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Hula Hoop und das Ende einer Liebschaft

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02.09.2010
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Hula Hoop und das Ende einer Liebschaft

Hula Hoop und das Ende einer Liebschaft

In einem afrikanischen Dorf, dessen Name unmöglich genannt werden kann, ohne es dadurch zu zerstören, sehnte sich bereits eines der Mädchen nach der Schauspieltruppe aus dem fernen Europa, wenn diese ihre Abschiedsvorstellung gab. Jedes Frühjahr tauchten die Theaterleute auf in der Mitte einer mondlosen Nacht. Der Motor des klapprigen Busses heulte dann in die Schwärze. Es gab kein Geräusch, das jenes Mädchen glücklicher machte, nicht das Geplätscher eines Regens, der die glühende Hitze verdampfte, nicht das seit Abuus Tod so seltene Lachen ihrer Mutter Abeo.
Die Sehnsuchtsvolle war Abuus einziges Kind, jedenfalls in dem Dorf, in welchem sie lebte. Als Abeo mit ihr niederkommen sollte, schienen die Schmerzen unerträglich. Eine Alte knetete den spitzen Bauch, der aus der zierlichen Abeo herausragte wie eine Pyramide, und der Magier tanzte kreischend um sie herum. Abeo fiel in Ohnmacht und alle schrien, sie stirbt, sie stirbt. Doch dann schlug Abeo plötzlich die Augen auf, schnellte auf die dünnen Beine und begann wild die Hüften zu kreisen, als gelte es einen Holzreifen in Schwingung zu halten, immer zu, immer zu, bis etwas unsanft auf den Boden plumpste. Die Alte schnitt die Nabelschnur durch, begutachtete das verknitterte Ding und meinte enttäuscht, es sei ein Mädchen. Abuus Backen blähten sich vor Stolz und er nahm die Tochter sanft in die Hände. Auf dem Weg zum Brunnen verkündete lautes Geplärre, man sei durchaus gesund und müsse nicht behandelt werden wie rohe Eier, und so wusch er dem Säugling Geburtsgrütze und Staub vom Leib, indem er ihn mehrmals unter Wasser tauchte. Dabei wiederholte er feierlich: "Ich nenne dich Hula Hoop".
Hula Hoop konnte sich kaum an den Vater erinnern. Sie war erst vier als er starb. Und doch schien sie ihn gut zu kennen, denn jeder im Dorf sprach unentwegt von ihm. Abuu war ihr König, ihr Gott. Und sie verehrten ihn aus einem triftigen Grund, sie verdankten Abuu ein angenehmes Leben. Das kam so:

Abuus Vater Abraha hatte mit dem einzigen Kamel des Dorfes Waren in die Stadt gebracht. Masken, die er schnitzte, Decken, welche die Schwester webte und Krüge, die der Cousin in einem Ofen brannte. Jeden Monat musste er die beschwerliche Reise unternehmen, damit die Familie nicht verhungerte. Auf dem Markt lauschte er aufmerksam, was die Leute so redeten, um es zu Hause zu erzählen. Viel verstand er allerdings nicht. In der Stadt sprach man Suaheli, Hausa, Kongo, Zulu, Jabo, Shona und Yoruba, mitsamt deren tausend Dialekten, alle durcheinander.
"Eins steht fest", sagte Abraha eines Abends zum kleinen Abuu, der beim Schnitzen half, "etwas hab ich begriffen, alle reden sie von diesen fernen Ländern. Spanien, Frankreich, Deutschland, England. Wer dort lebe, den plage nie ein hungriger Bauch. Wie man dorthin kommt, habe ich nicht herausgefunden. Für das Kamel ist es eh zu weit. Und Geld für die Busse, die aus der Stadt Richtung Norden fahren, haben wir keins."
"Nimm mich mit auf den Markt", bettelte Abuu.
"Bist du verrückt, das Kamel ist schon mit mir und den Sachen überladen."
"Dann laufe ich", entgegnete Abuu.
"Mit deinen Streichholzbeinchen?", lachte der Vater.

Als Abraha eines Tages im Gewühl des Marktes knieend die gefertigten Dinge auf einem Tuch ausbreitete, staunte er nicht schlecht. Abuu zupfte ihn am Ohr, blickte ihn aus müden Augen an und erbot sich, zu helfen. Drei Tage und zwei Nächte war der Kleine ihm heimlich gefolgt. Abraha blieb keine Zeit zu schimpfen, denn ein Dicker fragte:
"Was willst du für die Masken?"
"Was du mir gibst", antwortete Abraha.
"Na, ein guter Händler bist du nicht, doch du hast Glück, ich bin kein Geizkragen. Schlag sie alle in das Tuch ein. Dein Sohn, soll sie ins Hotel tragen."
"Das mache ich lieber selbst. Abuu ist kaputter als das alte Kamel und die Beulen an seinen Füßen sind größer als dessen Höcker."
"Warum das?", frage der Dicke.
Und Abraha erklärte, wie weit entfernt sein Dorf lag.
"Na, dann wird er die paar Meter auch noch schaffen", brummte der Dicke. "Im Hotel kann er mit Reis und Huhn die Luft aus dem Blähbauch vertreiben. Mein Zimmer hat zwei Matratzen, Ventilator und Mückennetz. Bei Sonnenaufgang hast du ihn wieder."

Abuu trug also dem Dicken die Sachen hinterher. Am Morgen kam er jedoch nicht zurück und auch nicht am nächsten und übernächsten. Abraha bekam Angst und er lief jede Gasse hundert Mal ab, schlich sich in Häuser, durchwühlte Müllberge, öffnete Kaffee-, Reis- und Kartoffelsäcke, bis man ihn verhaften wollte. Da gab er auf und kehrte ins Dorf zurück. Er war zum ersten Mal froh, dass die Frau nicht mehr lebte, sie hätte ihn erschlagen.

Die Jahre vergingen. Abrahas Haut glich der eines Elefanten. In tiefen Rissen versickerte der ewige strömende Schweiß. Die Zähne fielen aus, was wenig störte, da es eh fast nichts zu Beißen gab. Der Rücken war vom Schnitzen krumm geworden, er hob kaum mehr den Kopf. Schon lange brachte der Nachbar die Masken und andere Waren zur Stadt.
Eines Nachmittags kniff ihm jemand ins Ohr. Es war Abuu, der Vater erkannte den verloren Sohn sofort. Das ganze Dorf lief zusammen, als sie den Freudenschrei hörten.
Bis lange nach Mitternacht lauschten drei Dutzend Menschen begierig den Geschichten. Es waren hunderte Erlebnisse und Erfahrungen und jedesmal markierte Abuu das Ende einer Episode mit dem Satz:
"Nein, ein Paradies ist Europa nicht."
Hätte ein Fremder zufällig aus der Ferne die Szene beobachtet, er hätte Abuu vermutlich für einen Priester und die Dorfbewohner für dessen Gemeinde gehalten. Im Chor wiederholten sie:
"Nein, ein Paradies ist Europa nicht."

"Du bist also dort nicht reich geworden", sagte enttäuscht die schöne Abeo. "Nicht mal ein Radio hast du mitgebracht."
"Nein", erwiderte Abuu, dessen Blicke sie beim Erzählen gestreichelt hatten.
"Aber ich habe trotzdem ein Geschenk für dich. Eine Medaille."
"Ist dies das olivische Geld, das du bei diesem Herrn Maradon verdientest?", fragte Abeo und rief: "Es ist ja gar nicht grün, sondern gelber als Mais".
"Weiber", stöhnte Abuus Vater, "das heißt nicht Maradon, sondern Marathon und nicht olivisches Geld, vielmehr olympisches Gold."
"Wie soll sich das einer merken", gab Abeo beleidigt zurück, "all diese Wörter, die ich noch nie vernommen habe."
"Willst du meine Frau sein?", fragte Abuu.
"Das muss ich überlegen", antwortete die Schöne. "Niemals habe ich einen Mensch getroffen, der so viel redet. Ob du mich auch mit Arbeit unterhalten kannst? Und Angst macht mir, wenn du von deinem Herzen sprichst, es sei zu groß. Ich mag es nicht mit andern Frauen teilen."
"Dummkopf", zischte Abraha, "er meint ein Sportlerherz, er muss sich täglich bewegen, sonst stirbt er wie ein vollgefressenes Fohlen an Kolik."
Abuu hing an der schönen Abeo und deshalb am Leben. Jeden Morgen rannte er meilenweit durch die karge Landschaft. Einmal vergaß er die Zeit und lief in den Sonnenuntergang. Im Feuerlicht entdeckte er ein saftiges Grün. Wo Schilf ist, musste es Wasser geben. Welch herrlicher Bach! So klar, so kühl. Abuu schlürfte und schmatze und schlief glücklich ein. Am Morgen nahm er ein Bad. Und da sah er, wie es golden blitzte. Das war kein Katzengold, nein große Nuggets hielt er in den Händen. Er fertigte aus Schilf ein Körbchen und füllte es schnell.
Am Abend berief er die Dorfversammlung beim Baobabbaum ein.
"Ich habe ein Geheimnis, wenn ich es euch es verrate und ihr nicht dicht haltet, werden Tausende kommen, vielleicht werden sie uns töten, in jedem Fall uns bestehlen. Ist euch euer Leben lieb?"
"Es geht so", sagte eine Alte, "ich habe elenden Hunger. Und wem sollten wir schon was erzählen? Hierher verirrt sich keiner und wir sitzen im Dorf wie festgenagelt."
"Mir wächst das Geschwulst über die Augen, bald bin ich blind", klagte eine Junge.
Und dann redeten alle durcheinander
"Ich gäbe mein Leben für ein Paar Schuhe."
"Und ich für einen Eiswürfelberg." ... .
"Ich möchte ein Kind", sagte Abeo.

Abuu nahm ein Messer zur Hand und fuchtelte damit herum, bis sie verstummten.
"In unseren alten Baobab ritze ich eure Wünsche. Überlegt gut, denn was hier nicht steht, könnt ihr auch in Zukunft nicht fordern. Es sollen Dinge sein, die ihr braucht, also wünscht keine Diamanten, Schönheit oder einen Palast. Das ist kein Spiel, seid ernst, besinnt euch. Weil ihr nicht lesen könnt, schnitze ich Symbole."
Im Morgengrauen war die Arbeit getan. Man fasste sich an den Händen und tanzte um den Baobab herum .
"Wir schwören, damit sind wir zufrieden. Ja, das schwören wir. Wir schweigen wie die Gräber. Ja, das schwören wir."

In der Nacht seufzte die schöne Abeo:
"Ich habe das Radio vergessen. Seit Jahren denke ich an nichts anderes. Und jetzt, da ich dem Gerät so nah war wie nie, habe ich es vermasselt. Mir ist davon ganz schlecht."
Neun Monate später ritzte Abuu neben das erste Zeichen auf dem Baobab den Namen Hula Hoop.

Hula Hoop wurde in eine glückliche Welt geboren. Es gab reichlich Essen, jeder hatte Schuhe und die Frauen Nähmaschinen für die feinen Stoffe aus der fernen Stadt. Es gab drei Brunnen, zwei Fahrräder und eine Eismaschine. Die Mückennetze wurden ersetzt, sobald sie Löcher hatten. War einer krank, wurde er mit dem Lastwagen ins Spital gebracht. Die Kinder vergnügten sich mit Bällen und anderem Spielzeug oder dösten in den bunten Hängematten. Abends trommelte man, spielte Marimba und tanzte.

Als Abuu von einer Schlange gebissen wurde, verlangte er nach dem Knaben Akil. Der war gewitzt und gelenkig. Von nun an holte Akil die Nuggets aus dem Bach, machte sie in der Stadt zu Geld, um Waren zu kaufen. Abraha begriff nicht, dass sein Sohn vor ihm gestorben war.
"Er war doch das blühende Leben, während ich fast mit der Nase den Boden berühre und meine Arme wie bei einem Affen auf dem Boden schleifen."

Die schöne Abeo weinte sich die Augen aus, kühlte die Schwellungen mit Eiswürfeln, nur um erneut zu heulen. Als Hula Hoop knapp zwölf Jahre war, wies die Mutter die Tränenflut in die Schranken der Nacht. Wenn Akil auf den Händen lief, die Beine verknotete oder heftig mit den Ohren wackelte und wenn die Tochter sie liebkoste, dann huschte gar ein Lächeln über Abeos Gesicht. Alle Männer im Dorf verehrten sie, keiner traute sich jedoch, ihr den Hof zu machen. Die Frau eines Gottes war Tabu.
"Meinst du nicht, wir sollten ihr ein Radio schenken?", fragte Akil Hula Hoop. Da schlug Abeo, die sich unbemerkt genähert hatte, ihm auf den Hinterkopf und schrie erbost:
"Wage es nicht, das Gesetz zu brechen!"
Die Dorfbewohner erschraken, als sie in der Nacht lautes Hupen vernahmen. Kein Fremder hatte sich je hierher verirrt. Kein Mensch, kein Soldat, kein Polizist, kein Missionar und kein Tourist. Schnell war alles auf den Beinen und Akil verteilte Fackeln, die Nacht war mondlos, zum Fürchten.
Zehn Menschen streckten rosa Gesichter aus den Fenstern eines Busses.
"Dämonen", schrien die Kinder.
"Nein, Europäer", sagten Abeo und Akil wie aus einem Munde.
"Sie haben größere Angst als wir", bemerkte Hula Hoop.
"Gebt ihnen Hirsebier", befahl Abraha.
Und so saß man wenig später mit den seltsamen Wesen am Feuer beim Baobab und schlürfte das goldene Getränk. Selbst den Kindern erlaubte man kleine Schlucke, damit sie sich beruhigten.
Eine große Dünne war die Anführerin, sie sprach ein wenig Suaheli. Abraha begriff hie und da ein Wort, Akil sogar ganze Sätze. Etwas verstanden allerdings alle. Immer wieder sagte die Frau mit den Feuerhaaren und den braunen Flecken im rosa Gesicht: Abuu, Abuu und dann laut und vernehmlich das Wort Liebling im Dialekt des Dorfes.
Abeo ergriff Abrahas Arm und zerrte an ihm.
"Von wegen Sportlerherz. Sie war da drinnen und hat es gedehnt."
"Unsinn", wehrte sich der Schwiegervater, der, weil er den Kopf nicht mehr heben konnte, auf die Füße des Weibes blickte.
"Niemals hat er sich in so was Häßliches verkuckt. Sie gleicht den Flusskrebsen die Akil uns vom Markt mitbringt, und ihr Blut ist ganz blau."
"Ja", stimmte Akil ihm zu, "sie sieht grässlich aus, sie hat gelbe Zähne und die Lippen sind nur ein Strich."
Hula Hoop dachte, vielleicht ist sie klug und kann Dinge, die wir nicht können. Sie wagte nicht zu sagen, sie finde die Fremde schön.
Die Gäste blieben sieben Tage. Jeden Abend führten sie ein Theaterstück auf. Der Bus wurde zur Garderobe und der Baobab war Teil der sich stets ändernden Kulisse. Nicht nur die Kinder lachten über seltsame Verkleidungen und Verrenkungen und die komische Sprache. Manchmal wurde es ganz still. Man begriff, da starb eine in den Armen ihres Mörders, der verzweifelt war, obgleich er doch schuldig.
Akil hatte die Rothaarige zu Abuus Grab geführt. Hula Hoop war ihnen gefolgt. Die Frau stand lange Zeit bewegungslos. Sie weinte nicht, doch berührte die linke Hand ihr Herz. Es war schwierig, das Gesicht der Fremden zu deuten. Es schien Hula Hoop nicht traurig, nicht entsetzt, vielmehr leer, als habe der tote Abuu der Frau den Glanz aus den Augen gestohlen. Die schmalen Lippen zitterten leicht. Wie anders ihr Ausdruck war, wenn sie spielte. Da gab es glasklaren Hass und Verachtung, Bosheit und Schalk, Zorn, Bettelei, Eifersucht und Verliebtheit. Hula Hoop blickte jetzt oft in den Spiegel und versuchte solcherlei Mienenspiel. Doch es kamen nur Grimassen dabei heraus.
Kaum waren die Gäste abgereist, erfüllte Hula Hoop Unmut und sie fing wegen jeder Kleinigkeit zu meckern an.
"Es ist zu heiß", beschwerte sie sich.
"Es ist immer zu heiß", sagte die Mutter.
"Die Hütte ist staubig", sagte Hula Hoop.
"Sie ist immer staubig", bemerkte Akil.
"Es ist stumpf", nörgelte sie, als sie dem Großvater, der nur noch zum Vergnügen schnitze, das Messer reichte.
"Nicht stumpfer als sonst", entgegnete Abraha.
Die Ziegenmilch schmeckte säuerlich, das Kamel roch schlecht, der Mond war fleckig wie ein Aussätziger, der Wind war bissig. Irgendwann waren alle der Mäkeleien überdrüssig und Akil herrschte Hula Hoop an:
"Die Dinge haben keine Schuld. Es liegt daran, dass du dich selbst nicht leiden kannst. Was ist bloß los mit dir?"
"Du hast gut reden. Ihr alle durftet eure Wünsche in den Baobab ritzen lassen. Nur ich nicht."
"Du warst nicht mal gezeugt!"
"Muss ich deshalb nach euren Gesetzen leben?"
"Lass sie in Ruhe", sagte Abeo sanft. "Ihre Rebellion wird sich legen."
"Nicht eher bis ich nach Europa reisen darf", schrie Hula Hoop.
Da riefen alle im Chor:
"Nein, ein Paradies ist Europa nicht."
Die Zornesfalte grub sich so tief in die Hula Hoops Stirn, dass sie noch tagelang zu sehen war.
"Ich verrate dir etwas", sagte Akil , der ihr Elend nicht länger ertrug. "Es sollte eine Überraschung sein. Du darfst zwar nicht nach Europa fahren, aber Europa kommt zu dir. Die Rothaarige versprach, jedes Jahr mit neuen Stücken anzureisen."

Helen saß in einem der Künstlercafés, rauchte Gitanes und blickte immer wieder auf die Armbanduhr. Endlich winkte Claude ihr von der Straße her zu. Er blieb kurz an einem der Tische stehn und Helen hörte, wie er sich mit dem kubanischen Saxophonisten in akzentfreiem Spanisch unterhielt. Zum Abschied wünschte er der blonden Freundin des Musikers auf Schwedisch eine schöne Zeit in Paris. Wie schön er ist und wie viele Sprachen er spricht, dachte Helen voller Stolz, aber auch ängstlich, ob sie ihn halten könne. Claude küsste sie auf die Wangen und rief herrisch nach dem Kellner. Vielleicht rührte diese Manier von den Zeiten, da er mit dem Urgroßvater in Togo von goldenen Tellern speiste, vielleicht wehrte er sich so gegen die Langsamkeit des Personals, ging es darum, Farbige zu bedienen.
"Bin ich eigentlich dein erster schwarzer lover?", fragte Claude flüsternd in Helens Ohr.
"Nein", sagte Helen auf Suaheli, um Eindruck zu machen. "Es gab da einen. Das ist lange her."
Claude verbesserte die Melodie der Sätze und lachte.
"Wie überheblich du bist", sagte sie.
"Wie schnell ihr Europäer beleidigt seid", gab Claude zurück. "Komm, schmoll nicht, erzähl!"
"Er wurde als Knabe hierher verschleppt. Ein Riesenlauftalent. Man sperrte ihn tags mit neun anderen in eine Wohnung ein, in eine der trostlosen Siedlungen am Stadtrand, um die Jungs nachts über die Aschenbahn zu scheuchen. Nach einem Jahr schickte der Trainer alle zurück nach Afrika. Nur Abuu sollte bleiben. Man erfand ihm ein Flüchtlingsdrama und er bekam einen französischen Pass. Mit kaum achtzehn Jahren nahm er an Marathonläufen teil. Er reiste quer durch Europa, vom Trainer bewacht wie von einem Schießhund.
Als meine Schauspieltruppe für ein paar Monate in Berlin gastierte, joggte ich allmorgendlich durch den Tiergarten. Einmal verknackste ich mir den Fuß und Abuu brachte mich nach Hause. Ich weiß nicht, warum ich mich verliebte. Er war viel zu dünn, sehr still, die Augen traurig. Er tunkte Brot in den Kaffee, schmatzte, schnarchte und kannte nur ein paar französische und englische Wörter. Im Bett war er ein Mann, ansonsten ein Kind. Vielleicht erweckte er in mir das Muttertier."
Claude strich Helen über den Arm.
"Na, auf mich wirkst du nicht so. Du hast nichts Gluckenhaftes."
"Jedenfalls reiste ich ihm nach, wann immer ich Zeit dazu hatte. Heute habe ich ein schlechtes Gewissen, denn nie dachte ich daran, ihn aus den Fängen dieses Trainerlumpen zu befreien. Vermutlich aus Angst, ihn am Hals zu haben. Er konnte ja nichts anderes als Laufen, besonders lukrativ ist das nicht. Manchmal schnitzte er übrigens Masken, leider keine große Kunst."
"Also doch kein wahrhaftes Muttertier", lachte Claude. "Du hast dich amüsiert."
"Als er plötzlich verschwunden war, vermisste ich ihn. Ein Läufer verriet, Abuu sei zurück in die Heimat. Da wurde mir klar, ich wusste nichts von ihm, nur, sein Dorf war sehr arm, lag irgendwo in der Pampa, nirgendwo ein Berg zu sehn. Keine sonderlich brauchbare Beschreibung.
Der Zufall wollte es, dass ein Kulturprogramm Gelder für unser Theater springen ließ. Einmal im Jahr spielten wir seither in einer afrikanischen Großstadt. Das Gebiet ringsum ist auffallend platt. Ich überzeugte die Truppe, wir sollten auch in die entlegenen Dörfer fahren. - Es gibt sehr viele Abuus."
Helen zündete eine Gitane an, lehnte sich zurück und schwieg.
"Hast du ihn gefunden?", fragte Claude ungeduldig und legte die Hand auf ihren Arm.
"Ja, sie haben mir sein Grab gezeigt", sagte Helen. "Erst war ich ganz und gar nicht sicher, denn das Dorf ist nicht so arm, wie Abuu es beschrieben hatte. Niemand hat dort aufgedunsene Bäuche, zu essen gibt es reichlich und recht gut, keine Ahnung wieso, denn die Felder geben fast nichts her und Tiere gibt es wenig. Die Frauen nähen aus schönen Stoffen Gewänder, doch offenbar nur für sich und die Sippe. Dann aber sah ich ein Mädchen, ihr Gesicht aus dem des Vaters gestohlen, die gleichen langen Hände, die schmalen Fesseln, die Zehen, die selbe Art, sich zu bewegen. Ständig starrte sie mich an. Ich sah, wie sie heimlich vor dem Spiegel mich nachzuahmen suchte. Als Schauspieler lernst du Gefühle zu lesen. Zwar kann ich mich nicht mit ihr unterhalten, doch weiß ich, sie sehnt sich nach nichts anderem, als mit mir zu kommen und so zu sein wie ich."
Claude zog seine Hand von Helens Arm zurück, als stehe der in Flammen. Er schaute auf seine teure Uhr.
"Ich muss weg", sagte er, stand auf und ging ohne Kuss und Erklärung.

 

begann sich eines der Mädchen nach der Schauspieltruppe aus dem fernen Europa bereits heftig zu sehnen
Es ist ja im Deutschen fast unmöglich einen Satzstellungsfehler zu machen – aber das ist ja furchtbar. :)
„begann“ und dann kommen WOAH zähl mal die Silben – sich eines der Mädchen nach der Schauspieltruppe aus dem fernen Europa – das sind ungefähr 20 Silben … maximal sieben sollten zwischen Verb-Anfang und Verb-Ende liegen. „Begann heftig zu sehnen“ Das darf nicht so weit auseinanderstehen.
Das lässt sich mit Satzumstellungen leicht erreichen. Einfach nur ein: „Sehnte sich eines der Mädchen“ wäre viel stärker und besser. „heftig“ … sehnen ist immer heftig. Das ist ein Wort wie lieben! Man sehnt sich nach etwas! Das geht nur heftig. Man kann an etwas denken, was vermissen, sich etwas wünschen – alles schwächere Ausgaben von „sehnen“.


<Eins steht fest>, sagte Abraha eines Abends zum kleinen Abuu,
AH! Was soll das? Das ist kein Anführungszeichen! Ascii-Code lernen für die französischen, wenn man sie unbedingt verwenden will. Aber nicht mit so was kommen. Sieht furchtbar aus.

Hmpf. Die Geschichte hat ein Haufen Potential, Culture-Clash, die verschiedenen Perspektiven, wie der etwas mitledig betrachtete Exot hierzulande dort drüben fast kultisch verehrt wird und die Pointe dann, „Claude ist Huula Hoop?“ – seh ich das richtig, wirklich alles schön, man spürt auch die Lust am Erzählen, in diesen spitzen Bäuchen, Gabriel Garcia Marquez ist da ein Taufpate für diese Szenen, nur: Weniger Szenen, weniger Figuren, die Szenen deutlicher ausgeführt, alles besser durchdacht und strukturiert. Der Geschichte fehlt Struktur .Ich verliere als Leser viel zu leicht den Halt an der Geschichte. Alle Figuren fangen mit „A“ an, außer Hula (später klar als Gag) und die Europäer. Das ist ja als Witz okay, aber es ist furchtbar zu lesen. Eine Kurzgeschichte kann nicht ein komprimierter Roman sein, der dieselbe Anzahl an Szenen und Figuren hat, nur eine viel geringere Zeilenzahl. Ich krieg das schon hin, mir fünf, sechs verschiedene Figuren zu merken, wenn sie sehr ähnliche Namen haben, aber nur auf mehr Raum. Nicht so eng. Ist ja wie eine Denksportaufgabe sonst, mit Zurückblättern und Nachgucken. Warum will es mir der Text denn so schwer machen? Was hat er denn davon?
Ich kann dir sagen, was er davon hat: Kein Mensch hat ihn gelesen. Obwohl er gut ist. Oder anders. Verdammt gut sein könnte.
Schade drum. Mehr Struktur, mehr Platz pro Szene, oder weniger Szenen, mehr Platz pro Figur, oder weniger Figuren. Klarer erzählen bitte, der Leser bleibt schon bei der Stange, weil es wirklich eine frische, schöne Idee ist, und man das dörfliche Szenario da alsa frisch empfindet und interessant.

Also wirklich, das ist mal ein Text, der es verdient hätte, sich selbst schön zu machen, damit ihn viele lesen. Aber er reibt sich ja mit Stinktierspray ein und geht in Sack und Asche. Schade drum.

 

Salü Hula Hoop

Uiuiui, irgendwie tönt die Sprache wirklich so, wie man da erzählt und das gefällt mir, kommt ein bisschen Heimweh auf :-S
Aber dem Inhalt nachzukommen ist ziemlich schwierig. Also ich habe die Zeitsprünge nicht recht mitgekriegt und die vielen verschiedenen Personen durcheinandergebracht..
Also was mir klar geworden ist kann ich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Da war ein Junge, der kam von Europa zurück, die Leute glaubten ihm tatsächlich dass er kein Geld hat obwohl er von Europa kam, aber zum Glück hat er eine Goldader gefunden die er gekonnt nutzte ohne dass es an die grosse Glocke gehängt wurde. Dann war da diese europäische Schauspielerin die kam um ihn zu suchen und auch fand und dabei wohl seine Tochter entdeckte. Was das ganze mit Claude zu tun hat und warum er sie einfach so stehenlässt habe ich nicht begriffen.

Realistisch? Der Teil mit dem Sportler rausholen wohl leider ja, früher mal jedenfalls. Dass die Frau ihn tatsächlich wiederfindet nur aufgrund des Vornamens, und wusste nicht mal in welchem Land in welcher Region?! Das nehme ich nicht ab, da muss schon ein bisschen mehr Information gewesen sein.

Alle die Sprachen die in dieser Stadt gesprochen werden sollen... Suaheli, Hausa, Kongo, Zulu, Jabo, Shona und Yoruba ... eine interessante Mischung aus Sprachen West- /Ost- und Südafrikas. Ok, ist vielleicht schon möglich dass sich tatsächlich Leute von all diesen Orten in einer Stadt befinden, aber es werden wohl kaum diese Sprachen alle gemeinsam die Hauptsprachen in einer Stadt sein.

Tipp zur Eingrenzung auf ein Gebiet: grosse Lauftalente kenne ich vor allem aus Ostafrika. Die Gegend beim Mount Elgon Gebirge (Grenze Uganda/Kenia) zum Beispiel. Die dort lebenden Stämme (z.B. die Sabines aus Kapchorwa, verwandt mit den Massai) sind in Ostafrika bekannt dafür dass sie gute Läufer sind und grosse Strecken zurücklegen können.
Die nächstgrössere Stadt in der Nähe ist Mbale (Uganda) mit 76 000 Einwohnern. Swaheli können dort einige Leute (reden es aber gar nicht gern, da es als Sprache der Diebe gehandelt wird) die andern Sprachen die du genannt hast kommen so gut wie nicht vor. Das heisst, falls du dich mit Sprachen doch besser auskennst als ich, dann habe ich mich von meinem Patriotismus verführen lassen und wollte dir lieber einen ugandischen Läufer andrehen als den den du dir ausgewählt hattest, von wo auch immer der herkommen sollte.

Auf jeden Fall gäben die Ideen eine interessante Story her! Und schreiben kannst du auch erst noch in so verschiedenen Stilen!! Etwas weniger verschiedene Personen, mehr Klarheit im Ablauf und dann glaube ich wird das super :-)
ah ja, ev. noch die Zeiten ein bisschen klären. ein afrikanisches dörfchen heute so ahnungslos zu beschreiben wäre doch etwas gemein. sie haben zwar nicht viel, aber sie wissen durchaus einiges.

Liebe Grüsse,
Siiba Bulunji

 
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Liebe Siiba Bulunji! Vielen Dank für die ausführliche, fundierte Kritik! Werde sie beherzigen! Aller Anfang ist schwer. Über die „Realitätsferne“ war ich mir im Klaren. Soll ja eher ein modernes Märchen sein. Ich liebe einfach den Klang der Worte. Jeder Name der afrikanischen Sprachen ist für mich ein Gedicht. Mit liebem Gruß, hula hoop


Lieber Quinn,

Vielen Dank für die umfassende Kritik! Ja, da muss und kann ich wohl noch einiges von alten Hasen lernen. Das Medium Kurzgeschichte ist neu für mich. Mit liebem Gruß, hula hoop, alias aschenputtel (hoffentlich)

 
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>Ich liebe einfach den Klang der Worte [Dein Beitrag vom 8. d. M.]<,

liebe hula hoop,

trifft im Wesentlichen auch für mich zu. Freilich wären auch noch für einen wie mich, der zu (Selbst-)Ironie neigt, Ein- und Mehrdeutigkeit wichtig. Hinzu kommt, dass es gar keine primitive Sprache gibt: in jeder Sprache kann alles, was zu sagen ist, ausgesprochen werden und wäre es gleich Pidgin.

[Abschnitt von Webmaster entfernt]

Kurz: Du kannst erzählen. Dazu wählstu einen Plauderton (wie schon beim Monk) und der ist sehr angenehm, weil locker und humorvoll. Aber dennoch schleichen sich im geschriebenen Wort Schnitzer ein, die beim gesprochenen wahrscheinlich gar nicht erst auffielen. Bei sechs Seiten Manuskript einzeilig unter TNR 12 pt. bricht bei jedem irgendwann die Flüchtigkeit durch. Was in zwanzig Minuten gelesen ist, ist selten in knapp einer Viertelstunde geschrieben. Im Einzelnen:

Zunächst zur Sprache, die zunehmend einreißt und bald den Sinn des betreffenden Wortes anhebt:
> …, schienen die Schmerzen unerträglich.<
Mein Deutschlehrer auf der Realschule gab immer zum Besten, das nur die Sonne scheine und ferne Sterne. Selbst der Mond habe sich sein Licht geliehen, wie auch die Laterne. Damit empfahl er, ggfs. ein „zu sein“ anzufügen oder das Verb „erscheinen“ zu wählen.

Fast alle Fehler erscheinen mir aus Flüchtigkeit entstanden zu sein; in der Reihenfolge ihres Aufleuchtens:

>Der Motor des klapprigen Buses …< Gönn dem Bus noch’n s.

>schrieen< Ein e kann beurlaubt werden. Weiter unten noch einmal (hier mitaufgeführt, dass keine Such aufkommen muss).

>plumste< Gönn dem Verb noch’n p, da’s von „plump-sen“ kommt.

>Masken, die er schnitze, Decken, welche die Schwester webte und Krüge, die der Cousin in einem Ofen brannte.< Keine Bange, ’s geht nicht um den Satz, sondern allein ums erste Verb, das nicht zu den andern Verben passt. Gönn ihm ein t.

>jedesmal< Selbst das Rechtschreibprogramm sträubt sich und will’s nur korrekt zulassen, obwohl ich die Geschichte von einem andern Apparat im Internet Café abgezogen hab:
jedes Mal – aber: jedesmalig.

><Die Kinder vergnügten sie sich mit Bällen …< Schick’ das Personalpronomen sie in die Freiheit!

>< Dämonen>, schrieen die Kinder.< s. o.

>gräßlich< grässlich; Deine Schreibweise müsste heute grä:slich (Doppelpunkt aus der Lautschrift übernommen, dass kein Dehnungs-h eingesetzt werden muss).

>Die Frau stand lange Zeit, bewegungslos.< Komma entbehrlich. Wahrscheinlich soll „bewegungslos“ hervorgehoben werden (vielleicht täusch ich mich auch), dann wäre ein Gedankenstrich besser angebracht.

>Mäckeleien< Das c beantragt einen Urlaub.

>allmorgentlich< Jetzt kommt auch noch die zwote teutsche Lautverschiebung: tausche das harte t gegen das weiche d.

>nirgend< entweder + wo oder zumindest + s.

>die selbe Art< dieselbe

Zum Abschluss für heute meine schönste Sätze oder Teile hiervon:

> Abuus Vater Abraha …< erinnert ans hebräische „Abraham“, dem Vater des Volkes (im übertragenen Sinne dem „Vater aller Gläubigen“, denn A. gilt auch unter Muslimen als Prophet.

>… Abuu ist kaputter als das alte Kamel und die Beulen an seinen Füßen sind größer als dessen Höcker.> Ein wunderschöner Satz, wie ich finde, allein durch den Komparativ von „kaputt“. Allein durch dieses Lehnwort bringstu die Kolonialmacht Frankreich wunder schön hinein, stammt es doch mit dem Teutschen Krieg von 1618 – 1648 von faire/être capot beim Kartenspiel ab und ich meine, es erstmals im Simplizissimus gelesen zu haben. Freilich übertreibt Werbung es mit dem „unkaputtbar“ heutzutage.

><Ist dies das olivische Geld, das du bei diesem Herrn Maradon verdientest?>, …<

><Nein, ein Paradies ist Europa nicht><, aber allemal sicherer als die meisten anderen Landstriche dieser Welt.

Gruß

Friedel

Schön, andere Afrikaner kennengelernt zu haben, denn da kenn ich nur die seit den 1960-ern in der Politik bekannten Namen, mit den Ausnahme des Zulufürsten Chaka (+ 1828), der auch in Canettis Masse und Macht auftaucht und dessen Leben verfilmt wurde.

 

Jaja, die vielen Rechtschreibfehler, quaele mich auf neuseelaendischem laptop in der Tuerkei und hab kein dt. Rechtschreibprogramm. Nochmals vielen Dank! Komme derzeit nicht zum Feinschliff. Uebrigens, habe ich fast 7 Jahre in der Tuerkei gelebt, da weiss man um die Bedeutung prophetischer Namen. hula hoop

 

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