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Ich spüre es, wenn Sophia atmet.

Seniors
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24.04.2003
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Ich spüre es, wenn Sophia atmet.

"Komm schon, schneller", schreit sie.

Die Straßenbahn hält gerade an, und wir sind noch mindestens hundert Meter von ihren sich öffnenden Türen entfernt.
Es regnet, ich bin nass.
Ich muss laufen, obwohl ich ungern den öffentlichen Verkehrsmitteln hinterher laufe.

Irgendwie interessiert mich das gerade wenig, denn sie ergreift meine Hand und zieht mich mit sich.
Alles, was mir gefällt.

Wir erwischen die Bahn, schütteln uns den Regen ab, und lassen uns auf die Viererbank fallen. Gegenüber voneinander.
Dann lächelt sie.
Nein, eigentlich lächelst du schon die ganze Zeit.

"Trantüte!"
"Wer, ich?"
"Willst nie laufen. Wir hätten warten müssen."
Ich hätte gern mit dir gewartet
"Ich mach´ das aus Prinzip nicht."
"Aber du hast."
Aber nur für dich.
"Ausnahmsweise."

Sie kramt in ihrer Jacke.

"Ich ruf kurz Mama und Papa an. Sie sollen wissen, dass mein großer Bruder beinahe Schuld gehabt hätte, dass ich erst nach zwei wieder da gewesen wäre."
Wieder lächelt sie.

Ich erwidere ihren Blick und sehne mir ihre Hand herbei.

***

In meinem Zimmer ist es still. Sophia ist nebenan und telefoniert mit einer Freundin. Sie erzählt von ihrem tollen Bruder, der mit ihr gegangen ist, weil sie sonst nicht gedurft hätte.
Wenn sie wüsste.
Es ist ein Gedankenverbrechen. Onanie treibt dich in die beschissensten Zustände. Ein nagendes, schlechtes Gewissen, dass dir immer dann zusetzt, wenn du den Grund deines Verlangens zu Gesicht bekommst, und das ist ziemlich oft der Fall.
Sie denkt sich nichts dabei, läuft in Unterwäsche durchs Haus, kommt in mein Zimmer und schmeißt sich neben mich ins Bett.
Wie oft habe ich ihr schon die Schuld dafür gegeben, aber so läuft das eben nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Wie oft schon habe ich darüber nachgedacht, es ihr einfach zu sagen. Es wäre grandios. Der drei Jahre ältere Bruder, der selbst eine Freundin hat, beichtet seiner siebzehnjährigen Schwester die Liebe. Und nebenbei kommt er noch auf das Thema der sexuellen Phantasien zu sprechen, die sich in ganz realen Gelüsten stetig entladen, um mit der Betätigung der Klospülung in die Kanalisation abzuwandern.
Es ist lächerlich.

Sie klopft an, wartet keine Antwort ab und kommt herein.
Alles in und an mir zieht sich zusammen.

"War ein schöner Abend", flüstert sie.

Mein Blick wandert zum Radiowecker. Halb drei. Der Abend ist vorbei, jetzt kommt die Nacht.
Sophia hat die Stiefel ausgezogen, den Rock trägt sie immer noch. Obenrum ein Unterhemd.
Ich darf nicht starren. Vielleicht dürfte ich sogar, aber ich will es nicht, sie soll es nicht merken.

"Das war echt lieb. Ich weiß ja, dass du auf keine der Gruppen gestanden hast."

"Ich hasse HipHop", gebe ich zurück, und achte darauf, meine Stimme nicht zittern zu lassen.
"Schon klar, mein Bruder, der Techno."
Ewiges Lächeln.
Du siehst sexy aus. Ich liebe deine Beine, genauso wie dein Lächeln. Alles an dir. Vorallem aber deine direkte Art.
"Und, nicht müde?"
Sie schüttelt den Kopf.
"Kein bisschen. Bin total aufgewühlt."
Komm zu mir
"Komm zu mir."

Habe ich das gesagt? Es fühlt sich schwer und klebrig an in meiner Brust. Es war völlig eindeutig. Eindeutiger geht es gar nicht.

"Schaust noch was im Fernsehen?"

Jeder Quadratzentimeter Haut, der nicht unter Stoff verborgen ist, fühlt sich warm an, und sie legt den Arm um mich, kommt noch näher.
Verboten nah.
Oder bilde ich mir das bloß ein?
Ich spüre es, wenn Sophia atmet.
Und dann geschieht, was ich immer vermeiden wollte. Alle Überlegungen außer Acht lassend, streichel ich über ihren Rücken.
Die jahrelange Vorstellung, die bizarren Albträume an ein behindertes Kind, die Angst vor einem Aufstand, und dass meine Eltern mich rausschmeißen und anzeigen; alles verflogen.
Ich streichle Sophias Rücken und spüre die feinen Härrchen, wie sie sich aufrichten.
Infizierende Gänsehaut.

Es passiert einfach weiter. Eine Stunde lang.
Ich streichle sie sanft, und sie lässt es sich gefallen.
Währenddessen läuft ein schlechter Film mit Nick Nolte. Ich wünsche, dass er niemals zuende geht.

"Wir sollten jetzt schlafen gehen", sagt sie irgendwann.
Ich nicke.
Sie sucht die passenden Worte, zittert, wird rot im Gesicht.
"Oder möchtest du ... soll ich bleiben?"
Ich überlege nicht, frage einfach: "Ist es dir unangenehm?"
Sophia fährt mir mit einer Hand durch die Haare.
"Ich weiß nicht."
"Ich auch nicht."

Sie steht auf.

"Was ist mit Claudia?"
Wieder weiß ich nichts besseres zu sagen, als: "Ich weiß es nicht."
Sophia lächelt. Nicht so wie sonst. Man merkt ihr die Anspannung an.
"Ich denke", sagt sie, "dass du vielleicht verschwindest. Verstehst du? Dass du nicht mehr du bist, wenn ..."
Ich schweige.

"Wenn ich wieder rübergehe, dann warte ich vielleicht noch etwas. Du kannst kommen ... wenn du magst."

Sie verlässt mein Zimmer, und ich denke angestrengt nach.

 

Diese Geschichte über die verbotenen Gedanken gefällt mir sehr gut - bis auf den Schlusssatz. Ich finds gut dass er nachdenkt, aber der satzbau ist mir zu einfach... mir fehlt da etwas. So viel dazu, Inzest ist natürlich ein heikles Thema, klasse geschrieben, nur das Ende halt ;)
Lieben gruß, Lilienfeuer

 

Hallo Lilienfeuer!

Danke für deine Kritik.

Ich habe das Ende nocheinmal umgeschrieben, da ich es in der ursprünglichen Form stark gekünstelt fand.
Der letzte Satz ist allerdings geblieben. Er soll unspektakulär sein. Und er soll dem Leser seine Phantasie lassen, was geschehen, oder nicht geschehen wird.

Ich will kein Urteil über Geschwisterliebe fällen, daher habe ich mich darum bemüht, möglichst neutral zu bleiben, also weder für noch wider zu erörtern.

Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus81,

die verbotene Beziehung zwischen Hip Hop und Techno (hehe) bringst du mit knisternder Erotik sehr gut rüber.
Ich fühlte mich in die Situation hineinversetzt und was will man beim lesen mehr.

Mich hat eher der erste Satz im Kontext des Forums irritiert.

Schöne Grüße
Krilliam Bolderson

 

Hi Cerberus81,
starke Geschichte, die mir sehr gefallen hat. Habe kurz überlegt, ob sie länger sein muss, finde aber, dass du die Stimmung, die Situation, das Dilemma gut getroffen hast. Länge passt also auch.
Sprachlich gut, inhaltlich bewegend.
Kompliment, eine der besseren Geschichten in dieser Rubrik.
Habe ich sehr gern gelesen.

Grüße Sebastian

P.S.:


Cerberus81 schrieb:
.
Währenddessen läuft ein schlechter Film mit Nick Nolte.

Sie gucken Hulk! :D

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber cerberus,

ich habe die Geschichte gestern in der ersten Fassung schon mal gelesen.

Danach habe ich noch lange darüber nachgedacht, besonders auch, weil wir im Freundeskreis gerade ein Cousin-Cousine-Pärchen haben, die sich geoutet haben (aber das ist eben schon ein Grad weiter und war früher bei Hof ggfs. normal).

Ich habe die Geschichte gerne gelesen. Du hast den Prot gut getroffen; sie hätte noch etwas mehr Ge(w/s)icht bekommen können.


"Ich denke", sagt sie, "dass du vielleicht verschwindest. Verstehst du? Dass du nicht mehr du bist, wenn ..."

Hmm....die erste Fassung fand ich besser im Sinne: Und ewig lockt das Weib...
denn um was geht es denn in dieser Situation?
Sie haben sich ja schon, zu oft wahrscheinlich, und nun kommt die körperliche Sehnsucht...

Da habe ich noch ein Gedanken dazu:

Und dann geschieht, was ich immer vermeiden wollte. Alle Überlegungen außer Acht lassend, streichel ich über ihren Rücken.
Die jahrelange Vorstellung, die bizarren Albträume an ein behindertes Kind, die Angst vor einem Aufstand, und dass meine Eltern mich rausschmeißen und anzeigen; alles verflogen.
Ich streichle Sophias Rücken und spüre die feinen Härrchen, wie sie sich aufrichten.
Infizierende Gänsehaut.

Das ist etwas unglücklich formuliert. Für dich ist diese Streicheleinheit der Übergang zur körperlichen Liebe mit evtl. Endergebnis Kind.

Ws gibt auch Geschwister, die liebevoll miteinander umgehen...dann ist ein Rückenstreicheln eine normale Geste und für mich wirkt es etwas irritierend, weil ich nach deiner Einleitung (vermeiden wollte...)erwartete, dass der Prot sie zumindest am Busen streichelt oder der geschwisterliche Kuss in einen leidenschaftlichen ausartet.

Das alles muss aber in die Geschichte nicht rein, sie ist auch so gut - ausser dem Ende. Nach dieser Erfahrung mit seiner Schwester kann der Prot gar nicht mehr angestrengt nachdenken. Meine Einschätzung: Er hadert mit sich, ob die Kanalisation der Sinn des Lebens ist. (Oweia: Diesen Satz aus dem Kontext gezogen...).

Fazit: Schöne Geschichte.


Lieber Gruß
bernadette

 

hmm, komisch, heute kommt mir der letzte satz auch ganz anders vor... stimmungsbedingt anscheinend :D *wunder*

 

Hallo Cerberus,
schöne Geschichte, heikles Thema eindrucksvoll geschildert, nur der Schluss gefällt mir nicht so.
Gruß, Elisha

 

hallo Cerberus81,

sehr gelungen. Für meinen Geschmack ging die Geschichte etwas staksig los, als hättest Du Dich noch warmschreiben müssen, dann nahm sie mich aber gefangen.
Gut auch, dass Du auf pornographische Einsprengsel verzichtet hast - das Rückenstreicheln ist mehr als deutlich. Habe ich sehr gern gelesen!

'...läuft in Unterwäsche durchs Haus..' - hier vielleicht die 'Unterwäsche' konkretisieren, 'Mercedes' ist auch bildhafter als 'Auto'. ;-)

Viele Grüße vom gox

 

'...läuft in Unterwäsche durchs Haus..' - hier vielleicht die 'Unterwäsche' konkretisieren, 'Mercedes' ist auch bildhafter als 'Auto'. ;-)

@ gox: Mercedes ist ja auch ein Frauenname, aber nenn' mir mal ein Stück Unterwäsche, das als solches fungiert ;)

 

Hallo Cerberus,

Auch ich finde die Geschichte gelungen, kann mich den positiven Kommentaren also nur anschließen. Sie hat mich auf jeden Fall berührt. Die Verlorenheit des Bruders zwischen Verlangen und Vernunft kommt ausgezeichnet rüber. Die ganze Geschichte hat was packend Melancholisches... Kompliment hierfür!

Nicht so gelungen finde ich den Anfang, die Szene mit der Bahn. Dieses Setting wirkt für mich irgendwie fehl am Platz, weiß auch nicht sogenau. Und ist überhaupt etwas wirr geschildert.

Wie gesagt, bringst du die Gefühle des Bruders klasse rüber, und auch das Streicheln über ihren Rücken kommt als Symbol einer überwundenen Schwelle bestens an. Eine Berührung ihrer Brust z.B. hätte ich als zu heftig empfunden.

Das Ende gefällt mir wieder nicht, weil ich es etwas unglaubwürdig finde, dass die Schwester die Annäherungsversuch versteht, und dann dem Bruder auch noch indirekt das Angebot zum Sex macht. Ist vielleicht einen Schritt zu schnell.

 

Erstens: Es gibt keinen schlechten Film mit Nick Nolte, nur gute und weniger gute. :D

Zweitens: Die Geschichte ist politisch korrekt. Leider. Der Autor redet nur um den heißen Brei herum, diese Sequenz ist das beste Beispiel:

Cerberus81 schrieb:
"Wenn ich wieder rübergehe, dann warte ich vielleicht noch etwas. Du kannst kommen ... wenn du magst."

Sie verlässt mein Zimmer, und ich denke angestrengt nach.

Kurz vorher liegen sie im Bett, er hat sie gestreichelt und sie hat es zugelassen, weil sie offenbar die gleichen Gefühle für ihn hat wie er für sie, und jetzt reden sie darüber, ob sie anschließend wieder ins Bett steigen sollen! Als ob ihr Bett dafür besser geeignet wäre als seins!

An dieser Unglaubwürdigkeit leidet die ansonsten gut geschriebene Geschichte. Schade.

Dion

 

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