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Holler die Waldfee
Holler war unglücklich. Er war nicht das, was man sich im Allgemeinen so vorstellt, wenn man an eine Fee denkt. Sein Drei-Tage-Bart war schon fast fünf Tage alt, und seine buschigen braunen Augenbrauen passten auch nicht zu seinem Job.
Holler schwebte nur selten durch den Wald, und wenn, dann nur, weil er Langeweile hatte. Viele Freunde hatte er auch nicht. Denn wer möchte schon mit einer Fee gesehen werden, die kein langes, goldenes Haar hat, sondern zottelige schwarze, die bis zur Schulter gingen.
Und auf seinen Schultern war kein Feen-Staub, sondern es waren Schuppen, die ihm von den Haaren rieselten. Und wer nicht viele Freunde hat, der achtet auch nicht so sehr auf sein Äußeres, so dass Holler seinen derben Körpergeruch nicht mehr verbergen konnte.
So hatte Holler nur zwei gute Freunde, die es nicht interessierte, ob er nicht gut roch, oder ob seine Haare schwarz oder goldig waren. Die eine war die Biene Clara, die er kennengelernt hatte, als er im Wald ankam. Holler bewunderte sie um ihren Stachel, mit dem sie jeden vertrieb, der ihr zu nahe kam.
Der andere Freund war eine Trauerweide. Und immer, wenn es ihm schlecht ging oder er traurig war, redete er mit ihr. Die Weide war ihm eine gute Freundin, eine gute Zuhörerin. Er konnte ihr sein Herz ausschütten, und egal ob Tag oder Nacht, sie war immer für ihn da. Holler liebte das an ihr.
Aber wie ist Holler eigentlich zur Wald-Fee geworden? Eine gute Frage.
Alles fing an im September 1998. Holler Sachs, damals noch ein ganz normaler Mann, fuhr mit seinem Opel Corsa durch die Nacht. „Mistwetter" fluchte er, denn er konnte fast nichts sehen, so stark regnete es, und seine Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, um die Wassermassen von der Windschutzscheibe zu befördern. Er war auf dem Weg zur Arbeit, und dieser führte ihn durch ein kleines Waldstück. Er stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, um dann um sieben pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Für den Weg brauchte Holler nur 20 Minuten, aber er liebte es, gemütlich zu frühstücken und den Tag langsam angehen zu lassen.
Im Radio lief ein alter Schlager, und Holler summte leise mit, denn richtig singen konnte er nicht, weil er zwar die Melodie, aber nicht den Text kannte. Und überhaupt, Schlager liebte er, und er sah sich regelmäßig den Musikantenstadl an. Nicht einmal hatte er den verpasst, immer Sonntag zur gleichen Zeit. Der Radioempfang war aufgund des Unwetters sehr schlecht, und so versuchte er, den Sender richtig einzustellen.
Und dann, plötzlich, tauchte es auf. Holler sah nur kurz nach unten, zum Sendersuchlauf, um dann, im Scheinwerferlicht, auf der Straße dieses Reh zu sehen. „Verdammt" entglitt es ihm, und er riss erschrocken das Lenkrad herum, trat mit voller Wucht auf die Bremse, und versuchte, dem Tier auszuweichen. Doch es war zu spät, die regennasse Fahrbahn machte es unmöglich, den Wagen noch rechtzeitig zum stehen zu bekommen.
Das Reh prallte auf die Windschutzscheibe, der Wagen landete im Graben, und um Holler herum wurde es still. Nur die Scheibenwischer liefen noch auf Hochtouren, und machten ein quietschendes Geräusch, das den prasselnden Regen noch übertönte.
„Ich muss es retten" dachte er sich, Holler hob das Tier vorsichtig auf, und humpelte langsam zum Auto zurück. Er legte es vorsichtig auf die Rückbank, und es war ihm egal, ob es Flecken geben würde, schließlich hatte er ein Leben zu retten, was ist das im Vergleich zu einer verschmutzten Rückbank im Auto? Er humpelte durch den Wald, und versuchte, Hilfe zu holen.
Im Wald war es bereits dunkel, und der vom Regen nasse Boden war tief und matschig. Das machte es nicht einfacher, und Holler musste schon nach ein paar Minuten rast machen. Er setzte sich an einen Baum, eine Trauerweide, um sich einigermaßen vor dem Regen zu schützen. „Wie schön doch dieser Baum ist" dachte sich Holler, denn die langen, unzähligen Äste des Baumes, die so traurig nach unten hingen, die faszinierten ihn.
„Wohin des Weges?" hörte Holler jemanden fragen. Er schaute sich um, doch niemand war zu sehen. „Bei dem Wetter, und dunkel ist es auch noch" tönte es wieder aus der Dunkelheit. Holler erschrak, und er versuchte, mit einem Mal aufzustehen. „Autsch" schrie er, denn sein Bein tat jetzt bei jedem Schritt höllisch weh. „Verletzt?" fragte die unbekannte Stimme. „Ja, ein Autounfall, ich habe ein Tier angefahren, und nun bin ich auf der Suche nach Hilfe" erklärte er der Stimme. „Und wer sind sie??" fragte Holler, „oder noch besser: WO sind sie?" ergänzte er.
„Ich?" kam es ebenso fragend zurück. „Ja sie, wer sonst, mit wem spreche ich denn sonst noch, mit mir selbst?" fragte er. „Ich bin die Trauerweide" erklärte die Stimme. „Na klar, jetzt sprech ich schon mit Bäumen" dachte sich Holler. „Seit wann können Bäume reden?" fragte Holler. „Schon immer", erklärte die Weide, „nur die Menschen haben nie zugehört".
Die Trauerweide erzählte Holler von ihrem Schicksal. Damals sei sie noch eine stolze Eiche gewesen, direkt neben ihrem Mann. Sie standen dort so ungefähr 40 Jahre, von klein auf zusammen, stolz und vereint. Bis ihr Mann dann gefällt wurde. Einfach so. Und da war dann nichts mehr so wie früher. Seitdem würde sie trauern, und ihre Äste ließe sie hängen, weil sie das Rascheln der Blätter in ihrer Baumkrone viel zu sehr an ihren Mann erinnern würde.
Holler machte diese Geschichte ziemlich traurig. Und er versuchte, die Trauerweide auf andere Gedanken zu bringen. „Dein Mann hat sicher jemandem viel Freude bereitet. Er ist vielleicht eine stattliche Schatztruhe geworden, oder ein wertvoller Tisch, an dem viele Menschen sitzen könnten und sich wohl fühlen. Das rührte die Weide so sehr, dass man fast ein Rascheln zu hören schien. Der Gedanke gefiel ihr, und sie unterhielt sich noch die halbe Nacht mit Holler. Schützend hielt sie ihre Äste über ihn, damit er nicht nass und krank würde, während er schlief.
Am nächsten Morgen weckte die Weide Holler. „Guten Morgen mein Freund" säuselte sie. Holler rieb sich die Augen, und er gähnte herzlich. Und er erschrak. Die Weide sah plötzlich ganz anders aus. Ihre Äste hingen nicht mehr nach unten, sondern sie ragten in die Höhe, und ihre Stimme war auch gar nicht mehr traurig, sondern sie war voller Kraft und Elan.
„Danke" sagte die nun gar nicht mehr traurige Weide zu Holler, „Danke für Deine Hilfe, ich fühl mich schon viel besser". „Ist doch nicht der Rede wert" antwortete er, „ich hab doch nichts getan". „Oh doch, hast Du, und weil Du mir meine Kraft zurückgegeben hast, möchte ich Dir auch helfen", sagte die Weide. „Was kann ich denn für Dich tun" fragte sie Holler. „Eigentlich nichts", antwortete er, „ich muss nur laufen können" ergänzte er, „damit ich Hilfe holen kann". „Nun ja, Laufen kann ich ja schlecht", stellte die Weide fest, „aber vielleicht kannst DU ja fliegen?" „Fliegen?" fragte Holler irritiert. Wie soll ich denn fliegen können?
„Das ist ganz einfach" sagte die Weide. „Wir hier im Wald dürfen jedes Jahr eine Fee auswählen, die unseren Wald beschützt. Die auf die Pflanzen und Tiere aufpasst, und die sich um die Kranken und Verletzten kümmert, das wäre doch genau das Richtige für Dich". Die Weide war fast überschwänglich, und versuchte, Holler davon zu überzeugen, dass er genau der Richtige wäre für diesen Job.
„Ich? Eine Wald-Fee?" fragte Holler fast lachend. „Also, eine Wald-Fee stell ich mir aber anders vor" bemerkte er, und musste immer noch schmunzeln.
„Wie soll denn eine Fee aussehen?" fragte die Weide. „Wer bestimmt denn, wie eine Fee auszusehen hat?" „Wichtig ist doch nur, dass diese Fee anderen hilft, sich für das Gute einsetzt, und nicht, wie sie aussieht" entgegnete die Weide, und war fast beleidigt. „Hast ja Recht" beschwichtigte Holler, aber komisch ist es schon.
Trotzdem, die Weide war nicht von ihrem Vorhaben abzubringen. Nach einer kurzen Beratung mit den anderen Bäumen des Waldes stand fest: Holler wird die neue Wald-Fee.
„Welche Ehre" befand Holler. „Hätte nicht gedacht, dass mir sowas mal passieren würde". „Nur fliegen kann ich nicht" bemerkte er. „Auch das werden wir noch hinbekommen." entgegnete ihm die Weide, ich hab da ein paar Freunde, die sowas können. Zieh erstmal Deine Arbeitskleidung an."
Holler fand ein hübsches, weißes Kleid, eine Art Stab, und ein Paar dieser Primaballerina-Schuhe in Weiß vor dem Stamm der Weide liegen.
"Und nun?" fragte Holler, und baute sich vor der Weide auf, indem er seine Arme in die Seiten stemmte. "Was nun?" wiederholte er, und klang ein wenig ungeduldig. "Hm, jetzt müsstest Du fliegen lernen" stellte die Weide fest, und schmunzelte ein wenig. "Du bist zwar ziemlich schwer, aber das bekommen wir schon hin" sagte sie, "denn schließlich bist Du eine Fee, und Feen können nun mal fliegen"
"Das möchte ich sehen" dachte sich Holler. Aber kaum hatte er den Gedanken gedacht, hörte er auch schon ein tiefes Summen und Surren aus der Ferne. "Was ist das denn?" fragte er die Weide. "Das sind meine Freunde, die werden dir beim fliegen lernen helfen" erklärte die Weide. Holler war sehr skeptisch, aber er war auch neugierig, also wartete er ab bis das surren und summen immer lauter wurde, und schließlich konnte er auch sehen, was da auf ihn zukam. Es war ein Schwarm, ein Bienenschwarm um ganz genau zu sein.
"Hallo zusammen" begrüßte die Weide den Schwarm. Und aus dem Durcheinander, das auf halber höhe vor der Weide und Holler schwebte, kam eine einzelne Biene heraus, und schien fast vor den Beiden in der Luft zu stehen. Die Arme vor der Brust verschränkt, und auf der Nase eine kleine Brille. "Guten Tag zusammen, hallo Weide und hallo...?" Die Biene stoppte, und sah zu Holler hinab. "Wer ist denn diese...komische Gestalt" fragte sie die Weide. "Das ist Holler, die neue Wald-Fee" "Der und eine Wald-Fee? Dass ich nicht lache" entgegnete die Biene. "Wo sind die langen goldenen Haare? Und wieso hat er ein Kissen unter dem Kleid?" Fragte die Biene. "Das ist kein Kissen, sondern ein Bauch, und dafür hab ich viel gearbeitet" antwortete Holler selbst.
"Aha, ein Bauch also" kicherte die Biene. "Ich bin Clara, und der Schwarm hinter mir ist meine Familie, es wäre wohl ein wenig übertrieben, wenn ich dir nun alle einzeln vorstellen würde" bemerkte Clara. Aus dem Schwarm ertönte ein lautes Stimmengewirr, ein durcheinander, aus dem man ein zig Faches Hallo, guten Tag und wie geht es raus hören konnte. "Wir werden Dir also helfen fliegen zu lernen" sagte Clara zu Holler. Das wird wohl nicht einfach werden, aber wie auch immer, versuchen wir es".
Der Schwarm kam immer näher, und als er Holler erreichte, fühlte er tausend kleine Berührungen, die seinen Körper umgaben. Tausend kleine Hände hielten ihn fest, und er fühlte sich, als ob er immer leichter würde. Ja, als ob er ....schweben würde. Und tatsächlich, die Bienen hoben ihn an, und Holler, dieser recht dicke, stattliche Mann, flog nun in einem Feen-Kleid, mit einem Zauberstab in der Hand, durch die Luft.
Eines schönen Tages, es war ein Sonntag, wachte Holler frühmorgens auf, weil die ersten Sonnenstrahlen seine Augen blendeten. Ein schöner Tag brach an, und Holler freute sich sehr darauf, wieder mit den Bienen zu fliegen, und sich den Rest des Tages mit der Weide zu unterhalten. Er liebte diese Unterhaltungen, und konnte ihr stundenlang zuhören, ohne etwas zu sagen.
"Lass uns fliegen" frohlockte Clara da auch schon, und wieder spürte Holler die tausend Hände, die ihn so leicht werden ließen, und zum schweben brachten. Er verabschiedete sich noch schnell von der Weide, und Clara setzte sich auf seine Schulter.
"Schwester, schauen sie, er hat die Augen geöffnet" rief die Frau aufgeregt, und mit zitternder Stimme. "Ich komme sofort" antwortete sie, und man hörte schnelle Schritte vom Flur her. Sie kam hinein, und fühlte sofort seinen Puls, überprüfte die Geräte und Schläuche, die um ihn herum hingen.
"Seine Augen sind offen" wiederholte die Frau noch einmal, und versuchte, irgendein Lebenszeichen in seinem Blick zu finden. "Die Werte sind normal, nicht anders als sonst", "und auch die Gehirnströme sind im normalen Bereich" ergänzte die Krankenschwester. "Die Augen zu öffnen ist bei Koma-Patienten nichts ungewöhnliches, es ist ein Reflex, und sieht meist erschreckend aus, fast könnte man meinen dass er wach wäre" erklärte sie der jetzt weinenden Frau.
"Aber er schaut mich doch an" erwiderte sie, "er schaut so wie früher, vor diesem schrecklichen Unfall mit dem Reh" "Bitte beruhigen sie sich, bitte" flehte die Krankenschwester eindringlich. "Wir tun alles nur erdenkliche, damit es ihrem Mann gut geht, glauben sie mir" fügte sie hinzu. "
"Ich danke ihnen, Schwester Clara, sie sind ein Engel" bedankte sich die Frau bei der Krankenschwester." Ich werde ihrem Mann nun eine Spritze geben, und glauben sie mir, dann wird es ihm gut gehen" "Dann können sie sich wieder mit ihrem Mann unterhalten, ihm Geschichten erzählen, ihm die Zeit vertreiben, er mag das, da bin ich mir sicher"
Schwester Clara nahm eine Spritze vom Tablett auf dem Tisch. Sie suchte eine Vene in Hollers Arm, wie sie es so oft tat seit seinem schrecklichen Unfall damals, als er das Reh nicht gesehen hatte. Seitdem lag Holler im Koma.
Und als sie die Spritze gesetzt hatte, da schloss Holler seine Augen wieder, und er fühlte die tausend kleinen Hände, die ihn fliegen ließen. Er fühlte sich frei, und flog umher. Ein schönes Gefühl.
Und während seine Frau ihm am Abend am Krankenbett von ihrem Tag berichtete, ihm erzählte, was sie erlebt hatte, da fühlte Holler wieder die Äste der Weide, die ihn beschützten. Und er konnte zufrieden und glücklich einschlafen.