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Hofmanns Weihnachtsbaum
Mit gedämpfter Stimme, aber doch verständlich, sprach Hofmann, wenn Passanten an ihm vorübergingen, «Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest». Manche bedankten sich, einige wünschten es ihm auch, andere eilten vorbei, ohne ihn zu beachten. Es war Endspurt, um noch letzte Einkäufe zu tätigen. Nur vereinzelte deuteten den Hut, den Hofmann vor ihnen zog, er könnte für eine Kollekte dienen. Die handgefertigten Steppnähte an seinem kamelfarbenen Cashmeremantel wiesen darauf hin, dass es teures Tuch mit handwerklich aufwendiger Verarbeitung war. Der Stoff musste schon bessere Tage gesehen haben. Die Schuhe glänzten, Hofmann war auf ihre tägliche Politur bedacht. Nur von hinten bemerkte man die Schieflage der Absätze. Unerkannt blieb, dass die Laufflächen Löcher hatten und bereits die Brandsohle angegriffen war. Der kalte Boden veranlasste ihn manchmal unauffällig hin- und herzugehen, und wenn es arg wurde, ab und zu ein Warenhaus oder ein öffentliches Gebäude betreten.
Die Wärme des Kaufhauses umhüllte ihn, als er durch die Tür trat. Sein sorgfältig gestutzter Bart verdeckte weitgehend die aufziehende Rötung im Gesicht. Es war die Temperaturschwankung, die seine Blutzirkulation aktivierte. Im früheren Leben hätte ein Bart ihm nicht entsprochen, und auch heute trug er ihn nur der Not gehorchend, denn aus Gründen der Ästhetik.
Langsam spazierte er durch die Etagen. Er achtete darauf wie ein Kunde aufzutreten und nicht den Eindruck zu erwecken, herumzulungern. Damals, als er der beruflich sehr angesehene Herr Hofmann war, hatte er sich nur verächtlich in ein Warenhaus begeben, sofern es unumgänglich war. Einkäufe, die seine persönliche Anwesenheit bedingten, tätigte er in renommierten Geschäften. Andere Güter bestellte er telefonisch, sie wurden über die Hauslieferdienste zugestellt.
Bei den Spielwaren war der Andrang massiv. Dies war an sich günstig, nur einer unter den sich drängelnden Leuten zu sein, doch auch deprimierend. Hier wurden Summen umgesetzt, über die er früher höchstens abschätzig die Mundwinkel verzogen hätte. Heute wäre er froh, nur einen Bruchteil dessen zu besitzen, das die Leute für eines der elektronischen Spielzeuge zahlten. Es veranlasste ihn, eine andere Etage aufzusuchen.
In der Abteilung für Damenbekleidung fiel er nicht weiter auf, es gab da Männer, die noch schnell ein Dessous für ihre Ehefrau oder eine Freundin benötigten. Mancher von ihnen war wohl vom Gedanken abgekommen, Schmuck zu wählen, da solche Präsente in edler Ausführung ihre Investitionsbereitschaft überstiegen.
In der Möbelabteilung setzte er sich auf ein Bett, die Matratze mit der Hand federnd, ihre Qualität abschätzend. Er mochte es nicht zu weich und nicht zu hart. Wie ein gekochtes Ei. Der Gedanke erheiterte ihn einen Augenblick, doch zum Lachen war ihm nicht zumute.
Diese Abteilung war wohl die falsche Wahl. Eine Verkäuferin, der sich derzeit kein anderer potenzieller Käufer bot, stand plötzlich neben ihm. «Sie dürfen sich schon hinlegen, die Matratze ist von sehr guter Qualität. Die Federung ist zwar immer eine Frage des persönlichen Wohlbehagens, aber ich kann sie nur empfehlen. Ich selbst habe auch genau diese und es schläft sich herrlich darauf.»
Hofmann gewann den Eindruck, sie durchschaue seine Situation. Schnell stand er auf. «Danke, aber es ist im Moment noch nicht aktuell. Ich wollte mich nur mal mit dem Gedanken anfreunden, vielleicht wieder einmal eine neue Unterlage in Erwägung zu ziehen.»
«Ich verstehe durchaus, dass Sie diesen Entscheid nicht spontan treffen möchten. Er will gut überlegt sein, man liegt dann ja auch viele Jahre auf ihr. Doch Sie können jederzeit wieder vorbeikommen, ich berate Sie dann gerne.»
«Danke. Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest.» Er konnte es sich gerade noch verkneifen synchron den Hut zu ziehen, sondern tippte nur an die Krempe.
«Ich wünsche Ihnen auch ein ganz schönes Weihnachtsfest», hörte er sie noch ihm nachrufen, als er davoneilte.
Die Weihnachtsmusik berieselte das ganze Haus. Nun noch lauter schien ihm, als würde sie ihn auffordern, kauf endlich ein wie es alle hier tun! Die Hände in den Taschen vergraben, da sie nichts zu tragen hatten, eilte er dem Ausgang zu. Nur weg von hier.
Die Zeit des Ladenschlusses kam näher, die Leute wurden noch hektischer. Er stand vor Ladengeschäften, die zurückgesetzt von der Hausfassade geschützt in einem Bogengang lagen. Die Einnahmen am Morgen hatten für eine Semmel und Wurst als Mittagessen gereicht. Knapp vor Ladenschluss würde er dann, soweit das Geld reichte, etwas einkaufen. Viel könnte es nicht sein. Er konnte den Menschen die vorbeihasteten eigentlich nicht böse sein, früher hätte er Bettler überhaupt nicht beachtet. Ja, als asoziales Gesindel angesehen. Nun war er einer von ihnen, in einer aussichtslosen Situation festgefahren, wenn nicht ein Wunder geschah. Den Gang zum Sozialamt mied er, dieser lag unter seiner Würde.
Noch einmal wechselte er seinen Standort, nun in der Nähe eines Lebensmitteldiscounts, den er kurz vor Ladenschluss aufzusuchen beabsichtigte. Knapp davor senkten sie bei verderblichen Lebensmitteln jeweils die Preise. Für ihn kam da nur Brot und billige Wurst oder auch mal eine Frucht in Frage. Eine warme Mahlzeit hatte er letztes Mal im Frühjahr bei Caritas eingenommen. Doch die schiefen Blicke der anderen und das Getuschel von einzelnen, hielt ihn dann von dort fern.
Mit der Hand in der Tasche zählte er eben seine Münzen, als ein junges Mädchen sich näherte. Sein, «Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest», liess ihren Schritt zögern und ihn ansehen. Er wollte schon verlegen den Hut wieder aufsetzen, als er sah, dass sie in ihrer Handtasche zu wühlen begann. Sie hielt ihm einen Geldschein entgegen, nicht einfach eine Münze. Den Hut ignorierte sie.
«Ich wünsche Ihnen auch von ganzem Herzen, eine frohe Weihnacht und alles Gute.» Mit einem Lächeln zum Abschied ging sie weiter, während er ihr verwundert nachsah. Dies war noch nie vorgekommen, dass jemand so grosszügig war, dachte er beschämt. Es reicht für eine köstliche Mahlzeit und dann bleibt noch genug für einige Tage.
Auf dem Weg zu seinem Unterschlupf, der im Winter aber nur zur Lagerung seiner Habseligkeiten geeignet war, kam er an der Kathedrale vorbei. Bei dieser Kälte musste er täglich schauen, wo sich ein geeigneter Schlafplatz bot. Diese waren rar. Doch ergab sich immer wieder, dass irgendwo eine Schuppentüre nur angelehnt oder eine Telefonkabine, die immer seltener wurden, nicht bereits annektiert war. Auf dem Platz vor der Kathedrale war ein grosser Tannenbaum aufgebaut, dessen unterste Äste den Boden dicht bedeckten. Jedes Jahr wurde dieser Baum durch das gegenüberliegende Finanzinstitut gestiftet und mit elektrischen Kerzen grosszügig ausgestattet. Noch nie hatte er sich etwas daraus gemacht, doch diesmal nahm er ihn wahr. An diesem Baum mit Lichterglanz durfte auch er teilhaben.
Die Strassen waren ruhig, als er mit seinen Habseligkeiten für die Nacht, an der Kathedrale vorbei wieder auf den Platz trat. Ein paar einzelne Schneeflocken fielen, nicht viele, es reichte noch nicht, die Landschaft weiss zu verzaubern. Von dem Baum ging ein warmes Leuchten aus.
Als er näher trat, vermeinte er die Wärme auch körperlich zu spüren. Das musste es sein, ein Bett für die Weihnachtstage. Vorsichtig schob er die untersten Äste auseinander. Neben dem Stamm und der Befestigung war genügend Hohlraum. Sich umschauend, kein Mensch war zu sehen, schob er die Tasche mit seinem Schlafsack und andern Habseligkeiten in den Hohlraum. Schnell zog er noch seinen Mantel aus, mit dem Futter nach aussen legte er ihn zum Kopfkissen zusammen und verschwand unter den Zweigen.
Behaglich schien ihm die Wärme in seinem Weihnachtsbaumnest, er hatte sich ein angenehmes Lager gestaltet. Nicht zu früh. Bald darauf hörte er Stimmen, erste Personen, welche zur Weihnachtsmesse in die Kathedrale gingen.
Leise rieselte die Musik aus der Kathedrale, wohl ein offenes Oberlicht, das ihm dieses Konzert ermöglichte. Die erste Weihnacht seit seiner Jugend, die ihm eine feierliche Stimmung erweckte. So behaglich hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Die Kälte ergriff seinen Körper immer stärker, doch er spürte es nicht, satt und mit wohligem Gefühl, nur halbwegs zugedeckt, war er eingeschlafen. In seinem Traum schloss sich eine Schneedecke, einem Hermelinpelz gleich, über allem. Der Weihnachtsbaum hob sich daraus hervor, die warmen Lichter strahlten. Sie erloschen flackernd mit Hofmanns letztem Atemzug.