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Hundert Millionen

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Auch Rufus Gammelpold war ein Schüler. Mit der Schulleistung ging es - mal mehr, mal weniger. Weniger gut mit Fremdsprache, Rechnen und Deutsch-Grammatik: Genitiv, Dativ, Akkusativ, Dedektiv und wie das alles heisst. Aber er schrieb stets inhaltlich gute Aufsätze die so gut wie immer vom Lehrer vorgelesen wurden. Einmal musste Rufus Gammelpold einen längeren, schon fast einen Vortrag, selber vorlesen. Er schrieb (das Thema war frei) über die Entwicklung des irdischen Lebens. Also von Mammuts, Massensterben, Sauriern, Charles Darwin, Fossilien und dergleichen. Über zwanzig Minuten las er vor.

Auch kürzer wäre es gegangen. Nämlich so, wie es Rufus, nur spasseshalber, auf einen Zettel notierte:

'Zuerst gab es Pflanzen, dann pflanzenfressende Tiere, dann tierfressende Tiere und dann Allesfresser. Zu letzteren gehört auch der Mensch. Das ist ein bodenlebendes, territorial veranlagtes Säugetier mit Tendenz zur Selbstausrottung, das mangels Spezialisierung seine Nahrung überall findet.'

Doch der Zettel fiel in die grossen Hände von Klassenlehrer Ernst Suterlüthy. Der fand die Kurzversion gar nicht schön. Dem Rufus Gammelpold war das aber völlig Wurst. Gut zwanzig Jahre später besann er sich und schrieb es nochmals auf einen Zettel. So spasseshalber. Diesmal nicht die ganze Entwicklung des irdischen Lebens. Nur ein winziger Ausschnitt daraus, dafür etwas schöner, so wie es Ernst Suterlüthy vielleicht gefallen würde:

Stille. Kein Menschenlaut. Schwüler Dunst verwebt sich in schwerer Luft zu feucht-warmen Nebelschwaden. Stellt euch einmal das vor: Hier stehe ich. Hier und jetzt. Aber vor hundert Millionen Jahren ! Ich stehe in einem nebelnden sumpfigen Wald und bin umgeben von dessen Wildheit und üppigen Vegetation. Vereinzelt dringen schmale Sonnenstrahlen durch das Raumgrün. Dann aber treibt die Neugierde und ich mache mich an den Versuch, im Halbdunkel dieses schier undurchdringlichen Pflanzengewirrs einen Weg zu bahnen. Auf nassen Steinen rutsche ich aus, sinke im schwammigen Boden ein, trete in trübe Pfützen. Darinn krabbelt irgendwelches Kleingetier, ich schrecke es auf, behende und blubbernd windet es sich tiefer in den Schlamm hinein. Dicke, grüne Wurzeln die dem Boden entlang wachsen erfassen mich immer wieder, massige Farnblätter klatschen ins Gesicht. Allerlei kriechendes und wucherndes Blattwerk, ineinander verflochtene Schlingpflanzen und anderes lästiges Gewächse scheint mich festhalten zu wollen und umgekippte Baumriesen legen sich quer. So gelange ich doch noch an den Rand dieses nässetriefenden Dickichtes und schliesslich, nachdem sich der Pflanzenwuchs ausdünnte, auf spärlich bewachsenen Boden. Nur ein paar kleine Pflanzengrüppchen, hie und da ein Haufen verdorrten Geästes, ansonsten Steinbrocken, Sandboden mit Trockenrissen. Da und dort aber recht umfangreiche Schlammlöcher mit Mulm und Moder. Der Boden fällt leicht zu einem See hin ab, dessen nicht scharf abgegrenztes schlickige Ufer in etwa fünfzig Schritten beginnt. Der See ist nicht sehr gross, das Ufer gegenüber liegt in einer Entfernung von ungefähr vierzig Steinwürfen und ihm schliesst sich, soweit es des Dunstes wegen gesehen werden kann, ein flachwelliges Hügelland an. Und ich muss an die Zukunft denken, wie für Geologen dieses jetzt lebendige Hügelland nach diversen ‘Metamorphosen’ irgend eine stratigraphische Schicht Nr. x mit Bezeichnung y/z sein wird und in Lehrbüchern quergeschnitten schematisch vorgezeigt werden wird. Ein schlammig-sumpfiger Gürtel umsäumt das Ufer. Der Wald bietet, nun von aussen betrachtet, einen überwältigenden Anblick. Baumähnliche Gewächse, Palmfarne, baumdicke Schachtelhalme. Tüpfel-, Rippen- und Streifenfarne. Schuppenbäume, Moospolster und Bärlapp und immer wieder urtümliche (im jetzigen Moment natürlich rezente) Koniferen. Noch immer steigen, winden und wallen grünlichgraue Dunstwolken durch das Labyrinth der Riesenkräuter. Jetzt ist hundert Millionen Jahre minus. Wo ist also das berühmte Getier ? Wo die unvorstellbaren Reptilien ?

Ich laufe am See entlang und, soweit es der immer wieder sumpfige Boden zulässt, möglichst nahe am Wasser und werde das Gefühl nicht los, in der Ferne wiederholt ‘etwas’ zu hören. Sind es Tiere ? Vielleicht. Ansonsten ist es ruhig. Der Himmel zeigt sich harmlos. Ein dünner glasiger Hochnebelschleier verleiht ihm Monotonie. Kein Windhauch regt sich und auf dem Spiegel des Sees bilden sich kaum Wellenmuster. Nur hin und wieder, dort wo kleine Felsen halb im Wasser liegen, ist ein sanftes Glucksen zu vernehmen. Nach einiger Zeit aber erfassen mich laue Windböen. Fernes Donnergrollen. Finsteres Gewölk breitet sich über den Himmel. Gewitterstimmung kommt auf.

Und da ist ein solches Tier ! Ein gigantischer Pflanzenfresser am Ufer, parallell zur Land-Wasserlinie. Mit seinem kleinen Kopf, der mittels des unglaublich langen Halses weit vom voluminösen Hauptkörper entfernt ist, zieht er Wasserplanzen aus dem Niedrigwasser. Sein Schwanz, dessen Spitze im Wasser untergetaucht ist, schleift er gemächlich mit sich. Recht entfernt ist dieser Riese noch. Aber ist so gross ! Ich sehe alles an ihm. Es raubt mir den Atem. Ein leises Trampeln hinter mir lenkt von den atemlosen Betrachtungen ab, und ich erblicke ein kleines Tier, nur etwas ein Drittel so gross wie ich, schmutzig Gelb, dem Rücken noch ein leichtes Grün beigemischt. Aufrecht auf den Hinteläufen flitzt es dem See entlang. Erst wenige Meter vor mir erkennt es mich, hält kurz inne, ändert seine Richtung und setzt seinen Gang am Waldrand fort. Alle paar Meter nuschelt das kecke Tierchen mit seinem Kopf im Gestüpp herum und sucht wohl Nahrung, die offensichtlich aus Kleingetier besteht, denn ich sehe es keine Blätter abbeissen. Im Blätterdach des Waldes knackt es. Was war das ?

Ich nähere mich dem pflanzenfressenden Giganten, doch allzunahe traue ich mich nicht. Es scheint, dass ich in seinem Blickfeld vorkomme aber, da er überhaupt nicht reagiert, nicht in seinem ‘Weltbild’. Aber jetzt - ja nicht noch näher ! Der braucht ja bloss einmal mit seinem Schwanz zu wedeln, ich wäre dann platt und Paläontologen der Gattung Homo sapiens recens fänden dann später in irgend einer stratigraphischen Schicht Nr. x mit Bezeichnung y/z ein paar zerriebene Menschenknochen.

Da erschreckt mich ein pfeiffendes Rauschen. Unwillkürlich ducke ich mich. Es war eine Flugechse, kaum eine von grösster Art, aber gegen vier Meter Spannweite werden es doch gewesen sein. Und dieses Ding segelt ! Nicht künstlich, nicht technisch, ohne Filmtrick, auch nicht ferngesteuert, sondern ... einfach Leben ! An so etwas ist meine Raum- und Grössen- und Naturempindung schlicht nicht gewöhnt. Einfach umwerfend, der Schreck sitzt tief, es vergeht eine ganze Weile bis ich wieder auf den Beinen stehe. Von der Flugechse ist weit und breit nichts mehr zu entdecken.

Jetzt aber wird das Licht trüber, leicht gelblich. Die Landschaft verliert ihre Schatten und das Donnergrollen ist näher, schärfer und aufdringlicher geworden. Während die Seeoberfläche sich zu kräuseln beginnt und eine gelbgraue Färbung erhält, heben Windböen an trockenen Stellen den Staub empor und wirbeln ihn eine Weile vor sich hin. Immer weniger Licht gelangt auf die Erde und aus nun dramatischem Wolkenhimmel stürzen schwere Regentropfen. Erste Blitze zucken. Der pflanzenfressende Koloss müht sich ab, sein Gebirge von Körper in Bewegung zu setzen. Das aufziehende Unwetter scheint aber seine Gelassenheit nicht zu beeinträchtigen.

Und abermals knackt und rauscht es im Gebüsch. Blätter schwingen auseinander, riesige Farnwedel biegen sich, Äste bersten und - oh Scheisse ! da steht er. Es gibt ihn tatsächlich. Ein aufrecht haushohes Schreckensding. Noch ist er dort drüben am Waldrand, aber das Bodenzittern welches seine Schritte verursacht, fühle ich in meinen Fussohlen und von dort herauf bis in den Kopf. Das kecke Tierchen von vorhin hat sich längst aus dem Staub gemacht und der grandiose Pflanzenfresser interessiert mich eigentlich überhaupt nicht mehr. Oh Gott ! Dieses Ding ! Füsse so gross wie eine Bettmatratze. Klauen wie Strassenpickel, Oberschenkel aus Tonnen von Muskeln, so dick wie eine dreihundertjährige Eiche. Da diese Kreatur mich nun gleich haben wird, sehe ich auch in das zähnestarrende Grossmaul hinein. Wahrhaftig, diese Zähne, das sind dutzende von Dolchen. Er wollte mich also auffressen. Da war ich aber durchaus dagegen.

 

Hi reto_grob!
Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, ist in der Kategorie "Humor" allerdings hoffnungslos fehl plaziert. Wie wäre es z.B. mit "Historik"? Spannung würde auch noch gehen...

Deutsch-Grammatik: Genitiv, Dativ, Akkusativ, Dedektiv und wie das alles heisst.

Hier der einzige Witz, den ich zu erkennen glaube, dafür aber direkt ein riesiger Brüller! Toll!

Aber ist so gross !

Hier fehlt ein es. Es müsste heißen Aber es ist so gross!

Schöne Grüße
SAN

 

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