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Horror vacui
Sie beide schlafen; eine Szene perfekter Harmonie. Ich stehe schweigend im Türrahmen und betrachte sie für fünf oder zehn Minuten – Zeit spielt keine Rolle mehr dieser Tage. Sie birgt keine Variablen, sondern ist monotone Konstante; was zählen noch Uhrzeiten. Einzig die Helligkeit wechselt, und man lernt, sich danach zu richten. Immer wenn sie schlafen, scheinen sie ein wunderbares Paar zu sein. Es gibt keine Diskussionen, keine verletzenden Worte, nur ihre entspannten Gesichter. Wie ich sagte, eine Szene perfekter Harmonie.
Ich trete hinaus und gehe die fünfzig Meter zum Strand. Ein leichter Geruch von Salz und Verfall liegt in der Luft. Es ist windstill, und bald wird es drückend heiß werden. Das Wasser ist wie immer, tiefblau, ruhig, endlos. Mit meinen Stiefeln türme ich kleine Sandhügel auf. Dann zertrample ich sie. Zurück im Bungalow putze ich meine Stiefel, nehme mein Gewehr und den Rucksack mit zwei Flaschen Wasser und einigen Müsliriegeln. Als ich aufbreche, schlafen sie immer noch, obwohl es bereits heller Tag ist.
Ich brauche dreißig Minuten bis zur nächsten Siedlung. Parke den Toyota vor dem kleinen örtlichen Laden, gehe hinein und sammle einige Dosen mit asiatischer Suppe und Würstchen, drei Flaschen Cola und zwei mit Havanna Rum. Dann gehe ich hinaus und sehe mich um. Keine vierzig Meter von mir entfernt starrt mich ein Straßenköter an. Die Stille des Mittags deckt uns zu wie ein schweres, warmes Laken. Ich starre zurück, regungslos. Nach einer Weile beginne ich, mit ihm zu reden, er aber dreht sich um und verschwindet zwischen zwei Häusern, deren Fenster mit Brettern vernagelt sind. Auf dem Weg zurück, an den geknickten Bäumen vorbei, in denen immer noch einige Plastiktüten und Kleidungsstücke hängen, drehe ich die CD voll auf und nehme kleine warme Schlücke aus der Rumflasche, doch das Gefühl von Taubheit bleibt.
Sie sind aufgestanden, als ich heimkehre. Sie steht in der kleinen Küche. Der Geruch von Suppe nebelt aus dem Topf. Immer wenn sie wach sind, ist der entspannte Ausdruck aus ihren Gesichtern verschwunden, ausgetauscht gegen eine subtile Anspannung, die besonders deutlich wird, wenn sie zusammen sind.
„Na“, begrüße ich sie, „wo ist er?“
„Versucht, zu jagen.“ Sie lächelt. „Hungrig?“
„Ja.“
Wir essen schweigend. Übrigens, fast jede Nacht habe ich dieselbe Art von Traum. Es fing fünf oder sechs Tage, nachdem die ganze Scheiße begonnen hatte, an. Es ist nicht direkt ein sexueller Traum, aber da gibt es immer ein Mädchen, meistens nicht einmal besonders hübsch, sie kommt näher und presst sich an mich. Ende. Ich beobachte einige Haarsträhnen, die am Schweiß ihrer Stirn kleben, und schlucke den Rest versalzener Suppe.
„Wir könnten mal ausgehen.“
„Was?“ Sie ist überrascht, lächelt aber noch immer.
„Wir könnten mal zusammen ausgehen“, wiederhole ich und fühle mich wie der dümmste Mann der Welt.
„Wir beide?“
„Jipp.“
„Wie du vielleicht weißt, bin ich mit Chris zusammen.“
„Ja, aber...“
„... und übrigens, Schlaumeier, gibt es nichts mehr zum Ausgehen, oder nicht?“
*
Ich habe sie angebettelt, Chris nichts davon zu erzählen. Ich habe ihr gesagt, wie einsam ich mich fühle, wie nutzlos. Sie schien es zu verstehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht doch redet. Frauen.
Chris ist ein lausiger Jäger. Als er am Abend heimkehrt, kurz vor Sonnenuntergang – er kommt immer spätestens zur Dämmerung heim – hat er wieder nichts geschossen, nicht einmal ein Kaninchen, obwohl man in letzter Zeit aufpassen muss, nicht über eines zu stolpern.
Sie ist am Strand, als er ankommt, und so setzen wir uns hinter das Haus, neben den Reifenstapel, schauen uns den Sonnenuntergang an, schlürfen Rum mit Cola und verfluchen das Fehlen von Eiswürfeln.
„Warum hast du Angst vor der Dunkelheit?“, frage ich.
„Keine Ahnung“, sagt er, „es macht mir einfach Angst. Du kannst nichts sehen, und dann all diese seltsamen Geräusche. Stell dir mal vor, du verläufst dich. Und all diese Tiere da draußen. Sie können dich sehen, aber du sie nicht. Grässlich.“
„Hm.“
Die nächsten Minuten sitzen wir in der Stille. Die Sonne ist wie ein schwerer roter Ball, der langsam ins Meer fällt. Als wäre das alles hier irgendein romantisches Postkartenmotiv. Es macht mich krank, irgendwie. Vielleicht habe ich es zu oft gesehen. In Momenten wie diesen vermisse ich Fernsehen.
„Was ist mit Laura?“
„Was soll sein?“ fragt er.
Natürlich habe ich das Gefühl, dass dies meine letzte Chance ist, aber verdammt, ich bin verzweifelt. Wenn sich Chris im Dunkeln verlaufen würde, er wüsste, dass es bald wieder Tag wird, doch was weiß ich schon? Im Moment zumindest, dass das Leben öfters wie ein französischer Film sein sollte.
„Es ist jetzt drei Monate her“, sage ich tonlos.
„Und?“
„Würdest du sie mir leihen, Chris?“
„Was?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Bist du verrückt?“ Pause. „Hast du sie gefragt?“
Ich bin wie erschüttert, betäubt, als hätte man mich in eine riesige Trommel gesetzt und draufgeschlagen. Was soll ich jetzt schon sagen?
„Hast du sie gefragt?“, wiederholt er, diesmal mit einem scharfen Unterton, scharf genug, um Mangos zu schneiden.
„Sie will nicht“, murmle ich endlich.
„Also. Fick dich.“ Er steht auf und geht ins Haus. Die Sonne ist weg, es wird dunkel.
*
Klar, dass die kommenden Tage nicht einfach sind. Natürlich haben sie über mich gesprochen. Nun scheinen sie, wenn sie überhaupt mit mir reden, immer etwas verschämt. Ich fühle mich schrecklich, wie eingepackt in Watte, getrennt vom wahren Leben, echten Emotionen.
Jede Nacht bleibe ich lange wach. Manchmal kann ich hören, wie sie miteinander schlafen. Zuerst hat es mir noch zugesetzt, wie immer, und so geht es seit drei Monaten. Aber in dieser Nacht stelle ich mir vor, wie wir beide es tun. Wie ihr nackter Körper vor mir liegt. Chris macht kein Geräusch, nur sie, und das macht die Dinge einfacher für meine Phantasie und mich.
*
Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, aber an dem Abend, bevor Chris mir sagte, dass sie weiterziehen würden, lag ich neben dem Reifenstapel, starrte in den Horizont, hörte der Brandung zu und hatte einen seltsamen Tagtraum. Ich erinnerte mich an einen schrägen alten Western, den ich mal gesehen hatte. Es muss schon ein paar Jahre her sein, und ich kann wirklich nicht sagen, warum ich darauf kam. Da waren zwei Cowboys, und wie immer wollten sie herausfinden, wer von ihnen beiden der bessere Schütze ist. Der erste warf eine Kartoffel in die Luft, zog seinen Colt und schoss mitten hindurch. Der andere spaltete eine mit zwei oder drei Schüssen sauber in zwei Hälften. So ging es weiter, sie warfen Kartoffeln hinter ihren Rücken und trafen gleich mehrere, ohne hinzusehen. Es war eine schräge Szene, wie ich schon sagte, aber sie schien ernst gemeint, gedreht ohne jeden Sinn für Humor.
Plötzlich war ich einer der Cowboys, und Chris war der andere. Ich war an der Reihe, die nächste Kartoffel zu werfen, aber ich wusste, dass mein Können an seine Grenzen gestoßen war. Also nahm ich die nächste Knolle, warf sie hoch in die Luft. Ich erinnere mich an Chris Gesicht, er stand mir gegenüber und begutachtete mein Kunststück, aber ich zog bloß den Colt und zielte auf seine Brust. Er wirkte überrascht, als ich schoss. Die Kartoffel fiel mir vor die Füße.
Wir stehen vor dem Haus. Er sagt, dass wir fertig sind, dass sie es jetzt allein versuchen, wo genau, wüssten sie noch nicht. Die Vorstellung bald völlig allein zu sein trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. „Ok“, kriege ich heraus. Und, nach einem Augenblick: „Ihr könnt den Pick-up haben, wenn du mitkommst, in der Stadt einen anderen Wagen holen.“
Er scheint darüber nachzudenken.
„Nach allem, was wir durchgemacht haben“, ergänze ich.
Er wirft einen Blick zurück zum Haus, wo Laura noch schläft.
„Ich denke, das bin ich dir schuldig“, sagt er schließlich.
Als wir zum Pick-up gehen schaue ich in den Himmel. Er ist leer wie immer. In den letzten drei Monaten hat ihn nicht ein Kondensstreifen zerkratzt. Zweimal haben wir den Reifenstapel angezündet, weil wir Lichter am Horizont sahen. Oder glaubten, zu sehen. Der Geruch hing tagelang über allem, zog bis ins Haus und nahm uns den Appetit. Inzwischen halten wir nur noch sporadisch Wache am Strand.
Ich kann den Gedanken nicht ertragen, alleine unter diesem leeren toten Himmel zu sein. Diese Aussicht lastet auf mir, sie macht mir Angst, sie macht mir richtige Angst. Als wir einsteigen, werfen wir beide einen Blick auf die Ladefläche, wo unsere Rucksäcke und Gewehre liegen.
Auf halbem Weg halten wir, Chris muss pissen. „Bleib ruhig sitzen“, sagt er, steigt aus, legt sein Gewehr über die Schulter, geht ein paar Meter und pinkelt an eine geknickte alte Pinie.
Als er wieder einsteigt, frage ich ihn, wozu er sein Gewehr mitgenommen hat. „Wegen der Schlangen“, sagt er schläfrig. Wegen der Schlangen. Wir schweigen den Rest der Fahrt.
*
Ich kehre gegen Mittag wieder, mit etwas Wasser und einer Handvoll geschmolzener Schokoriegel. Sie steht vor dem Bungalow, ihr Gesicht angespannter als sonst.
„Wo ist er?“, fragt sie trocken.
Ich zucke die Schultern. „Vielleicht jagen?“
„Er hat nichts gesagt“, antwortet sie, den Tränen nahe.
Ich sammle all meine Abgeklärtheit, versuche zu lächeln, ruhig zu bleiben, sage, entspannt wie nur möglich: „Keine Sorge, er wird zurück sein, bevor es dunkel wird.“