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Serie Horsdorp an der Wuemme Geschichten: Polonaise

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21.01.2003
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Horsdorp an der Wuemme Geschichten: Polonaise

Am Abend hingen dunkle Wolken über Horsdorp an der Wümme, und ein heftiger Sturm zerzauste die Kronen der Kastanienbäume beiderseits der Dorfstraße. Blitze zuckten. Für einen Moment sah man die Apotheke sowie die ausgestellten Wagen des Autohändlers. Regen prasselte auf das Kopfsteinpflaster, trommelte auf das Dach eines Wagens, der langsam auf den Parkplatz des Gasthofes fuhr.
Heinrich Böckler brauchte eine Weile, bevor er eine Parklücke fand. Vor dem Eingang des Roten Ochsen studierte er die ausgehängte Speisekarte, öffnete die Tür und trat in den Eingangsflur. Böckler blickte nach links auf die rustikale Holztür. Dort ging es zur Gaststube. Von rechts hörte er Stimmengewirr und Gelächter. Dort war der Festsaal.
Böckler betrat das Lokal und sah sich um, auf die blankgeputzte Theke mit ihren Zapfhähnen, dem rundlichen Wirt dahinter, blickte zum Stammtisch, sah, wie eine Frau mit einem Tablett voller Biergläser zwischen den Tischen herumwieselte. Er setzte sich auf eine Holzbank an der Wand, rückte sich den Tisch zurecht, wartete geduldig auf die Bedienung. Am Stammtisch saßen drei ältere Männer vor ihrem Pils und unterhielten sich. Einen Tisch weiter alberten einige Jungen und Mädchen herum. Böckler orderte Pfeffersteak und Bier.
Die Tür zur Gaststube öffnete sich. Ein älteres Ehepaar und eine junge Frau kamen herein.
“Sind die Plätze noch frei?”
Böckler schreckte auf. Die Leute standen vor seinem Tisch und blickten ihn fragend an.
“Bitte sehr.”
“Ein furchtbares Wetter,” meinte der Mann. “Gebt mir Eure Mäntel,” forderte er die beiden Frauen auf und zog seinen Trenchcoat aus. Während er nach einem Haken suchte, nahmen die beiden Frauen umständlich Platz, blickten ihn freundlich an und fingen an sich zu unterhalten. Böckler machte sich über das Essen her. Sie redeten von ihrer Tante Hilde.
“Oh, das sieht ja gut aus. Wie heißt das, was Sie da essen?”
“Pfeffersteak.”
“Komm, Anna, das bestellen wir auch,” meinte der Mann.
Sie blickten ihn noch eine Weile freundlich und fragend an, dann führten sie ihre Unterhaltung fort.
Die junge Frau hatte ein rundes Mopsgesicht und lachte viel. Der alte Herr wirkte reichlich verknittert und blickte hin und wieder durch die kleinen Brillengläser zu Böckler herüber. Der schräge Windsorknoten hing windschief mit der dunkelbraunen Krawatte an seinem Hemd. Seine Frau hatte das gleiche Faltenensemble im Gesicht.
Ihr Mann räusperte sich.
“Entschuldigen Sie. Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Arbeiten Sie in der neuen Fabrik?”
Böckler sah von seinem Steak hoch. “Ja.”
“Das ist ja hochinteressant. Ich habe gehört, es ist eine Schiffsfabrik. Eine Schiffswerft an der Wümme, das hat es bisher noch nicht gegeben. Die Wümme muss dann aber kräftig ausgebaggert werden.”
“Aber Egon, es ist keine Schiffsfabrik, sondern eine Chipsfabrik.” Seine Frau schüttelte den Kopf. “Sie machen Kartoffelchips. – Also ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Unsere gute deutsche Küche wird dadurch immer mehr verhunzt.”
“Ich glaube, es handelt sich um Computerchips, nicht wahr? Soweit ich weiß, ist es eine neue Generation…”
“Was ist denn das schon wieder, Karin,” fiel ihr der Alte ins Wort. “Lass doch den Herrn sein Steak essen.”
“Die junge Dame hat recht,” erwiderte Böckler. “Wir produzieren Computerchips der neuesten Generation und stellen sie mit Fotolitographie her. In unserem Forschungslabor arbeiten wir jedoch bereits an der Extremen Ultravioletten Litographie.”
“Davon verstehe ich nichts. Ich habe früher im Postamt gearbeitet, und meine Frau im Kaufhaus von Duenkelskirchen, in der Abteilung für Damenunterwäsche.”
“Also Extreme Ultraviolette Litographie kann milliarden Transistoren auf einem Chip unterbringen. Sie arbeitet mit einer Wellenlänge von 13 Nanometern, das sind dreizehnmilliardelstel Meter. EUV kann Transistoren mit einer Weite von 40 Atomen auf den Chip drucken.
Wir folgen damit Moore’s Gesetz, das besagt, alle achtzehn Monate verdoppelt sich die Anzahl der Transistoren auf einem Mikrochip. 1972 waren es noch 3.500 Transistoren, dann 1974 6.000, 1978 29.000, 1982 ….”
“Ah, da kommt ja unser Steak,” rief Egon. Die Bedienung und ein weiterer Kellner schoben einen Wagen mit Pfeffersteaks, Beilagen und Getränken herani.
“Lassen Sie es sich gut schmecken,” meinte Böckler .
“Danke,” erwiderte Egon. “War ja alles sehr interessant, was Sie uns erzählt haben, nur habe ich überhaupt nichts davon verstanden. Unsere Tochter Karin kennt sich da besser aus. Stimmt doch Karin, oder? Sie hat studiert und besitzt die Apotheke hier am Ort. Wenn Ihnen der Kopf schmerzt bei all Ihrer Forschertätigkeit, sind Sie bei meiner Tochter gut aufgehoben.”
“Nun,” meinte die junge Frau und lud sich ein paar Kartoffen auf den Teller, “ich besitze einen PC und habe Internetanschluss. Das ist schon alles.”
“Die Anzahl der Funktionen auf dem Chip sowie die Geschwindigkeit verdoppeln sich mit jeder neuen Chipgeneration. Es wird jedoch nicht mehr lange dauern, dann stoßen wir an physikalische Grenzen und müssen uns etwas anderes einfallen lassen.
Extreme Ultraviolette Litographie arbeitet im Gegensatz zur konventionellen Fotolitographie mit Masken und Linsen, die aus Spiegeln bestehen. Bei dreizehn Nanometern würden althergebrachte Glasmasken und Linsen die Wellen absorbieren. Wir erzeugen ein Plasma….”
Böckler wurde plötzlich gewahr, dass die drei an seinem Tisch sich schon wieder über Tante Hilda unterhielten. Hin und wieder streifte ihn ein spöttischer Blick der jungen Frau. Er setzte sein Bierglas an und trank einen kräftigen Schluck. Dann lehnte er sich müde zurück und blickte stumm auf den Wirt, der ein Pils nach dem anderen zapfte. Der Kellner nahm das volle Tablett und verschwand damit durch die Eingangstür.
Bevor die sich schließen konnte, wurde es laut. Eine dicke Frau brach hervor. Sie lächelte verzückt und schwenkte die Arme über dem Kopf, zog einen Tross von Leuten hinter sich her, als sie um die Tische herumwalzte. Jeder von ihnen hatte seine Hände auf die Schultern des Vordermannes gelegt. Mit Musik wäre es eine Polonaise, ohne sie wirkte es wie Pantomime.
“Komm, wir machen da mit,” rief Karin, sprang auf und zog Böckler mit sich. Der wandte sich noch einmal um, warf fünfzig Euro auf den Tisch.
“Bezahlen Sie für mich!” rief er dem alten Ehepaar zu und lief hinter den Leuten her, um den Anschluss nicht zu verpassen. Die hatten sich inzwischen wieder aus der Gaststube über den Flur in den Festsaal bewegt. Nun hörte er Musik, einen Marsch. Leute an den Tischen klatschten im Takt. Böcklers Hände ruhten auf Karins gepolsterten Schultern. Die Menschenschlange trabte noch an einigen Tischen vorbei, dann verstummte die Musik. Verschwitzt gingen die Leute zu ihren Tischen zurück.
“Kommen Sie, setzen wir uns hin. Wie heißen Sie eigentlich?”
“Tut mir leid. Habe vergessen mich vorzustellen. Heinrich Böckler. Und Sie sind die Karin, nicht wahr?”
“Richtig. Ich darf also Heinrich zu Ihnen sagen?”
“Na klar doch. Bei uns in der Forschung und Entwicklung duzen wir uns alle. Wir versuchen gerade die Fehler beim Chipdruck ausfindig zu machen, auch wenn sie nur eine Verzerrung von 50 Nanometern ausmachen. Das ist, als wenn man einen Korbball in einem Staat von der Größe Texas suchen würde.”
Böckler wurde erst jetzt gewahr, dass ein dicker, verschwitzter Mann vor ihrem Tisch stand und Karin zum Tanz aufforderte. Schon stand sie auf und war unter den Tanzenden verschwunden.
Der Kellner kam und Böckler bestellte zwei Bier. Er saß allein am Tisch und sah sich um. Zwei Tische von ihm entfernt saß eine Frau, die alles hatte, was ein Männerherz höher schlagen ließ: eine blendende Figur, ein interessantes Gesicht, ein tief ausgeschnittenes, langes Kleid und einen besoffenen Ehemann.
Böckler hörte, wie sie verzweifelt auf ihren Mann einredete.
“Komm Karl. Lass uns nach Hause fahren. Du bist betrunken.”
“Was hast du denn, Lisa. Solange ich noch Alumiiiiiiiiiinumfolie wie Alumiiiiiiiiiinumfolie aussprechen kann, bin ich nüchtern. Ober nochn Bier, aber dalli!” Sein Kopf fiel auf den Tisch, und er fing an zu schnarchen.
Hilfesuchend blickte die Frau zu Böckler herüber, der sich wie hypnotisiert erhob und auf sie zusteuerte.
“Möchten Sie tanzen?”
Ohne einen Blick von ihm zu lassen, stand sie auf. Das rote, enge Kleid straffte sich über ihrer Figur. Ihr Parfum machte ihn benommen. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg in die tanzende Menge. Es war ein langsamer Tanz.
Als der Tanz zu Ende war, standen sie auf der Tanzfläche, sagten kein Wort, blickten sich an. Die Zeit schien stehengeblieben. Er wollte sie umarmen, sie küssen, wusste, sie hatte den gleichen Wunsch. Es geht nicht, vielleicht ist sie hier im Dorf bekannt? Und was ist mit ihrem Mann? Hat er Freunde hier?
Musik setzte ein. Die Kapelle spielte wieder etwas Langsames. Die Frau drängte sich eng an ihn.
“Ich bin zum ersten Mal hier. Kommen Sie und Ihr Mann öfters hierher?”
“Ja, fast jeden Sonnabend. Mein Mann will sich hier amüsieren. Das Ergebnis sehen Sie.”
Sie deutete mit dem Kopf zum Tisch, an dem ihr Mann vor sich hin schnarchte.
“Passiert das öfter?”
“Früher war es selten, neuerdings immer häufiger. Der Autohandel läuft nicht mehr so gut wie früher. Doch was reden wir über meinen Mann. Erzählen Sie etwas von sich.”
Die Frau legte ihren Kopf an seine Schulter, drängte sich noch enger an ihn und schloss die Augen.
“Ich bin in der Forschung und Entwicklung tätig, arbeite an der neuesten Generation von Computerchips, der Extremen Ultravioletten Litographie. Stellen Sie sich vor, im Gegensatz zur gängigen Methode, der Fotolitographie, die noch mit 248 Nanometern arbeitet, erreichen wir mit der EUV 13 Nanometer. Das ist eine Herausforderung….”
“Kommen Sie, Sie kleiner Litograph, kommen Sie mit mir auf die Terasse.”
Es fiel in dem Durcheinander nicht auf, als sie Böckler an die Hand nahm und mit ihm durch eine Seitentür verschwand. Nur Karin, die allein am Tisch saß, hatte es gesehen. Sie, die so gern lachte, spürte, wie ihr die gute Laune abhanden kam. Wütend stand sie auf und ging zu ihren Eltern zurück.
Nach einer weiteren Tür standen Böckler und die Frau auf der überdachten Terrasse. Der Wind heulte um das Gebäude, Äste klatschten gegen die Aussenwände und der Regen prasselte auf das Dach. Tropfen zerstoben und sprühten sie ein. Die Frau setzte sich auf die Brüstung, umklammerte Böckler mit ihren Beinen und machte sich stöhnend an seiner Kleidung zu schaffen.
Es klappt nicht. Böckler war sich sicher, es würde auch diesmal nicht funktionieren. Noch nie hat es mit einer schönen Frau funktioniert. Mit allen anderen gab es keine Probleme. Es ist zum Heulen.
“Tut mir leid, es klappt einfach nicht. Sie sind zu schön.”
“Das ist doch mal eine andere Ausrede. Aber was solls. Mit meinem Mann läuft es schon seit Jahren nicht mehr. Lassen Sie uns wieder in den Saal gehen.”

Einige Monate später waren Karin und Böckler verheiratet. Böckler hatte seinen Vertrag mit der Chipfabrik gekündigt und half in Karins Apotheke aus, indem er seiner Kundschaft die molekulare Zusammensetzung sowie die Nebenwirkungen der verschriebenen Mittel erklärte. Den Kunden brummte der Kopf, wenn sie die Apotheke verließen und ihr Kopfschmerzmittelkonsum stieg um ein Beträchtliches. Die Chipfirma hingegen machte Milliarden Verluste, da sie ohne ihn die Extreme Ultraviolette Litographie nicht in der geforderten Zeit fehlerfrei entwickeln konnte. So machte ein Konkurrent im Ausland das Rennen.
Kinder kamen wie die Orgelpfeifen. Sie hatten Mopsgesichter und lachten viel.
Während seine Frau die Kinder hütete, vertrat Böckler sie, die Apothekerin, jeden Abend am Stammtisch. Er saß vor seinem Pils, machte Lokalpolitik und erörterte die große Weltlage, soweit es der Bierkonsum zuließ. Und er bekam mit, wenn im Festsaal etwas los war. Bevor es mit der Polonaise losging, nahm er eine Viagra. Dann reihte er sich, gebührenden Abstand haltend, in die Schlange ein, ohne den Autohändler und dessen Frau aus dem Auge zu verlieren. Die Frau war über die Jahre hinweg noch attraktiver geworden. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn, und er war jedesmal frustriert, wenn er sah, wie der Kellner für beide Organgensaft brachte, wobei sie ihm spöttisch zulächelte. Das ging nun schon einige Jahre so. Das kann nicht gut gehen, das hält ihr Mann nicht durch, dachte Böckler jedesmal erneut und fieberte dem nächsten Samstag entgegen.

 

Hallo Claudio!

Herzlich Willkommen hier! :)

Deine Geschichte ist sehr schön flüssig geschrieben und angenehm zu lesen, ohne Holperstellen.

Beim Inhalt bin ich mir allerdings nicht ganz im klaren, wo Heinrich eigentlich hin will. Am Anfang habe ich den Eindruck, er will nur seine Ruhe, danach geht er mit Fachsimpelei, die ihm sehr wichtig zu sein scheint, allen auf die Nerven, danach will er Karin, danach die Frau des Autohändlers, dann heiratet er Karin, kündigt (obwohl ihm sein Job vorher sehr wichtig zu sein schien), will aber dennoch die Fau des Autohädlers... mir fehlt irgendwie ein roter Faden.

Du beschreibst einiges sehr detailliert, andererseits erfährt der Leser nichts über die Ziele von Heinrich, seine Gedanken und Gefühle, seine Motivation. Das geht mir persöhnlich etwas ab....

schöne Grüße, Anne

 

Anne,
Vielen Dank fuer den Kommentar.
>Beim Inhalt bin ich mir allerdings nicht ganz im klaren, wo Heinrich eigentlich hin will.

Es ist eine Erzaehlung ohne Tiefgang. Ich hatte sie als Momentaufnahme gedacht, in der er nicht ueber seine Ziele philosophiert, sondern sich den Ereignissen aussetzt. Ich hoffe, es ist sichtbar geworden: er ist ein Fachidiot. Der Nachspann sollte dann darueber Auskunft geben, wie es mit ihm weiterging. Nach dem Motto: 'Wie das Leben so spielt'.

Gruss,

 

Ja, ein Fachidiot, wie dein Protagonist Otto in deiner Geschichte "Der Astronom". ;)

Schöne kurzweilige Geschichte, die zwar nicht unbedingt einen tieferen Sinn hat, aber das stört nicht.
Gut gelungen ist dir wieder mal das Lokalkolorit. Ich hatte das Gefühl direkt in dieser Gaststätte zu sitzen.

Amüsant fand ich die Darstellung, dass er die Hoffnung nicht aufgegeben hat, sich mit der Dame seiner Begierde eine nettes Schäferstündchen zu gönnen. Manche Männer sind doch von einer beeindruckend stoischen Sturheit. :lol:

Lieben Gruß
lakita

 

Lakita,
Danke fuer die Anmerkungen. Ich habe gerade meine
'Fehlleitung' reingestellt. Ja, die Fachidiotie beziehe ich meist aus dem 'Scientific American' <g>.

Beste Gruesse,

Claudio

 

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