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Ich schreibe Dir, mein Freund
Der Schlüssel wollte erst nicht ins Schloss. Oder war es ihre Hand, die zu sehr zitterte? Sie schielte hoch zu der Kamera, die den Hauseingang überwachte. „Nur nichts anmerken lassen.“ Sie zog die Hand zurück und fixierte das Schlüsselloch. In drei Wochen, so hatte die Verwaltung geschrieben, solle nun endlich auch dieses Haus an den zentralen Server angeschlossen werden, sodass die Türen dann mit dem Implantat zu öffnen seien. Auch wenn sie bisher den altmodischen Schlüssel besser fand, weil eben nicht zentral getrackt wurde, wer wann ein und aus geht, hätte sich gerade heute genau dieses gewünscht. Langsam und mit dem Versuch sich selbst zu kontrollieren, führte sie den Schlüssel ein weiteres Mal auf das Schloss zu. Er rutschte wie auf wundersamerweise in das Schloss. Anika drehte ihn um. Die Haustür öffnete sich.
Mit forschen Schritten, ihre Tasche fest an den Körper gedrückt und die Kameras aus den Augenwinkeln beobachtend, lief sie die Treppen hoch zu ihrer Wohnung. Ihre Haustür öffnete sich mit dem Fingerabdruck ihres Daumens. Die Tasche landete auf dem Sofa, die Jacke auf der Erde und die Schuhe vor dem Regal. Anika zog alle Vorhänge der Wohnung zu. Auf Socken huschte sie zu der Kommode, die noch von Ihrer Großmutter hatte. Sie zog die oberste Schublade heraus und nahm zwei der dicken Kerzen und die Streichhölzer. Sie stellte die Kerzen auf dem Wohnzimmertisch und zündete diese an. Nachdem sie Handy aus der Jacke gekramt hatte, ging sie in den Flur. Das Handy schaltetet Sie in den Flugmodus. „Ich werde nur bummelige 15 Minuten haben …“ Auf dem Handy war ein Timer zu sehen, den Anika auf 15 Minuten stellte. Sie öffnete die Tür des Sicherungskastens. „3, 2, 1 ...“ Zeitgleich schaltetet sie alle Sicherungen aus und den Timer an.
Anika rannte ins Wohnzimmer, griff ihre Tasche und kniete sich vor den Wohnzimmertisch. Ihre Hand suchte nach der Tüte, die sie vor wenigen Stunden gegen die Brosche ihrer Mutter getauscht hatte. Als die Tüte vor ihr auf dem Tisch lag, atmete sie tief durch und schaute auf den Timer auf ihrem Handy. Noch 11 Minuten, 37 Sekunden. Anika griff in die Tüte und holte den Block heraus. Er sah aus wie direkt aus einem der alten Filme entrissen. Gelb. Blaue Linien. Zwei rote Linien auf der linken Seite senkrecht. Sie kontrollierte die Perforation. Der Typ hatte recht, es war noch nicht ein einziges Blatt entfernt. Ein jungfräuliches Legal Pad. Legal Pad so nannte man diese Blöcke. Die Anwälte in Amerika hatten diese in den alten Filmen immer auf dem Tisch liegen. Ein Blick auf die Uhr. 10 Minuten, 48 Sekunden. „Mist. Ich muss mich beeilen.“ Anika griff nochmal in die Tüte und holte einen Bleistift heraus. Er war dunkelgrün lackiert. In goldenen Buchstaben war der Firmenname eingeprägt: FaberCastell. Wie aus den Erzählungen ihres Großvaters war der Stift auf der einen Seite abgerundet und auf der anderen Seite spitz zulaufend. Auf der spitzen Seite war nicht nur das Holz zu sehen, sondern auch die Mine.
Anika führte den Stift langsam an ihre Nase. Der Geruch des Holzes, vermischt mit dem leicht metallischen des Grafits, richtete jedes einzelne Haar Anikas Arme auf. Der Grafit war sichtbar, aber nicht so spitz, wie es sein sollte. Sie lief in die Küche. Kramte aus der obersten Schublade ein kleines Küchenmesser heraus, griff sich die Müslischale vom Frühstück und die kleine metallische Flasche mit dem Waschbenzin. Am Wohnzimmertisch nahm sie den Bleistift in die Hand und spitzte dieses vorsichtig mit dem Küchenmesser an. Die anfallenden Späne ließ sie in die Müslischale gleiten. Prüfend schaute sie sich die Spitze des Stiftes an und war zufrieden. Den Stift legte sie auf dem Block ab. Dann nahm sie das Waschbenzin und goss einen ordentlichen Spritzer auf die Späne in der Schale und zündete das Benzin-Span-Gemisch an. Die aufsteigende Flamme erhellte den Raum in einem warmen Licht. Nachdem sich die Späne in Asche verwandelt hatte, stellte Anika die Schüssel beiseite und widmete sich dem Papier und dem Bleistift. Wie man diese alten Schreibwerkzeuge benutzt, das wusste Anika. Wie bei den Eingabewerkzeugen in ihrer Kindheit, schrieb man, in dem man die Spitze des Stiftes über das Papier führte und einen Buchstaben nach dem anderen formte. Und so machte sie es auch jetzt. Auch wenn dieser Moment, der Moment war, auf den sie Jahre gewartet hat, machte sie sich wenig Gedanken darüber, was sie schrieb. Sie schrieb einfach drauflos.
„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“
Wie ging das noch weiter? Anika wurde aus dem Moment gerissen, als sich ihr Alarm meldete. Sie zuckte zusammen. In Windeseile legte sie den Block und den Stift unter ein Kissen des Sofas. Sie griff in Ihre Tasche und sichte etwas. Ein weiterer Stift – ein Füllfederhalter. Auch der verschwand unter dem Sitzkissen. Sie schaltete das Handy wieder ein und rannte zum Sicherungskasten. Der Reihe nach schaltete sie wieder alle Sicherungen an.
Den Rest des Abends verbrachte sie auf dem Sofa. Vor sich hin träumend, was sie wohl als nächstes Schreiben werde.