwer atmend trank sie den Rest Champagner in einem Zug. Sie holte eine Zigarette aus ihrer Clutch, zündete sie an. Der Rauch kräuselte sich träge. „Hör auf! Du machst mich ganz kirre mit deinen unrealistischen Träumereien.“
Seine Lippen näherten sich ihrem Mund, sie roch den Geschmack nach Minze, spürte die weiche Haut seiner Wange an ihrem Gesicht. Sie schluckte, biss sich auf die Unterlippe. Nein! Ich darf nicht. Ich kann nicht. Sie trat einen Schritt zurück. Das Glas fiel ihr aus der Hand, zersplitterte in tausend Stücke. Sie brachte keinen Ton heraus. Starrte ins Leere. „Du solltest jetzt gehen.“. Ihre Stimme klang eisig. Ich muss ihn von mir fernhalten. Ein Kuss, und es ist um mich geschehen. Ich kann es mir nicht leisten, mich zu verlieben. Wie soll ich meine Arbeit verrichten, wenn ich nur an ihn denke, nur ihn berühren will?
Er wandte sein Gesicht von ihr ab, das vor ein paar Sekunden noch gestrahlt hatte. Jetzt lag es im Schatten. Finsternis in seinem Blick. Die Schultern sackten nach unten.
Halt ihn auf! Sag etwas! Tu etwas! Steh nicht rum wie ein Zinnsoldat.
„Ganz wie du willst. Ich sehe mal nach meinen Kollegen“, sagte er monoton. Kein verführerisches Vibrieren mehr in seiner Stimme. Nur Enttäuschung. Mit hängendem Kopf ging er Richtung Tür.
Inés dachte nach. Warum ließ sie sich von Escobar immer weiter in seinen Abgrund ziehen? Warum ließ sie zu, dass da nichts Leichtes mehr war? Emilio konnte ihre Insel sein. Vielleicht konnte er sie vor dem Untergehen bewahren, vor dem Ertrinken. In letzter Sekunde griff sie nach seinem Arm. „Bitte verzeih. Du hast mich völlig überrumpelt. Ich bin überfordert. Aber versteh doch… Ich bin verkorkst. Sie haben mich entführt, halten mich gefangen. Und nicht nur mich, viele andere Mädchen ebenso. Du hast keine Ahnung, was hier abläuft.“
Ein leichtes Lächeln glitt über seine Züge. Sie verlor sich in seinen Augen, die Sehnsucht wurde überwältigend. Ein jäher Schmerz packte sie. „Es ist so viel passiert. Dinge, die nicht rückgängig gemacht werden können. Du verdienst Leichtigkeit, keine Komplikationen. Schlag dir das mit uns aus dem Kopf. Such dir eine Frau, die so strahlt wie du. Du kannst mich nicht retten. Geh zurück in deine heile Welt, bevor es zu spät ist.“
„Nein!“, raunte er. „Du kannst mich nicht von meiner Mission abbringen. Ich weiß, dass es unlogisch ist. Ich sollte dich hassen. Sollte das Weite suchen. Wer will schon eine Frau, die es mit weiß Gott wie vielen Typen getrieben hat…Aber ich kann nicht anders.“
„Das ist eine Nummer zu groß für dich. Was, wenn Escobar dich durchschaut?“
„Egal, was du sagst, du kannst mich nicht umstimmen. Ich gebe nicht auf.“
Sie sah ihn an, blickte durch ihn hindurch. Etwas ging in ihr vor. Sie hatte so viele Männer kennengelernt, aber keiner von ihnen hatte etwas Positives in ihr hervorgerufen. Nichts als Abscheu, Verachtung, Ekel und Hass. Warum fühlte sie diese Schwäche bei Emilio? Das mit ihm war kein Spiel. Nichts Unpersönliches. Er unterschied sich von all den anderen. Bei ihm konnte sie ihre Maske ablegen, konnte sich fallen lassen. Sie liebte ihn noch immer, und genau deshalb musste sie ihn von sich fernhalten. Um ihn zu schützen. Sein Leben war in Gefahr.
Sie straffte die Schultern, schaute ihn ein letztes Mal an. „Geh zu deinen Kollegen. Wir sehen uns“, sagte sie kühl, bevor sie sich von ihm abwandte, und an die Mauer der Terrasse trat. Sie lauschte auf seine Schritte, die Terrassentür wurde geöffnet, eine Sekunde lang hörte sie die Elektro Beats, die Tür fiel wieder zu. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, schloss die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Ein Moment der Schwäche, dann zog sie ein Taschentuch aus ihrer Tasche, trocknete sich die Tränen, schnäuzte sich die Nase, bevor sie ihm nach drinnen folgte. Ihr Pokerface war perfekt, ein strahlendes Lächeln, wiegende Hüften, kokettes Wimpernklimpern. Keiner würde erkennen, dass in ihrem Inneren gerade ein weiteres Stück zerbrochen war.
Angewidert schaute Inés um sich. Die zuckenden Leiber, die zu den Elektro Beats des DJs ihren Rhythmus fanden. Die Mädchen in ihren Minikleidchen, die ihre Hintern an den Schößen der Gäste rieben. Gierige Finger, begehrliche Blicke, schmutzige Berührungen, Worte voller Vulgarität. Herren in Anzug und Krawatte, die die Sau rausließen, nach Aufmerksamkeit lechzten, nach Macht dürsteten. Sie betrachtete die chromfarbene Bar, den Ventilator an der Decke, der die rauchgeschwängerte Luft durcheinanderwirbelte, die Gerüche nach Marihuana, Alkohol und Schweiß verteilte. Sie schüttelte sich, rieb sich über die Arme. Seit drei Jahren hielt Manolo Escobar sie im El Paraíso gefangen. Paradies, was für ein Name für ein Bordell. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner César machte er ihr das Leben zur Hölle. Wie sie seine Partys hasste. Nur noch eine Weile mitspielen, sein Vertrauen gewinnen, dann ergibt sich vielleicht die Chance auf Flucht.
Sie nahm sich ein Glas Champagner, ging nach draußen auf die Terrasse. Ihr Blick verlor sich in der Weite des Grundstücks. Um sie herum war nichts außer Himmel, Einsamkeit und Stille. Sie konnte nicht genug davon bekommen. Andächtig lauschte sie dem Zirpen der Zikaden, betrachtete den Mond, der hin und wieder durch die Wolkendecke blitzte und mit seinem silbrigen Schein alles verschönerte. Hoch über den Pinien kreiste ein Vogel. Sie bewunderte die ausgebreiteten Schwingen, die Eleganz des Flugs, die klaren Konturen, die sich im Licht des Mondes abzeichneten. Der Vogel stieß einen langgezogenen Laut aus, als würde er sich mit ihr unterhalten wollen. Wie gerne würde sie fliegen können. Wie gerne wäre sie frei.
Die Terrassentür wurde geöffnet, die Beats des DJs drangen hinaus in die Stille, mit der Ruhe war es vorbei. Sie schloss die Augen, schwang ihre Hüften, einfach nur für sich selbst. Ein kühler Luftzug streichelte ihre Haut, fühlte sich an wie eine Liebkosung.
Noch bevor er ein Wort sagte, spürte sie seine Präsenz. Im Zeitlupentempo drehte sie sich um, hob die Lider, starrte ihn an. Litt sie an Halluzinationen? Die nussbraunen Augen, das Grübchen am Kinn. Es musste eine Verwechslung sein. Doch in dem Moment, als er die Ärmel hochkrempelte und sie das Tattoo auf seinem Handgelenk sah, war sie sich sicher. Emilio, ihre Jugendliebe. Er war es. Er war hier. Im El Paraíso. Was hatte das zu bedeuten?
Wie ein Jäger, der seine Beute langsam umkreist und nicht aufschrecken will, kam er näher. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, das Herz hämmerte in der Brust als er vor ihr verharrte. Ihre Fingerspitzen fuhren über die Linien des Unendlichkeitssymbols. Sie biss sich auf die Lippe, trat einen Schritt zurück.
„Inés! Ich kann es nicht glauben. Endlich habe ich dich gefunden.“ Seine Blicke glitten über ihren Körper, verweilten auf ihrem Gesicht.
Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. War es Erstaunen? Abscheu? Die Vergangenheit brodelte in ihr hoch. Sie erinnerte sich an die Magie, die zwischen ihnen bestanden hatte. An die Vertrautheit. Das Sicherheitsgefühl. Die Geborgenheit. Hatte der Zauber noch eine Chance?
Sie fixierte ihn, trank einen Schluck Champagner, um die Trockenheit in ihrer Kehle zu beseitigen. Wie schön wäre es, wenn er sie halten würde, wenn er sie streicheln würde, sie trösten würde, sie aus diesem Elend befreien würde. Doch da war eine Mauer zwischen ihnen. Eine Mauer voller Fragen.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte er kaum hörbar.
„Ja. Ich hätte nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen. Und schon gar nicht in einem Etablissement wie diesem. Willst wohl ein wenig Spaß.“
Er schüttelte den Kopf, setzte zu einer Erklärung an.
In dem Moment trat Escobar nach draußen, gesellte sich zu ihnen, legte Inés den Arm um die Schulter. Mr. Besitzergreifend, schoss es ihr durch den Kopf. Er muss sein Territorium markieren. Schlagartig befand sich ihr gesamter Körper in Alarmbereitschaft.
„Wie ich sehe, habt ihr euch bekannt gemacht. Was hältst du von Emilio Castillo, dem neuen Mitglied meines Imperiums?“
In ihrem Blick lag Verwunderung. Was hatte das zu bedeuten?
„Ich arbeite im Sicherheitsbereich“, erklärte Emilio schnell.
„Chef, kommst du bitte rein? Wir brauchen deine Hilfe”, rief Miguel, der Assistent von Escobar von drinnen.
Escobar lächelte und hob die Hände. „Ich bitte um Entschuldigung. Wie ihr seht, wird nach dem Hausherrn verlangt. Ich muss mich um die Gäste kümmern.“
Emilio nickte ihm zu.
Escobar hauchte Inés einen Kuss auf die Wange. „Kümmere dich um unseren Neuzugang. Er hat ein wenig Vergnügen verdient.“
Oh Gott, wenn er wüsste. Er darf nicht erfahren, dass ich Emilio kenne.
Sie wartete, bis Escobar im Haus verschwunden war, wandte sich Emilio zu, während sie die Nägel in ihren Arm grub. Ein Gefühl tiefer Ermattung überfiel sie. „Es ist lange her“, raunte sie und griff nach seiner Hand. Eine verstohlene Berührung. Ein kurzer Moment der Intimität.
Er entzog sich ihrem Griff. „Sei vorsichtig. Keine Vertraulichkeiten, solange wir unter Beobachtung sind. Er darf keinen Verdacht schöpfen.“
„Er hat mich eben gebeten, mich um dich zu kümmern“, erwiderte sie trocken.“ Ihre Hände krampften sich um das Glas.
„Shit! Ich kann mich kaum zusammenreißen. Wenn ich mir vorstelle, was die mit dir machen.“ Sein Gesicht lief rot an, die Augäpfel traten hervor. „Als César mir vor zwei Tagen die Modelkartei gezeigt hat, wärs mir fast hochgekommen. Shit“, fluchte er erneut. „Auf sowas kann man sich nicht vorbereiten.“
„Beruhig dich. Wieso arbeitest du für ihn? Du wolltest studieren. Bist du vom Weg abgekommen?“
„Nichts dergleichen. Ich habe mit meinem Jurastudium begonnen. Momentan sind Semesterferien und ich wollte die Chance nutzen, dich zu suchen. Ich bin deinetwegen hier. Du bist mir nie aus dem Kopf gegangen. Von einem Tag auf den anderen warst du verschwunden.“
Sie biss sich auf die Lippe. „Es ging so schnell. Ich hatte keine Chance.“ Ihre Stimme versagte, sie senkte den Blick.“
„Was zum Teufel ist damals geschehen?“
„Das lässt sich nicht in ein paar Minuten erklären.“
„Ich habe Zeit. Escobar wollte, dass du dich um mich kümmerst. Also…“ Er brach ab, sah sie herausfordernd an.
„Es ist die Hölle“, rutsche es ihr heraus. Sie driftete ab, war mit einem Mal im Folterkeller, ans Andreaskreuz gefesselt. Sie spürte die Rohrstockhiebe auf ihrer nackten Haut, hörte die Erniedrigungen, das höhnische Lachen. Mit Gewalt unterbrach sie den Strom ihrer Erinnerungen. „Hat die Polizei nach mir gesucht? Hat mich jemand als vermisst gemeldet?“
„Nein. Deine Eltern sind der Meinung, dass du frei sein wolltest. Dein Dad ist auf hundertachtzig. Er ist überzeugt, dass du dich mit deinem Bruder Xavier zusammengetan hat.“
Sie schluckte, kämpfte die Tränen herunter. „Scheiße!“ entfuhr es ihr. „Das glauben sie wirklich? Ich fasse es nicht. Alles nur wegen dem Streit.“
„Welchem Streit?“
„Kurz vor der Abschlussfeier. Papa hat mich genervt. Du weißt schon, weil er nicht wollte, dass ich auf die Uni gehe. Ich war voller Wut, habe ihn angeschrien. Meine letzten Worte waren, dass er mich nie wiedersehen wird. Wie hätte ich ahnen können, was dann passieren würde?“ Ihre Stimme wurde immer leiser. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Mir war klar, dass du nicht freiwillig dein Bündel gepackt hast. Du hättest mich nie ohne Erklärung sitzenlassen. Und jetzt das. Du an diesem Ort.“
„Du kennst mich besser als meine Eltern.“ Jeder Nerv in ihrem Körper wollte sie dazu bringen, sich an ihn zu lehnen. Sie riss sich zusammen. „Wie hast du mich gefunden?“
„Ich hatte von Anfang an César in Verdacht, also habe ich mich mit ihm angefreundet, habe ihm etwas vorgespielt. Wann immer ich Freizeit hatte, habe ich Botengänge für ihn erledigt, ab und an eine Line mit ihm gezogen, ein paar Drinks gekippt. Ich wusste, dass er mich irgendwann zu dir führen würde. Wie du siehst, hat es funktioniert.“
„Unglaublich!“ Mehr brachte sie nicht heraus.
„Und jetzt will ich wissen, was passiert ist. Erzähl schon…“ Er legte den Kopf schief, sah sie an, Erwartung in seinem Blick. „Wenn du nicht willst, dass ich auf der Stelle ausraste und den Laden hier aufmische, dann pack aus.“
Sie unterdrückte den Impuls, ihn anzufauchen, um diesem Gespräch aus dem Weg zu gehen. „Später. Ich kann jetzt nicht“, wehrte sie ab. „Erzähl mir von meinen Eltern. Wie geht es ihnen?“
Schweiß lief ihm über das Gesicht, eine Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn, seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Himmel Hergott! Du machst es mir nicht leicht.“
„Ich bitte dich. Tue es mir zu liebe. Ich muss wissen, wie es ihnen geht.“
„Dein Vater ist schwer erkrankt. Er leidet unter einer seltenen Immunschwäche. Hat mit der Leber zu tun. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten, wird medizinisch betreut. Deiner Mutter geht es den Umständen entsprechend gut.“
„Und Xavier? Gibt es etwas Neues von ihm?“
„Nein. Keiner weiß, wo er abgeblieben ist.“ Er stockte, drehte sich in alle Richtungen. „Ich könnte dich sofort von hier wegbringen. Lass uns zur Polizei gehen.“
Sie rang um Worte. „Das kannst du vergessen. Sie würden uns auf der Stelle töten, und nicht nur uns. Auch unsere Familien. Escobar hat Kontakte in die höchsten Kreise. Politiker, Richter. Er schmiert sie alle. Du hast keine Ahnung.“
„Vergiss nicht, dass ich César zwischenzeitlich gut kenne. Es gibt immer einen Ausweg. Du musst nicht bleiben.“
„Du bist verrückt. Schau dich an.“ Sie legte den Kopf schief, ihr Blick verweilte auf seinem Gesicht. „Emilio Castillo unter all dem Abschaum. Du gehörst nicht an diesen Ort.“
Er zuckte mit den Schultern, ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Komm mit mir.“
Sie reckte ihr Kinn, sah ihm tief in die Augen. „Und wenn ich das nicht will.“
Er schluckte, griff sich an die Brust. „Du möchtest freiwillig bleiben? Das nehme ich dir nicht ab. Bist du etwa gerne deren Hure?“
Ihr Gesicht verhärtete sich zu einer Maske. „Hier fragt keiner nach meinen Wünschen. Schau mich an. Ich bin seine Ware, sein Besitz.“ Sie zog ihren Rock ein wenig höher, so dass er den Barcode auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels sehen konnte. „Er hat mich gebrandmarkt. Dieser Mann wird mich überall finden. Ich will kein Leben voller Angst.“
Er griff nach ihrer Hand, hielt sie fest umklammert. „Wie hältst du das nur aus? Wenn ich mir vorstelle, was ihr hier treibt… Weißt du noch? Wie wir unser erstes Mal zelebrieren wollten?“
Sie schluckte, presste die Lider zusammen, riss sie wieder auf. „Es tut mir so leid. Ich musste mich anpassen. Nur so überlebe ich“, flüstert sie, entzog ihm ihre Hand. „Ich halte mich an seine Regeln, er vertraut mir jeden Tag ein wenig mehr. Stück für Stück wird er mir mehr Freiheit gewähren.“ Sie spürte, wie sich ihre Gesichtszüge bei dieser Lüge verhärteten.
Er griff nach ihrem Arm, zog sie an sich. „Das glaubst du doch selbst nichts. Mein Gott, Inés. Ergreif deine Chance. Jetzt. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Bitte nimm mein Angebot an.“
„Du glaubst immer noch an Märchen“, erwiderte sie leise. Ihre Beine waren wie Blei, am liebsten würde sie sich setzen, sich irgendwo festhalten, die Augen schließen. „Oh, Emilio. Ich schäme mich so“, seufzte sie. „Du solltest mich niemals so sehen. Als Escobars Hure. In diesen Klamotten, mit diesem Barcode, mit all den Make-up-Schichten.“
Eine Sekunde lang berührte er ihren Arm. „Wahrscheinlich hast du recht. Ja, ich gebs zu. Die Vorstellung ist widerlich. Fremde Männer auf dir, in dir. Ich wills mir nicht genauer ausmalen.“
„Ich bin nichts weiter als eine Nutte.“ Ihre Stimme brach, sie holte tief Luft, bevor sie fortfahren konnte. „Unsere Liebe hatte nie eine Chance.“
Hilfesuchend klammerte sie sich an ihrem Champagnerglas fest. Ihr wurde immer heißer, mit jeder Minute, die sie mit ihm verbrachte. Sie konnte die Distanz kaum ertragen, wollte ihren Kopf an seine Brust lehnen, seine Hände spüren, wie sie ihre Haare streichelten, ihre Schultern, ihr Gesicht. Reine Hände, die ihr Trost spendeten, ihr neuen Lebensmut einhauchten, nicht die Griffel eines Freiers, eines Sklavenhalters. „Ich bin froh, dich zu sehen. Mit dir reden zu können.“
Seine Finger glitten durch ihre schwarzen Locken. „Escobar ist nicht immer vor Ort. Wir werden uns unsere Momente stehlen.“ Seine Hand war so nah bei ihrer, nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander. Der Zauber war noch nicht verpufft.
Mit einem Mal war da Hoffnung. Sehnsucht regte sich in ihr. Das Verlangen nach einem anderen Leben, einem anderen Ort, einem Ausweg. Die Wirkung des Alkohols breitete sich immer weiter in ihr aus. Die Welt war etwas farbenfroher, sie fühlte intensiver. Sie konnte nicht widerstehen, griff nach seiner Hand. Pure Elektrizität. Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
„Verlier die Hoffnung nicht, hörst du? Jetzt bin ich hier. Zwar noch auf der untersten Gehaltsstufe, aber ich werde meinen Job gut machen, werde die Strukturen dieser Organisation kennenlernen. Und dann wird der Tag kommen, an dem wir die Falle zuschnappen lassen werden.“
Er beugte seinen Kopf ein wenig näher zu ihr. Verdammt! Wenn er nicht aufhörte, würde sie sich an ihn lehnen. Hier und jetzt. Auf der Stelle. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Spannung lag in der Luft, sie kämpfte mit sich, musste die Kontrolle bewahren. Mit zitternden Händen zog sie einen Fächer aus ihrer Clutch, fächerte sich Luft zu.
„Ich werde dich retten. Und wenn wir außer Landes flüchten müssen. Nur wir beide. Irgendwo. Sonne… Sand… Meer…“
Sie rückte von ihm ab, war kurz davor, zu kollabieren. Schwer atmend trank sie den Rest Champagner in einem Zug. Sie holte eine Zigarette aus ihrer Clutch, zündete sie an. Der Rauch kräuselte sich träge. „Hör auf! Du machst mich ganz kirre mit deinen unrealistischen Träumereien.“
Seine Lippen näherten sich ihrem Mund, sie roch den Geschmack nach Minze, spürte die weiche Haut seiner Wange an ihrem Gesicht. Sie schluckte, biss sich auf die Unterlippe. Nein! Ich darf nicht. Ich kann nicht. Sie trat einen Schritt zurück. Das Glas fiel ihr aus der Hand, zersplitterte in tausend Stücke. Sie brachte keinen Ton heraus. Starrte ins Leere. „Du solltest jetzt gehen.“. Ihre Stimme klang eisig. Ich muss ihn von mir fernhalten. Ein Kuss, und es ist um mich geschehen. Ich kann es mir nicht leisten, mich zu verlieben. Wie soll ich meine Arbeit verrichten, wenn ich nur an ihn denke, nur ihn berühren will?
Er wandte sein Gesicht von ihr ab, das vor ein paar Sekunden noch gestrahlt hatte. Jetzt lag es im Schatten. Finsternis in seinem Blick. Die Schultern sackten nach unten.
Halt ihn auf! Sag etwas! Tu etwas! Steh nicht rum wie ein Zinnsoldat.
„Ganz wie du willst. Ich sehe mal nach meinen Kollegen“, sagte er monoton. Kein verführerisches Vibrieren mehr in seiner Stimme. Nur Enttäuschung. Mit hängendem Kopf ging er Richtung Tür.
Inés dachte nach. Warum ließ sie sich von Escobar immer weiter in seinen Abgrund ziehen? Warum ließ sie zu, dass da nichts Leichtes mehr war? Emilio konnte ihre Insel sein. Vielleicht konnte er sie vor dem Untergehen bewahren, vor dem Ertrinken. In letzter Sekunde griff sie nach seinem Arm. „Bitte verzeih. Du hast mich völlig überrumpelt. Ich bin überfordert. Aber versteh doch… Ich bin verkorkst. Sie haben mich entführt, halten mich gefangen. Und nicht nur mich, viele andere Mädchen ebenso. Du hast keine Ahnung, was hier abläuft.“
Ein leichtes Lächeln glitt über seine Züge. Sie verlor sich in seinen Augen, die Sehnsucht wurde überwältigend. Ein jäher Schmerz packte sie. „Es ist so viel passiert. Dinge, die nicht rückgängig gemacht werden können. Du verdienst Leichtigkeit, keine Komplikationen. Schlag dir das mit uns aus dem Kopf. Such dir eine Frau, die so strahlt wie du. Du kannst mich nicht retten. Geh zurück in deine heile Welt, bevor es zu spät ist.“
„Nein!“, raunte er. „Du kannst mich nicht von meiner Mission abbringen. Ich weiß, dass es unlogisch ist. Ich sollte dich hassen. Sollte das Weite suchen. Wer will schon eine Frau, die es mit weiß Gott wie vielen Typen getrieben hat…Aber ich kann nicht anders.“
„Das ist eine Nummer zu groß für dich. Was, wenn Escobar dich durchschaut?“
„Egal, was du sagst, du kannst mich nicht umstimmen. Ich gebe nicht auf.“
Sie sah ihn an, blickte durch ihn hindurch. Etwas ging in ihr vor. Sie hatte so viele Männer kennengelernt, aber keiner von ihnen hatte etwas Positives in ihr hervorgerufen. Nichts als Abscheu, Verachtung, Ekel und Hass. Warum fühlte sie diese Schwäche bei Emilio? Das mit ihm war kein Spiel. Nichts Unpersönliches. Er unterschied sich von all den anderen. Bei ihm konnte sie ihre Maske ablegen, konnte sich fallen lassen. Sie liebte ihn noch immer, und genau deshalb musste sie ihn von sich fernhalten. Um ihn zu schützen. Sein Leben war in Gefahr.
Sie straffte die Schultern, schaute ihn ein letztes Mal an. „Geh zu deinen Kollegen. Wir sehen uns“, sagte sie kühl, bevor sie sich von ihm abwandte, und an die Mauer der Terrasse trat. Sie lauschte auf seine Schritte, die Terrassentür wurde geöffnet, eine Sekunde lang hörte sie die Elektro Beats, die Tür fiel wieder zu. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, schloss die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Ein Moment der Schwäche, dann zog sie ein Taschentuch aus ihrer Tasche, trocknete sich die Tränen, schnäuzte sich die Nase, bevor sie ihm nach drinnen folgte. Ihr Pokerface war perfekt, ein strahlendes Lächeln, wiegende Hüften, kokettes Wimpernklimpern. Keiner würde erkennen, dass in ihrem Inneren gerade ein weiteres Stück zerbrochen war.
Zuletzt bearbeitet: