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Hure und Heilige
Juanito ist acht Jahre alt und lebt mit seiner Mutter und der Großmutter am Rande der Stadt San Raffael del Sur, einer kleinen Stadt im Südwesten Nicaraguas.
Juanito ist heute extra früher aufgestanden, er möchte noch Blumen besorgen, denn heute ist der 30. Mai und es ist „dia de madre“, Muttertag und Feiertag in Nicaragua. Er läuft an den Bach der Zementfabrik. Hier ist der Boden auch in der Trockenzeit immer feucht und hier wachsen die schönsten Blumen in der Umgebung. Er ist ein bisschen in Eile denn er möchte wieder zuhause sein, bevor seine Mutter aufwacht, denn er will sie überraschen. Gestern hatte die Lehrerin in der Grundschule erzählt, das heute Muttertag ist und alle Kinder haben für ihre Mütter Bilder gemalt, Juanito auch. Er ist ganz stolz auf sein Bild.
Hastig pflückt er einen Blumenstrauß zusammen. Der sieht richtig gut aus, denkt er und rennt so schnell er kann nach Hause. Unterwegs kommt er am Haus seines Mitschülers Franco vorbei, der sieht ihn und ruft ihm nach: „Ola Tonto…“, - Tonto heißt Blödmann -, „Tonto wohin so eilig?“ Juanito antwortet: „Keine Zeit“ und läuft weiter, nach Hause.
Vom Geklapper des Geschirrs aus der Küche geweckt kommt Esperanza langsam zu sich. Sie schlägt die Augen auf und vor ihr steht mit einem alten Küchentablett und einem riesigen Blumenstrauß, Juanito. Auf dem Tablett steht eine heiße Tasse „Cafe con letche“ und eine Papierrolle mit dem Bild, welches er in der Schule gemalt hat, umwickelt mit einer roten Schleife. „Alles Gute zum Muttertag“, platzt es regelrecht aus Juanito heraus. Vor Aufregung fängt er an zu stottern: „ IIII…Ich hab dir ein Mu…Muttertagsfrühstück gemacht, Mamita!“
Esperanza ist mit einem Schlage hellwach als sie die Situation erfasst. Sie lächelt Juanito an und sagt leise und ruhig: „Vielen, vielen Dank, mein lieber Juanito!“ Juanito stellt das Tablett auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Mutter und Sohn nehmen sich gegenseitig in die Arme. Esperanza muss mit den Tränen kämpfen als sie Juanito in den Armen hält. Wie ein Film läuft jetzt ihr Leben mit Juanito vor ihr ab:
Sie war siebzehn Jahre alt, als sie Juan, Juanitos Vater, kennen lernte, er arbeitete wie sie in der Konservenfabrik. Juan war drei Jahre älter als sie und sie hatten sich in einander verliebt. Er hatte so große dunkelbraune Augen, wenn er sie ansah schmolz sie dahin. – Juanito hat auch solche Augen und auch ihm kann sie nichts abschlagen wenn er sie so ansieht.
Schnell wurden Juan und sie ein Paar und es passierte was immer passiert wenn zwei Menschen ineinander verliebt sind. Sie wurde schwanger, - zu schnell wie sie heute weiß! Neun Monate später wurde Juanito geboren und ihr junges Glück schien perfekt. Das gemeinsame Kind, dann noch ein Junge, - der Stammhalter, Juan war so Stolz auf „seinen Sohn“. Typisch im Lande des „Machismo“.
Doch schon im ersten Lebensjahr von Juanitos jungen Leben wurde deutlich das etwas mit ihm nicht stimmte. Seine Entwicklung war nicht normal wie bei anderen Kindern seines Alters. Ärzte wurden konsultiert und schnell wurde deutlich das Juanito eine geistige Behinderung hatte und das er niemals ein normales Leben führen kann.
Der Schock saß tief, besonders bei Juan. Er konnte es kaum ertragen, dass sein Sohn behindert, „ein Tonto“, „ein Blödmann“ sein soll. Behinderte Menschen gelten als Makel und werden vor der Öffentlichkeit versteckt. Und Juan dachte genauso. Er verlor das Interesse an seinem Sohn und an der Familie. Die Beziehung und die Familie zerbrach.
Sie stand mit Juanito alleine da und ist wieder in das Haus ihrer Mutter gezogen. Ihre Arbeit in der Konservenfabrik bekam sie wieder und am Anfang kam sie auch noch finanziell, wenn auch knapp, über die Runden. Aber dann wurde die Konservenfabrik geschlossen. Die wenige Unterstützung die ihr Juan am Anfang noch zahlte fiel auch noch weg. Später zahlte er gar nicht mehr. Sie war verzweifelt, denn sie brauchte Geld für die Behandlung und die teuren Medikamente, die Therapien – alles für Juanito.
Eine Freundin verschafft ihr in einer Bar eine Arbeit als Bedienung. Ohne lange zu überlegen fing sie in der Bar an zu arbeiten denn sie brauchte das Geld, - für Juanito.
In der Bar verkehrte die bürgerliche Oberschicht der Stadt. Schnell wurde ihr klar das von ihr mehr verlangt wurde als das servieren von Cocktails und Cervezas. Aber auch das akzeptierte sie – für Juanito. So wurde sie was sie heute noch ist, eine Puta, - eine Hure.
Mutter und Sohn lösen ihre herzliche Umarmung auf. Esperanzas Blick fällt auf ihre Mutter, die inzwischen in der Türe steht und die Situation lächeln und interessiert beobachtet hat. Sie hatte Juanito beim kochen des „Cafe con letche“ geholfen. Ihr Enkel war schon so aufgeregt. Sie hatte ein bisschen Angst , dass er sich mit dem heißen Wasser verbrühen könnte.
Die Mutter denkt: „Welch gute Entwicklung Juanito trotz seiner Behinderung doch genommen hat. Die teuren Medikamente haben ihm das Leben erleichtert. Normal wird sein Leben nicht verlaufen aber er hat gelernt mit seiner Behinderung zu leben. Er besucht inzwischen sogar die öffentliche Schule, auch wenn er kaum mitkommt und auch schon eine Klasse wiederholen musste. Juanito geht gern in die Schule und lässt sich auch nicht durch die gemeinen Tonto, Tonto Rufe seiner Mitschüler provozieren.“
Auch wie aufopfern sich Esperanza vom ersten Tag an sich immer um Juanito gekümmert hat. Ihm ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt hat. – Sie hat Juanito stark gemacht. Ihn zu den Ärzten gebracht und ihn über ein Jahr lang, fast Täglich in die dreißig Kilometer entfernte Spezialschule gebracht und wieder abgeholt. Oder wie sie die Trennung von Juan, den sie ja so geliebt hatte bewältigt hat. Sie ist ein bisschen stolz auf Esperanza, „ihre Tochter“.
Esperanza hatte es auch als Kind nicht leicht. Sie hatte keinen Vater. Der hatte die Familie wegen einer anderen Frau schon früh verlassen und so musste sie ihre Tochter alleine durchbringen. Unterstützung hatte sie dabei auch nicht - aber Esperanza war ein gesundes Kind, - im Gegensatz zu Juanito.
Die Mutter weiß von Esperanzas Tätigkeit obwohl die Frauen nie darüber offen gesprochen haben. Sie hat sich am Anfang schon darüber gewundert wie viel Geld in einer Bar verdient werden konnte. Aber das war nicht ihre Welt, davon verstand sie zu wenig. Sie erfuhr die ganze Wahrheit erst viel später, durch einen Zufall. Dann konnte sie das Handeln ihrer Tochter verstehen und nachvollziehen, auch wenn sie es bis heute nicht gut findet.
Gestern war sie in der Kirche, sie kommt öfter hier her, um still und leise zu beten. In die Heilige Messe geht sie schon lange nicht mehr. Der Priester sieht das nicht so gern. Sie, als Mutter einer Puta ! Ihren Glauben hat sie trotzdem nicht verloren, - Gott liebt alle Menschen. Sie hat bei der Heiligen Jungfrau, der Schutzpatronin Nicaraguas, eine Kerze angezündet, für ihre Tochter, denn für sie ist ihre Tochter auch eine Art Santa, - eine Heilige!