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Hundstage
Unvorhergesehenes geschieht ständig. Man bemerkt es nur nicht mehr. So spät noch. Blaudunst, nur ich dahinter, spukt durch die Küche. Zeit zum Nachdenken, wie widerlich. Heute bleiben die Weisheiten in der Tasche, ein andermal vielleicht. Die Nacht dringt durch keine Ritze. Ich bin ruhig, obwohl ich flatternd sein müßte, sanft und still statt geschäftig. Jäh klingelt das Telefon. Schon lange hat es das nicht mehr getan, allerdings, ich weiß nicht, wie oft ich sein Schreien überhört habe, es überhören wollte, indem ich die Türen geschlossen und die Fenster geöffnet hielt, wie der Wind draußen lärmt und an meinen Ohren vorbeipfeift, so daß ich beinahe nichts anderes mehr hören kann. Nichtsdestotrotz, es ist ein seltenes Ereignis, dieses grelle, scheppernde Geläute zu vernehmen, und nach dem ersten Schreck, kurzem Zorn, nach kurzem Nachdenken zuerkennen, von welchem Monstrum das Geplärre kommen mag. Doch. Das Telefon. Erneut deklamiert es aus dem Nebenraum.
Die Küche ist zu dieser Zeit eine seltsame Insel des Lichts. Draußen, man erkennt die Häuserwände nicht mehr, sie lösen sich auf, beim Einbruch der Dunkelheit, nein, wirklich, es scheint nicht nur so, daß ich sie nicht mehr sehen kann, sie lösen sich tatsächlich auf, in Aceton vielleicht, sein süßlicher Geruch dringt wohl nur von außen an die Scheibe, oder in simplem Alkohol, der sie durchdringt, verzehrt und - was ist das Gegenteil von Schwitzen? - einschwitzt, bis sie verschwunden sind - hinter Fensterglas, in dem die Deckenlampe sich schwimmend spiegelt, und der Luft, die kühler wird - bis sie sich gänzlich verloren haben. Die Zigarette in den Aschenbecher gelehnt trage ich mich hinüber. Das schreiende Kind beruhigen. Draußen gibt es nichts mehr, wie frei schwebend im - was immer - ist die aus Licht gezimmerte Sphäre, der Bauch, den ich verlasse.
Neben dem Telefon stehend warte ich. Je länger es klingelt, meint man, desto wichtiger muß der Anruf sein. Wie ein Messer schneidet es durch die Stille, in meinem Kopf hallt sein Echo. Und wieder. Ich nehme den Hörer ab um es von seinem Ringen zu erlösen.
Zunächst nichts. Ich atme nur leise, wenn man mich hört? Dann.
"Marten?" kann ich undeutlich vernehmen. Kenne ich diese Stimme? Das weiße Rauschen wandert unter jeden Laut. Aber man kennt meinen Namen. Kennt man mich auch? Habe ich jemandem die Nummer gegeben? - Ich denke nach.
"Wer spricht da?" sage ich, und möchte neutral klingen, doch es gelingt mir nicht. Feindseligkeit liegt in jedem der drei Worte. Am anderen Ende ist man sich wohl nicht sicher, ich kann das Zögern beinahe aus dem Knacken und Flackern der Leitung filtern, man atmet tief, setzt zögernd noch einmal an: "Bist du es, Marten?"
Livia, ja natürlich, ihr habe ich diese Nummer gegeben, obwohl sie mich niemals angerufen hat. Mehr als eine Geste der Höflichkeit war es nicht, ein Akzeptieren, das Nicken ihres Kopfes und ein Lächeln ihrer Lippen, mehr nicht, die Muskeln um ihre Augen waren starr geblieben. - Livia. Doch die Stimme am Telefon ist die eines Kerls.
"Ja", spreche ich schließlich mit festem Tenor ins Mikrofon. Elisabeth, als sie mich eines Abends danach fragte, zwischen dem, ich weiß nicht, zweiten oder dritten Glas, hatte ich sie ihr auf einen Zettel notiert, den sie mir, mit einem süffisanten Lächeln, unter die Nase geschoben hatte. Elisabeth. Sie wird die Nummer doch niemandem geben haben? Welchem Pack, das sich erdreistet, um diese Zeit noch anzurufen? Und Livia, würde sie so etwas tun?
"Hier ist Max", dringt es aus dem Hörer und ich fasse es nicht.
Max.
Ich schweige. "Marten", noch einmal. Aus dem Hintergrund vernehme ich das verklumpte Geschwätz von Menschen, leise, unverkennbar. Seine Stimme klingt flach und gedrängt. "Kannst Du mich abholen?" Sind das die ersten Worte, die du mir in die Ohren spuckst, wieviele Monate? Jetzt tauchst du auf, aus welchem Loch, oder besser, unter welchem Stein hattest du dich versteckt? Wie lange kein Wort von dir? Und warum auch? Sie haben niemals etwas bedeutet, obwohl sie, trotz ihrer Sinnlosigkeit, meist erträglich waren, als ob das eine Medallie wert wäre. Deine Phrasen mit Flickworten mühsam in syntaktischer Korrektheit gehalten. Aber eben nichts darunter; das kann man, wegen der Leichte, folglich eine Weile ohne Schwierigkeiten ertragen, aber irgendwann wird man auch dieses Ärgernisses überdrüssig, so gering es auch sein mag. Und nun? Abholen. Ein sprödes 'Was willst du?' sollte ich dir zum besten giften. Max.
"Abholen? Wo bist du?"
Warum frage ich? Auflegen, das wäre die rechte Antwort gewesen. Er kennt meine Adresse nicht, er kann mich nicht finden, die Stadt verschluckt mich, dieses Mal gütlich, behütet und versteckt in ihrem fettigen Leib.
"Am Bahnhof. - Hörst du mich? Hier ist es ziemlich laut, ich kann dich kaum verstehen. Jedenfalls; ich bin gerade hier angekommen; hörst du mich, ich weiß nicht, kann ich für ein paar Tage bei dir übernachten? - Marten?"
Ich sage zunächst nichts. Ständig mein Name. Er spuckt Semikola am laufenden Band. Jetzt rasselt sein Atmen erwartungsvoll. Was hat er hier verloren? Max, ein grauenhafter Klang. Dann geht es mir auf, was es bedeutet: ein paar Tage übernachten. Niemals hat, seit ich in diesen Wänden hause, ein Fremder hier übernachtet. Und so sollte es bleiben. Die Mäuse unter den Dielen scheinen nie zu schlafen, nachts höre ich ihr Treiben, manchmal, das Gescharre und ihre verstandeslose Betriebsamkeit. Ich frage mich, was die kleinen Biester fressen. Alles womöglich. Max. Seinen widerlichen, weil neuen, Gestank im Flur, im Bad, jedem Zimmer, ich kann ihn nun schon riechen. Er ist die Vorhut einer Invasion, die ich nicht werde zurückschlagen können.
"Für ein paar Tage? Was heißt das? Ein Tag? Zwei?" Mit den Fingern holpre ich über meine Lippen.
Er hustet. Das Lärmen aus dem Hintergrund wird lauter, weil jemand ruft, man kann es sich in der Bahnhofshalle verlieren hören, ich verstehe ihn kaum. Eine vom Echo zerfasterte Durchsage über den Lautsprecher deckt sich wie Samt über seine Stimme. "Ich weiß nicht. Bitte. Komm einfach vorbei, ja?"
Wenn ich seine Worte unter dem ganzen Lärm besser hätte vernehmen können, würde ich wohl gemeint haben, er klinge verzweifelt. Noch nicht weinerlich, aber bemüht um Beherrschung, denn er möchte nicht schon jetzt bedürftig sein. Auch ihm gelingt es nicht. Ich streiche mit dem Daumen meine rechte Augenbraue zurecht. Aber was kann man anderes sein, um diese Zeit in der Fremde.
"Marten?"
Das kann er gerade noch sagen, ich erwidere nichts mehr. Kurz dringt das Rasseln eines mit Mühen anfahrenden Zuges in mein Ohr, aus der Membran plärrt es fahl und blechern, ganz anders, ganz anders. Ich zögere nicht mehr. Den Hörer lasse ich sanft zurück in die Gabel gleiten. Max.
Wie spät ist es genau? Ich sehe auf die Uhr. Viertel nach elf. In der Küche rauche ich eine Zigarette. Von draußen, die Dunkelheit der Nacht, die wie ein Meer, zettatonnenschwer, über der Stadt liegt, die Atlantis ist, vielleicht, und ruft, begrüßt mich hämisch mit einem Schweigen, das wie Sirup an meinen Händen klebt. Noch eine Zigarette.
Dann verlasse ich die Wohnung.
Um mich wird die Stadt bewegt. Echos sind die flüchtenden Schienen unter mir, deren Vibrieren meine ganze Welt erschüttert, den Waggon, der mich, mal langsam und behende, dann wieder pfeilschnell unter die Straßen führt, wie ein Hand an der Leine, dessen Herrchen zerrt und heischt, komm, verfluchter Köter, beweg dich, und die Lichter am anderen Ende des Fensters schneien vorrüber, langsam, die Entfernten, in Linien, die Nahen, jedes nach seiner Parallaxe. Es ist so fürchterlich hell hier drinnen. Aus allen Richtungen quietscht und knarzt es, Kurve nach links, es zieht zur Seite, Kurve nach rechts. Viele Male, viele, noch ein Mal. Man entfernt sich immer mehr und meint, es nimmt kein Ende. Müde, seit ich eingestiegen bin. Beinahe zwölf ist es geworden; an jeder Station eine Uhr, ihr Name. Nein, hier noch nicht, noch nicht aussteigen, es geht weiter, wieder harrt man, in den Sitz gepresst, die Minuten bis zum Ziel noch aus, die Lichter wieder, das Scharren auf den Schienen, mehr Warten, das man mit Denken, und mit sich selbst verbringen muß. Kaum jemand ist unterwegs um diese Zeit, auch wenn man sagt, die Stadt schläft nie, es ist immer jemand da, der sie bewacht, bewahrt, vor dem Tod, vor dem Ertrinken in ihrem eigenen Fluß, der sie einst ausgespuckt hat, vielleicht will er sie wiederhaben, zurück, unter die Oberfläche und alles was zurückbleibt, sind die Löcher und die Tunnel in der Erde durch die ich nun reise.
Die Entfernung wird kleiner. Bald werde ich Max kreuzen, den ich kaum kenne. Niemand scheint ihn zu kennen, wenn ich es recht bedenke, niemand, von dem ich weiß. Und doch ist er kein großer Unbekannter, er scheint einfach kein Geheimnis zu bergen, nichts was zu entdecken, zu offenbaren wäre, nichts von Wert. Sein immergleiches Gesicht, von einer aufgesetzten Traurigkeit zerschnitten, obwohl dahinter, man muß es vermuten, tatsächlich Traurigkeit lag, aber er trug es mit einer solch gewollt subtilen Theatralik zur Schau, daß man sich von ihm, und von allem, was er sagte, nur angewidert abwenden konnte. Ich werde nicht wissen was zu sagen ist, und mir bleibt nur noch wenig Zeit, darüber nachzudenken. Einfach nichts sagen, so einfach; Sprechen zeugt doch von Vertrautheit und Max, auch wenn ich seinen Namen kenne, er ist mir ferner als ein Passant auf der Straße, der meinen Arm im Vorübergehen streift. Ein paar Tage, das klingt, auf dieser sich ausbreitenden Fahrt, die man dennoch in Minuten messen kann, wie eine Ewigkeit.
Schließlich, der Name. Eine Spannung, die sich auflöst mit dem sich Erheben des eigenen Körpers, dem man beiwohnt und schaut, wie er durch die Tür des Waggons tritt, auf Betonerde, durch die Augen, die Beine, sie bewegen sich, koordiniert und tragen mich durch die niedrigen Hallen und Gänge der Station, langsam, nach oben, die Treppen hinauf, die Treppen, bis beinahe an die Nacht zurück. Dennoch bin ich ohne Ziel. Ich hatte es versäumt, Max nach irgendetwas zu fragen, den Bahnsteig zumindest, um ihn finden zu können; aber, das sage ich mir, es ist schließlich seine Sache, ich bin hier, noch ein wenig mehr nach oben, und die Gleise beginnen von neuem, dort irgendwo muß er sein, bei den Zügen. Es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu finden, sondern seine, mich zu finden. Man hört kaum Menschengeplapper um diese Zeit, nicht in diesen - Katakomben - aus denen es zu flüchten gilt, denn es ist hell. Noch etwas warten, vielleicht. Man wirbt für einen Film, und in diesem Schaukasten flackert tatsächlich die Neonröhre, das bunte Poster darunter taucht wie ein Schwimmer, auf und ab, auf und ab im Licht. Das Rauchen ist hier verboten, glaube ich, aber, noch etwas warten, bevor Max unausweichlich wird, ich krame in meinen Taschen. Zigarette, Feuerzeug, für einen kurzen Moment ist der Film hell erleuchtet, trotz des Wellengangs. Ich kann es deutlich lesen. Man sieht es dennoch nicht sofort, Komödie, ein Drama, vielleicht beides. Etwas Romantisches? Schöne Menschen sind überall, selbst hier. Sie lächelt mich an. Ich neige den Kopf zur Seite, ein Zug an der Zigarette, zittert meine Hand? Neben ihr gesellt sich noch ein schönes Gesicht, auch er lächelt, auf Bestellung, oder, wenn es kein Schauspieler wäre, voller Kalkül. Mein Rücken läßt die spärlich vorbeiwandernden Menschen nicht aus den Augen. Und dennoch entgeht mir das Wichtigste. Man taxiert mich, ohne mein Wissen.
"Hier bist du also", tönt es hinter mir und ich wende mich um. Die Zigarettenasche ist eine Blume.
Ich erkenne ihn nicht sofort. Unter dem gräßlichen, ausufernden Bart muß sich ein anderer verbergen. Aber schließlich ist es seine Stimme und die Art zu intonieren, das charakteristische Unterdrücken seines Dialektes, das ihn, nicht einzigartig, aber auffällig macht.
Max. Endlich. So oder so. Mager hängt er in seinem eingedellten Hautsack, müde sieht er aus, darunter erleichtert, warum auch immer. Hoffentlich nicht erleichtert, mich zu sehen, ich bin kein Rettungsanker, ich kann keiner sein, das sollte ich ihm als erstes sagen, noch bevor es zu Mißverständnissen kommt. Bevor er glaubt, ich könne, oder gar, ich wolle ihm helfen. Mehr als Unterkunft, für ein paar Tage nur, hoffe ich, kann ich ihm nicht geben, vielleicht weiß er das schon, oder kann es aus meinem Gesicht lesen, in diesem Moment, während ich nichts sage und ihn nur ansehe, weder freudig, weder vorwurfsvoll, sondern, und ich bin erstaunt, wie gut es mir gelingt, wie einen Fremden, der mich nach der Uhrzeit fragt. Kurz nach halb eins mochte es jetzt sein.
Vielleicht wartet er auf eine Antwort. Aber was soll man darauf erwidern. Wozu etwas sagen. Wir sind hier, Meter unter der Erde, und kennen einander nicht. Alles ist zuviel, und ich bin kein guter Mensch. Zuwenig zumnindest. Eine Konversation will ich nicht auch noch heucheln. Mein Hiersein muß genug sein, nichts mehr, nichts, außer ein paar Tage. Max scheint außer Atem.
"Gut daß ich dich gefunden habe", sagt er schließlich, das Schweigen war zu kurz. Ich mustere ihn, mit seinen Füßen beginnend, die in grauen Turnschuhen stecken, wandere über seinen weder schlanken noch fettleibigen Körper, hinauf bis zu seinem Kopf, auf dem sich seine Haare ungeordnet tummeln. Eine Strähne drückt der Schweiß gegen die Stirn. Ist es ein Lächeln, das er spielt? Freude? - Aber er spielt, so muß es wohl sein, und als ich zu Boden deute und sage: "Deine Taschen?", scheint es, als schrecke er aus seiner Starre auf und sagt, mit flatternden Augen über den Boden heischend, einen Augenblick zu lang: "Ja."
Ich werfe meine Zigarette auf den Boden ohne noch einen weiteren Zug genommen zu haben und drücke sie mit dem Fuß aus. Ihn kurz nicht ansehen müssen.
Es scheint eine längere Reise zu sein. Ich muß mich wundern, daß er sich überhaupt entfernt hat, von welcher Heimat auch immer, seiner Stadt, aus der er kommt, wo er sich zu hause fühlt, wie er mir einmal gestanden hat. Seine Taschen sind schwer, wir teilen die Last und schleppen uns still, nebeneinander, hinunter zu den U-Bahn-Röhren, den Weg zurück, oder, ganz vorwärts für ihn, wie schon den ganzen Tag. Doch ich kenne die Lichter bereits, das unscheinbare Vibrieren der Wände, die Unschärfe, das Verschwimmen, wenn man mit den Augen bald ein nahes, bald ein fernes Objekt fixiert, immer weiter hinunter. Ohne mich würde er sich doch verlaufen. Die ersten Wochen nach meiner Ankunft ist es mir ganz ahnlich ergangen. Ich muß anhalten und verschnaufen. Die Taschen sind wie mit Blei gefüllt.
Wir sprechen nicht. Nehmen die nächste Bahn zurück. Ein Uhr siebenunddreißig kommen wir an.