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Ich, inkompetenter Prophet und der Tod aus den Wolken
Meine letzten Tage in der Stadt, die niemals schläft. Nächste Woche werde ich mein Praktikum beenden. Dann habe ich noch etwas Zeit, ein paar Touristendinger zu drehen, zu denen ich mich bisher nicht aufraffen konnte. Ich habe es tatsächlich nicht einmal in den vergangenen sechs Monaten zu der verdammten Freiheitsstatue geschafft. Und das nicht wirklich, weil ich Besseres zu tun gehabt hätte. Oder kann ich Jerry Springer im einzig würdigen Originalton als etwas Besseres geltend machen?
In ein paar Tagen wird mich eine Boeing Irgendwas der Air France vom JFK-Airport mit Zwischenlandung in Irgendwo nach Hannover bringen. Wo Sandra warten wird, um mich heimzufahren in unsere gemeinsame Studienstadt, das herrliche Bielefeld.
Es wird Zeit. Ich habe die Nase voll von New York. Nichts hier ist so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Stadt, die niemals ... Ha-ha. Ist ja auch kein Wunder. Wenn Sie einnicken in einer der kleineren U-Bahnhaltestellen, die nicht Madison Square Garden heißen, werden sie aufwachen und feststellen, dass man Ihnen Schuhe und Hose geklaut hat. Wenn Sie Glück haben. Jetzt, wo der September den Herbst einläutet, kann es eigentlich nur noch schlimmer werden – Kennen Sie eine Großstadt, die an verregneten, dunklen Nachmittagen nicht zu sagen scheint „Häng dich doch auf, du Beule?“. Und kennen Sie einen Fleck Erde, von dem es so sehr scheint, der Begriff Großstadt sei nur für ihn geschaffen worden, wie New York City?
Außerdem will ich meine Arme endlich wieder um Sandra legen, ihren Körper spüren, der schwächer ist als meiner, und an den ich mich doch so oft Schutz und Geborgenheit suchend geklammert habe wie ein kleiner Junge an seinen Teddybären. Ich hatte schlimme Befürchtungen, was die Halbwertszeit unserer Beziehung anging. Als ich abflog, waren wir gerade mal fünf Monate zusammen gewesen. Sie hat geweint am Flughafen, klar ... Trotzdem habe ich jeden Tag, an dem wir telefonierten - also jeden Tag des letzten halben Jahres - an meinen Nägeln gekaut und ständig damit gerechnet, dass sie so etwas sagen würde wie „Weißt du, da ist jemand ...“. So hatte meine letzte Freundin ihre „Das war’s-“ Rede eingeleitet.
Seit ungefähr einem Monat spricht Sandra vage und doch eindeutig davon, dass das „und“ zwischen „Du und Ich“ vielleicht nicht bis ans Ende aller Tage Bestand haben könnte. Ständig erzählt sie, wie jung wir noch sind, oder wie sehr sich alles in diesem kurzen Zeitraum, den ich weg war, verändert hat.
Ich liebe Sandra. Der Gedanke, dass sie nicht dasselbe für mich empfindet und unser Miteinander als erotisches Strohfeuer irgendwann auf dem Weg von der Zwischenprüfung zum Diplom abtun könnte, hat mich vor ein paar Tagen dazu gebracht, eine alte Frau zu beschimpfen, die ich versehentlich angerempelt hatte.
Ich will wieder in Sandras Augen sehen. Ihre roten Locken streicheln. Ich weiß, dass, was immer in ihr abgekühlt ist, sich wieder erwärmen wird, wenn unser Kontakt nicht länger auf von Knacken und Rauschen verschandelte Stimmen mit einem Ozean dazwischen beschränkt ist. Hoffentlich ist da niemand. Ich befürchte Schlimmes.
Seit etwa einem Monat haben auch meine Träume wieder angefangen.
Ich habe es immer gespürt, wenn es sich um einen von diesen Träumen gehandelt hat und nicht nur um das übliche, nächtliche Kino des Absurden, das unser Gehirn aufführt, wenn unsere innere FSK, das Bewusstsein, es nicht länger kontrolliert. Meine seherischen Fähigkeiten wurden mir das erste Mal 1986 bewusst.
Damals träumte ich Nacht für Nacht von einer leuchtenden schwarzen Wolke und Insekten, die vor ihr flohen. Ungefähr einen Monat, nachdem diese Träume begonnen hatten, wurde uns eines Morgens in der Schule verboten, die Rasenflächen zu betreten. Es war die Angst vor einem radioaktiven Präsent, von dem man fürchtete, der Wind habe es aus einem russischen Ort namens Tschernobyl zu uns rübergetragen und dabei den eisernen Vorhang ignoriert wie Krebs durchschnittliche Monatsgehälter und akademische Titel ignoriert.
Die Ähnlichkeiten zwischen dem, was ich geträumt hatte und dem, was passiert war, waren mir damals natürlich aufgefallen. Allerdings war ich noch zu jung, um die Natur dieser Ähnlichkeit in Worte zu fassen.
Einige Jahre später hörte ich im Deutschunterricht auf dem Gymnasium zum ersten Mal das Wort Metapher, und mir wurde klar, dass ich in meinen Träumen – jedenfalls in den beharrlichen, über einen Zeitraum von drei bis sechs Wochen wiederkehrenden – die Zukunft sah. Und das in so verschlüsselter Form, dass sich zwar jedes Mal, wenn ein Ereignis eintrat, hinterher eine Art „Ach, Klar!“ Effekt einstellte, ich aber im Voraus unmöglich sagen konnte, wann genau was passieren würde. Gott hatte mir diese Gabe gegeben wie ein Forscher dem Rhesusäffchen einen I-Pod, ohne ein einziges klärendes Wort über dessen Funktionsweise zu verlieren.
Vor dem tödlichen Autounfall eines Freundes träumte ich von Sardinen in einer Büchse. Eine davon war lebendig und schrie in Todesangst, als das Blech um sie herum von einer hölzernen Zange zusammengepresst wurde. Die Sardine wurde zerquetscht. Bei Ollis Beerdigung hatte ich das Bild im Kopf, wie ihre Augen langsam größer wurden und sich unter dem Druck schließlich langsam aus ihren Höhlen schälten.
Ich sah aber nicht ausschließlich furchtbare Dinge in furchtbaren Träumen vorher. Manchmal war es auch Witziges oder gar Angenehmes, manchmal einfach nur völlige Belanglosigkeiten. Oder alles zusammen.
Ich träumte von verdreckten Flüssen mit braunem Wasser und bekam Durchfall. Ich träumte, ob sie’s glauben oder nicht, von einer Biene und einer Blume in den Nächten, bevor ich meine Unschuld verlor. Ich träumte von einem weißen Hai mit Dollarzeichen in den Augen, der einen Taucher fraß und dann von einem noch viel größeren Hai gefressen wurde. Kurz danach machte ein übermächtiger Konkurrenzkonzern den Arbeitgebern meines Vaters ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten, und meinen Vater einige Wochen später arbeitslos.
Ziemlich genau mit dem Beginn meines Studiums in 1998 hörten die Träume auf. Drei Jahre lang hatte ich Ruhe, so dass ich schon begonnen hatte zu glauben, ich hätte mir das Alles früher nur eingebildet.
Jetzt hat es wieder angefangen. Und ich bin sicher, dass es diesmal mit Sandra und mir zu tun hat.
In meinem Traum fliegen zwei Vögel gegen Bäume und sterben. Es gibt ein stumpfes Klatschen. Der erste Vogel explodiert regelrecht an der unnachgiebigen Rinde des Baumes. Man sieht Federn erst hektisch in der Luft tanzen, dann ruhig zu Boden schweben. Es vergeht ein wenig Zeit - an der Wurzel des Baumes versammeln sich andere Tiere des Waldes, um zu sehen, was passiert ist – dann gibt es den zweiten unheimlichen Klatscher, an einem Baum, der direkt neben dem steht, der dem ersten Vogel zum Verhängnis geworden ist.
Ich habe früh aufgehört, meine Uri-Geller-Träume, wie ich sie selbst nenne, deuten zu wollen. Immerhin ist die Metapher ein Begriff aus den Geisteswissenschaften, und ich habe mich nicht zuletzt für ein BWL-Studium entschieden, weil mir Zahlen und Koordinatensysteme schon immer mehr gelegen haben als Worte und Sätze. Aber dieses Mal glaube ich, einer passenden Interpretation ganz nahe zu sein.
Zwei Vögel ... Auf jeden Fall geht es irgendwie um Sandra und mich. Sie verlässt mich, ich fliege allein. Auf mich gestellt verliere ich die Orientierung und setzte mein Leben vor die Wand. Oder den Baum. Vielleicht bedeutet es, dass ich vor lauter Liebeskummer mein Studium nicht beenden und dann irgendwie abstürzen werde. Drogen. Alkohol. Talkshows.
Kurz darauf aber muss Sandra erkennen, dass auch sie nicht ohne mich weiterleben kann. Rumms! Opfer Nummer zwei. Und da ich schon in der Gosse liege, kann ich ihr auch nicht mehr helfen.
Wie finden Sie das bis hierhin? Nicht schlecht für einen oberflächlichen Materialisten von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, was?
Keine Ahnung, wie richtig ich liege. Aber ich weiß, dass ich um Sandra kämpfen werde. Versuchen werde, unsere Beziehung durch den Wald zu lotsen, vorbei an den Hindernissen, an denen unsere Liebe zerschmettern könnte. Ich werde sie von der Arbeit aus anrufen.
Aus dem Fenster des Einhundertachten gesehen ist New York eine Termitenkolonie. Zu Beginn meines Praktikums fand ich die elend lange Fahrt mit dem Aufzug in das Stockwerk, auf dem mein Arbeitgeber seine Büroräume hat, unheimlich aufregend. Einen Monat später war es Routine. Mittlerweile nervt es mich.
Besonders lästig fällt ein Pärchen, das fast jeden Morgen mit mir zusammen gen Himmel auffährt. Ewig grinsende, dümmlich „Hi there“ hauchende Amis mit unintelligentem Blick. Und das, obwohl ich mal ohne jedes Vorurteil in dieses Land gekommen bin. Das Schlimmste ist das leise Schmatzen, mit dem Er – zwei Köpfe größer als Sie – im Fünf-Sekunden-Takt ihr Walt-Disney-blondes Haar küsst, wobei sie jedes Mal vergnügt grunzt wie ein kleines Schwein.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und warte auf den lunch-break. Es ist nicht verboten, aber es wird auch nicht gern gesehen, wenn man Privatgespräche von einem Firmenapparat aus führt. Das Mindeste, was man tun kann, ist, in der Mittagspause zu telefonieren.
Ich habe mich die gesamten sechs Monate daran gehalten und nicht ein einziges Mal kostengünstig nach Hause telefoniert. Enrico, ein Mit-Praktikant und Beinahe-Absolvent irgendeiner römischen Elite Business-School, hat seine Verwandtschaft beinahe täglich von hier aus kontaktiert. Und das hauptsächlich, um über die matschigen Kuchenlappen zu schimpfen, von der die Amerikaner sich erdreisten, sie „Pizza“ zu nennen. Dementsprechend sind allerdings auch die ersten abschließenden Bewertungsgespräche für Enrico ausgefallen, was nun sichtlich an ihm nagt.
Ich bin sicher, dass ich es mir nicht verderben werde, wenn ich heute, so kurz vor dem Ende des Praktikums, ausnahmsweise mal bei Sandra anrufe. Jim und Erin, mit denen ich das Büro teile, werden es sowieso verstehen. Sie sind nur fünf Jahre älter als ich und wir haben uns in diesen sechs Monaten viel über Frauen unterhalten. Über Frauen und deutsches Bier. Wahrscheinlich werden sie die ganze Zeit rumfrotzeln, wenn sie mich Deutsch reden hören, stramm stehen und „Jawoll!“ und „Achtung!“ rufen, aber das ist o.k. Es sind die einzigen deutschen Wörter, die sie kennen.
Es klingelt neun Mal. Ich bin schon dabei, den Hörer wieder aufzulegen, als am anderen Ende jemand abnimmt.
„Ja?“ Sandra wohnt allein und meldet sich nie mit Namen, weil außer ihr schließlich eh’ niemand rangehen kann. Ich habe ihr mal gesagt, dass es höflicher wäre, sich mit „Niemann“ zu melden, aber sie fand das spießig.
„Hi. Ich bin’s.“
„Oh ... Hi.“ Habe ich mir das eingebildet oder hat sie gerade überlegt, wer dran ist?
„Die Verbindung ist so ... komisch. Gut. Von wo rufst du an?“
Ich muss an die urbane Legende denken, in der ein Babysitter am Telefon terrorisiert wird und die Polizei alarmiert, die ihr dann mitteilt: ‚Mein Gott - Wir haben den Anruf zurückverfolgt - Er kommt aus ihrem Haus!’
„Von der Arbeit.“
„Hast du nicht gesagt, es sei nicht gut, von der Arbeit aus anzurufen?“
„Anders als bei Enrico ist es bei mir heute ein absoluter Ausnahmezustand. Bei fast allen Leuten hier habe ich einen Stein im Brett. Das Gros der Bewertungsgespräche ist eh’ schon gelaufen. Der Agenturleiter mag mich. Außerdem bist du mir im Moment wichtiger.“
„Ach, Jan-Christoph … Du bist doch nächste Woche zurück.“
Ich atme tief ein und sage: „Mir ist aufgefallen, dass du deine SMS schon länger nicht mehr mit ‚Hab’ dich lieb’ abschließt. Letzten Freitag hieß es sogar ‚Bis denn.’ Ich habe ehemalige Bundeswehrkameraden, Typen, die sich Bierflaschen auf dem Kopf zerschlagen, die schreiben emotionaler.“
„Du interpretierst immer einen Quatsch in solche Sachen ...“
„Hast du mich lieb?“
Pause. Ungewissheit. Ich glaube, ein kurzes aber schmerzloses ‚Nein’ wäre mir lieber gewesen.
Erin salutiert vor Jim und flüstert: „Maken Ssie der Panzer abschießfertig, Herr Leutnant. Schnell, schnell!“ Sie haben heimlich geübt.
„Jan-Christoph ... heute ist doch schon der Elfte. Du bist bald wieder da, dann können wir uns in die Augen sehen, wenn wir miteinander reden ...“
„Ich habe einen wiederkehrenden Traum. Willst du wissen, was darin passiert?“
„Ach, Jan-Christoph, das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“
Sandra glaubt an alles, was man anfassen kann. Der neue Mercedes. Opernkarten. Italienische Schuhe. Prophetische Träume sind der Stoff, aus dem Nutzlosigkeiten wie Filme und Bücher gemacht werden. Es hat sie regelrecht verstört, als wir mal betrunken von einer Party kamen und ich ihr, stimuliert durch den Erzählkatalysator Alkohol, von meinen halbgaren seherischen Fähigkeiten berichtete. Zuerst hat sie gelacht, dann, als sie merkte, dass es mir ernst war, nahm sie ein Taxi nach Hause. Ich glaube, sie hatte ein bisschen Angst.
Ich werde ihren Unglauben ignorieren.
„In meinem Traum fliegen zwei Vögel kurz nacheinander vor Bäume und sterben. Das sind wir! Die Vögel sind wir! Wir werden getrennt, aber wir können nicht ohne einander ...“
„Jan-Christoph, lass es bitte, oder ich lege auf!“
„Aber ...“
Erin steht noch immer vor Jims Schreibtisch und krächzt militärische Befehle in der Sprache, die nach Ansicht der meisten Amerikaner für das Militär erfunden wurde.
Jims Lachen verstummt abrupt. „Oh, dude ...“ stöhnt er und zieht sich an der Schreibtischkante aus seinem Bürostuhl. Er sieht aus dem Fenster und macht ein Gesicht, als sähe er King Kong die Fassade emporklettern wie in dieser Neuverfilmung mit Jeff Bridges.
„Turn around, man, turn around!”
Erin folgt der Anweisung. Seine Hand lässt einen Stift und sein Gesicht den Unterkiefer fallen. Er winkt mich zu sich: „Jan-Christoph, Jan-Christoph, comecomecomecomecome here, man!“
„Warte mal gerade ...,“ bitte ich Sandra und gehe rüber zu meinen Kollegen, wobei ich den Hörer in der Hand behalte.
„What the fuck is he doing there? Pilot must be shitfaced drunk!”
Während er das sagt, formt Erins rechte Hand eine Kralle, die sich tief in meinen Sakkoärmel gräbt. Seine Linke zeigt aus dem Fenster, erstarrt und unbeweglich wie ein Hinweisschild.
„Oh shit!” schreit Jim und stürzt aus dem Büro, stolpert dabei über den Papierkorb im Eingang und landet mit dem Gesicht zuerst auf dem Flur.
„Jan-Christoph? Was war das? Ist bei euch da irgendwas umgefallen, oder so?“
Ich beobachte das Flugzeug beim größer werden. Es wird einige Stockwerke unter mir einschlagen.
„Sandra?“
„Was? Was ist?“
„Ich glaube, der erste Vogel ist jetzt da.“
Für Majda.