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Ich belausche meine Stadt

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06.01.2002
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Ich belausche meine Stadt

...zu lauschen gibt es da wenig. "Lauschen", das bedeutet doch: "hinhören". Aber es gibt soviel wegzuhören. Weghören, wenn ein Auto nach dem anderen vorbeiröhrt, weghören, wenn Handybenutzer die ganze Welt an ihrer Gedankenlosigkeit teilnehmen lassen, weghören, wenn Kaufhäuser ihre Kundschaft mit künstlichem Vogelgezirpe oder Musik einlullen wollen. Nur dumm, dass Weghören gar nicht so einfach ist.

...aber da sind noch die Nächte. Die Sommernächte, wenn das Schweigen des städtischen Lärms nur durch den mondbeschienenen weißen Vorhang gefiltert wird. Diese Nächte, wenn ich mich unvermittelt hellwach im Bett aufsetze, um eine vollkommen andere Welt zu erlauschen.

Das permanente Rauschen, das sonst so viele Details erstickt, ist verschwunden. Die Vögel schlafen, aber manchmal reden sie im Schlaf. Ein fast nicht vorhandener Wind weht durch die Weiden vor dem Fenster. In der Ferne höre ich einen Güterzug durch das Tal fahren. Er scheint nicht enden zu wollen, das Rauschen dauert , als ob es mindestens 1000 Waggons wären. Was mag es sein, das da im Schutze der Nacht nach Norden rast? Vielleicht ist es ein geheimnisvoller Archenzug, gezogen von einer gewaltigen Lokomotive. Ein Archenzug, der von jeder Tiersorte ein Paar beherbergt? Hat der Archenzug nicht ein Fabelwesen vergessen, das da seinen Schatten auf meinen Vorhang wirft?

Irgendwann ist der Zug vorbei. Er hat nicht gehalten. Still ist es nicht.

Ich höre, gar nicht so weit, ein pulsierendes tiefes Dröhnen. Die Autobahn kann es nicht sein, nein, es klingt wie der Dieselmotor eines großen Flussschiffs, das langsam vorbeifährt. Hinter den Weiden, die ich durch einen Spalt im Vorhang draußen im Mondlicht sehen kann, dort muss in dieser Nacht ein Fluss sein. Ein mächtiger Fluss , auf dem ein großes Dieselschiff fahren kann. Ein Lastschiff ist es, ich habe ähnliche Schiffe bei Tag gesehen, die hatten Kohlen oder Kies geladen. Dieses Schiff nicht, es trägt eine Fracht von makellosen Seifenblasen und Diamanten. Ich weiß, dass Fluss und Schiff bei Tag nicht da sind. Bei Tag wird alles in Lärm begraben. Dann stehen dort graue Mietskasernen. Aber in Mondnächten?

Eine Nacht war anders. Ich habe mich angezogen und bin losgegangen, um das Geräusch zu entlarven. Aber es ist vor mir zurückgewichen wie das Ende eines Regenbogens. Ich bin ein paar hundert Meter gegangen, bis es völlig verblasst war. In dieser Nacht war da auch kein Fluss . In dieser Nacht muss es wohl die Gummifabrik gewesen sein. Ich war nie in der Gummifabrik, aber ich bin sicher, dass dort schwarzglänzende Gnome in einer riesigen Halle eine Matte aus schwarzglänzendem Gummi zum Vibrieren bringen, groß wie ein Fußballfeld. Von weitem klingt das Schwingen der Matte wie der Dieselmotor eines großen Schiffes. Der allgegenwärtige schwarze Staub bildet riesenhafte chladnische Klangfiguren auf der Gummimatte, vielleicht werden die dann in Watte gepackt und mit unendlich langen Güterzügen verschickt. Oder auf Frachtschiffen. Ganz bestimmt kann man keine chladnischen Klangfiguren am Tag herstellen. Bei Tag beschränkt man sich auf Autoreifen, die von gewöhnlichen Menschen produziert werden, während die schwarzen Gnome in Graphitstaub schlafen.

Nächte gehen vorbei. Dann kommt der Lärm zurück und Archen, Gnomen und Dieselschiffe verschwinden irgendwo, wo man sie weder sehen noch hören kann. Bis zur nächsten Nacht.

 

Hi, Wundrop!
Willkommen auf KG.de und gleich ein herzlichen Glückwunsch zu Deiner ersten Geschichte hier.

Es ist schön, wie Du die zwei Welten beschreibst, ihre Gleichheit durch Worte verschieden machst und Fantasie so natürlich erscheinen lässt. Früher, im Haus meiner Eltern, stand vor meinem Zimmer auch ein Weidenbaum. Leicht von der Straßenlaterne angeschienen (und nach zwölf vom Mondlicht), war es ein wirklich zauberhaftes Geschöpf, das in einer leichten Brise tanzte. Deine Geschichte hat mich wieder daran erinnert. Danke dafür.
Jetzt muss ich mal sehen, ob ich hier in der Stadt ihr ebenfalls lauschen kann.

Wirklich schön geschrieben. :thumbsup:

 

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