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Ich, der Pirat
Ich bin ein Pirat. Das finde ich toll. Ich habe einen dichten Rauschebart und einen duften Hut auf, mit einer Krempenspannweite von zwei Metern. Damit steche ich die gesamte Konkurrenz der sieben Weltmeere aus. Ich sehe ungefähr so aus wie Walter Matthau als Pirat.
Mit meiner Nussschale und meiner Crew bin ich schon vor Tagen in See gestochen. Wir haben auch sogar schon ein Schiff samt Besatzung überfallen. Die waren vielleicht baff. Mit meinem Enterhaken, den ich gebraucht am Hafenmarkt um sage und schreibe 5 Unzen erstanden hatte, fixierte ich unser Boot an deren Reling. Unsere Waffen waren geladen, voller dreckigem Schießpulver. Die ganze Crew des Handelsfrachters hatte sich vor unserer furcht erregenden Erscheinung wohl in die Hose gemacht. Sofort sprangen sie alle ins Wasser und gingen unter. Einer wurde von einem Tentakel des seltenen und gigantischen Tiefsee-Tintenfisches in die Tiefe gezogen. Wir machten uns drauf und dran, das gesamte Schiff zu plündern. Mann, waren wir hungrig! Schließlich ja schon Tage unterwegs. Leider gab es da nicht viel zu essen, nur ein paar Fässer mit halb vergorenem Sauerkraut. Nachdem Henry, mein erster Maat, eine Kostprobe machte, verreckte er unter entsetzlichen Qualen. Wir sahen somit von einem weiteren Verzehr des Sauerkrauts ab. Danke, Henry! Gold gab es auch keines auf dem Schiff, also stiegen wir wieder ab und in unser Boot.
Das war vor ein paar Tagen. Seitdem schaukeln wir navigationslos durch die See. Essen und Wasser gab es seitdem keins mehr, von meiner fünfköpfigen Crew ist nur noch Krause übrig, und der ist krank. Ja, das Seemannsleben ist hart. Aber ich muss gestehen, ich hatte mich die letzten Tage ausschließlich selbst verflucht, dass wir nicht auf dem größeren Schiff geblieben sind. Da könnten wir wenigstens navigieren, und Wasser hätten wir auch gehabt. Aber Krause steht mir bei. „Jeder macht mal Fehler, Jungchen“, sagte er zu mir. Krause hat ne tolle Ahnung. Seit 70 Jahren ist er schon Pirat. Ich bin stolz, dass er auf meinem ersten Einsatz dabei ist. Was würde ich nur ohne ihn machen?
So viele Sachen haben wir in den letzten Tagen gemeinsam überstanden, Stürme und wild gewordene Walrösser. Eines wollte zum Beispiel unser Boot kaputt machen, indem es seine Hauer in den Bug steckte. Doch Krause ließ sich nicht so einfach abspeisen. Mit seiner enormen Kraft riss er dem Walross mit einem Ruck beide Stoßzähne aus den Wurzeln. Blutend sank das Tier ins Wasser zurück. Zehn Meter weiter sprang ein Delfin vor Freude in die Luft. Ja, das hat schon was. Mit Krause war einem nie fad. Und jetzt so was, krank. Er hat Seefieber. Das weiß ich, schließlich habe ich Medizin studiert. Seefieber ist eine der schrecklichsten Sachen, die ein Mensch bekommen kann. Da beginnt das Gehirn verrückt zu spielen, durch das ständige Schwanken auf hoher See reißt es sich von der Gehirnhaut los und schlägt wie wild gegen deine Schädelbasis. Abgesehen davon, dass es enorm weh tut, wirst du mit einem Schlag verrückt. Deine Körperfunktionen spielen nicht mehr mit, und das einzige was du tun kannst, ist daliegen und zappeln. Krauses Augen sind mittlerweile in die Höhlen eingesunken und nur noch das Weiße ist sichtbar. Er hat unkontrollierte Krämpfe, sich längst die Zunge abgebissen und die Hose vollgeschissen. Aufgrund der verminderten Immunleistung haben auch die Infektionen zugenommen. Fliegen haben ihre Eier überall am ganzen Körper abgelegt, aus denen dann Maden geschlüpft sind. Die haben ihn schon halb aufgefressen, sein rechter Arm ist auch bereits abgefallen. Nein, ich kann das nicht mehr mit ansehen. Ich schmeiße Krause über Bord.
Ein ehrenvoller Tod für einen so treuen Begleiter an meiner Seite. Mir kommen die Tränen, ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Ich starre an die Stelle, wo Krause gelegen hatte. Dort sehe ich, wie sich die Kaugummis, die wir in die Löcher gestopft haben, die die Hauer des Walrosses verursacht hatten, sich auch schon langsam auflösen. Wasser sickert herein. Der Boden des Bootes ist bereits feucht. Was jetzt? Das ist das Ende. Ich kann es kaum glauben. Das soll das Ende meiner Piratenkarriere sein, die erst begonnen hatte? Ich denke an Krause. Er wäre sicher nicht stolz auf mich, sollte ich so schnell aufgeben. Doch was soll ich machen? Ich bin auf hoher See, irgendwo im Atlantik. Das Wasser ist eiskalt, offenbar bin ich mittlerweile in die Arktis abgedriftet. Seltsam, wir waren doch in der Karibik gestartet. Dort wollten wir Karriere machen. Wie komme ich jetzt hierher? Ist der Golfstrom daran schuld? Ich bin nicht mehr bei Verstand. Ich befürchte, dass das Seefieber auch schon langsam über mich kommt. Das wäre dann wirklich das Ende. Ein rauer Wind bläst mir durch den Bart. Die darin enthaltenen Wassertröpfchen bleiben an den Haaren hängen und werden zu Eis. In ein paar Minuten ist mein Bart hart. Das bestätigt meine Theorie, in der Arktis zu sein. Na toll. Wie durch einen Fingerzeig Gottes kommt es zu einem Rumms. Ich drehe mich um.
Ich habe einen Eisberg gerammt. Welch ein Glück, ich kann es kaum glauben! Ich springe auf und hüpfe auf den Berg. Wehmütig sehe ich meinem Boot zu, wie es blubbernd langsam in der Tiefe verschwindet. Nur ein paar Luftblasen steigen noch auf, dann ist es Geschichte. „Wie die Titanic“, denke ich mir leise. Aber ich habe überlebt, das ist das wichtigste. Es wird langsam dunkel. Der Eisberg ist nicht besonders groß, so groß wie ein Fussballplatz vielleicht. Aber mal sehen, vielleicht gibt es ja trotzdem etwas Brauchbares. So kann ich nicht verweilen, die Nacht ist hereingebrochen, und die Gefahr zu erfrieren, besonders groß. Ich sehe mich um. Den ganzen verdammten Eisberg suche ich ab, alles was ich finde, ist Eis und Schnee. Ich bin verzweifelt. Es hilft alles nichts, ich uriniere zunächst in den Schnee und stecke ihn mir in den Mund, um wenigstens etwas Proteine und Wasser zu mir zu nehmen. Schon besser. Erschöpft lasse ich mich zwischen zwei Eisblöcken am Südhang nieder. Ich starre in den Himmel. Wie wunderschön erscheint mir die Nacht, mit ihrem Sternenvorhang in all seiner Klarheit, der sich im unendlichen Ozean reflektiert. Wenn schon sterben, dann so. Das wird mir jetzt bewusst. Ich habe kaum etwas Reineres und Natürlicheres gesehen als den unverfälschten klaren, schwarzen Himmel in seinem momentanen Zustand.
Da fliegt eine Sternschnuppe über das Bankett. Ich darf mir etwas wünschen! Doch was? Mein Hirn ist wie zugefroren. Ich weiß ja, was ich mir wünschen soll, aber es fällt mir partout nicht ein. Als ich da so vor mich hin philosophiere, merke ich, wie sich mir etwas in den Rücken drückt. Ich drehe mich um und sehe ein paar Holzlatten und Steine. Daneben liegt ein Skelett. Perfekt! Mein Vorgänger scheint wohl bei dem Versuch, ein Feuer zu machen, ums Leben gekommen zu sein. Ich, fachkundig, greife mir sofort die Steine und beginne, sie wie in Raserei gegeneinander zu schlagen. Nach geraumer Zeit sind sie abgeschliffen genug, um als Feuerspender zu dienen. Ich zerbreche ein paar der Hölzer bis auf die Späne und achte darauf, dass die Funken, die ich mit den Steinen erzeuge, auch die Späne treffen. Einer fängt Feuer, auf das ich sofort bestimmt, aber doch sanft einblase. Es breitet sich aus. Wie wundervoll! Es wird größer, und so kann ich auch die restlichen Bretter hinzufügen, bis ich ein richtig ansehliches Lagerfeuer geschaffen habe. Fantastisch, ich bin gerettet. Fürs erste mal wieder. Ich setze mich ans Feuer und starre in die Flammen. Was würde wohl als nächstes kommen? Das Holz knistert, während es vom Feuer verzehrt wird, und ein kleiner Funkenregen spritzt mir ins Gesicht. Ah, herrlich. Ich liebe es, wenn die Glut sich durch meine Haut frisst. Ich lege den Kopf in den Nacken und starre wieder in den Himmel. Was gäbe ich jetzt für ein Bier!
Da sehe ich etwas. Zunächst ist es winzig, dann wird es immer größer. Ein unbekanntes Objekt steigt vom Himmel herab. Ich sehe ein Licht. Dann drei. Das Objekt landet auf dem Eisberg. Es sieht aus wie eine riesige Bierflasche. Sie ist grün und das Etikett gelb. Ich halluziniere wohl. Das gibt’s ja nicht. Ich versuche aufzustehen, und zu dem Objekt zu gehen. Es gelingt mir nur schwer, trotz des Feuers sind meine Beine fast festgefroren. Schließlich gelingt es mir doch. Unter Ächzen und Stöhnen komme ich wieder aufrecht. Ich versuche, mich dem Objekt zu nähern. Mit gebücktem Gang, und indem ich meinen linken Fuß nachziehe, tue ich das auch. Ich setze meine furchterregendste Fratze auf, die ich in der Piratenschule gelernt hatte, um trotz der widrigen Umstände professionell zu wirken. Langsam komme ich dem Objekt näher. Was ist das? Ich vernehme ein leises Summen, aber so wie ich es noch nie zuvor gehört habe. Zögerlich strecke ich die Hand aus, um die Oberfläche zu berühren. Je näher ich komme, desto lauter wird es. Ich bin mit den Fingerspitzen ganz nah dran. Der Ton ist schmerzhaft laut. Schließlich berühre ich die Bierflasche.
Auf einmal bin ich ein Knochen und fliege durchs Weltall. Ein Hai reißt mich in Stücke.