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Hoffnung
An diesem Tag war alles schiefgegangen. Ich saß am Bahnsteig und lies ein niederschmetterndes Ereignis nach dem anderen Revue passieren. In meinen Gedanken jagten sich mein ganzes bisheriges Leben Fehlentscheidungen, Peinlichkeiten und unglückliche Zufälle bis zur Erschöpfung.
Es war weit nach Mitternacht und die S Bahn war immer noch nicht da. Der Bahnhof war düster, dreckig, vereinzelte Gestalten kreuzten meinen Blick, sie kamen mir alle vor wie gefallene Persönlichkeiten, vielleicht waren sie das auch irgendwie, jedenfalls passten wir bestens zueinander. Neben mir schleuderte ein alter Mann seine Bierflasche in hohem Bogen von sich und übergab sich in den Mülleimer. Es störte mich nicht. Ich fühlte mich leer, zerrissen, nutzlos und wünschte mir, auf der Stelle meinen letzten Atemzug zu tun.
Als endlich der Zug kam und mein Abteil, das ich mir nur noch mit zwei nächtlichen Mitfahrern teilte, mich schadenfroh in Empfang nahm, konnte ich meine Tränen kaum noch unterdrücken. Ich vertiefte mich in einen Aldi Prospekt und betrachtete Fachingskostüme. Bohrmaschinen. Hinter dem Fenster verschwamm die beleuchtete Stadt. Ich war ganz allein. Keiner erwartete mich.
Wir verließen die Stadt, hielten in einem Vorort, ein einziger Bahnsteig, unbeleuchtet.
In meinem Kopf hämmerte nur ein Wunsch: „Bitte lass etwas geschehen. JETZT“. Ich weiß nicht an wen direkt ich diesen Wunsch adressierte, aber ich weiß, das ich nicht damit rechnete daß er sich erfüllte, dafür ist das Leben zu simpel gestrickt.
Als die Bahn sich wieder in Bewegung setzte, hob ich den Kopf, nur einer war zugestiegen, er ging an mir vorbei und ich starrte auf seinen Rücken.
Unvermittelt drehte er sich um und kam auf mich zu, setzte sich mir gegenüber. Seine Haut war von dunklem braun, seine Augen fast schwarz. Ich weiß es, denn sie trafen meine so zielsicher wie der Obdachlose von vorhin den Mülleimer. Er sah mich so intensiv an dass mir schwindelig wurde, normalerweise hätte ich den Blick abgewendet, doch ich konnte nicht.
„Heute ist ein schlechter Tag“, sagte er, und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Ich habe gerade mein Handy verloren. Alle Telefonnummern meiner Freunde waren darin gespeichert und alle Freund hatten nur diese Nummer. Ich habe den ganzen nachmittag versucht, mein Handy zu erreichen. Irgendwann muß jemand es aufgehoben haben, er nahm ab, sagte nur „Ich habe dein Handy gefunden“ und legte wieder auf. Seitdem gibt es nichteinmal mehr ein Freizeichen.“ Wir sahen uns immer noch an, ich sah eine Träne in seinen Augen, seine Unterlippe zitterte. „Ich komme von weit her, und habe mit einem Schlag alle Kontakte verloren, die ich mir mühsam aufgebaut hatte. Jetzt bin ich so unglücklich, dass ich am liebsten sterben würde.“
Er stieg bei der nächsten Station aus. Ich atmete einmal tief durch, und widmete mich wieder dem Studium des Werbeprospekts.
11.1.2005, Claudia Lichtenwald